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Insgesamt 68 Bewertungen
Bewertung vom 10.01.2024
Blick in den Abgrund
Friedländer, Saul

Blick in den Abgrund


ausgezeichnet

Israel und die Justizreform - ein lehrreiches Tagebuch - Saul Friedländer verfasst sein „israelisches Tagebuch“ von Januar bis Juli 2023, vor dem Hintergrund der Justizreform, die die Koalition unter Benjamin Netanjahu in Israel implementieren will. Hunderttausende Israelis sind dieser Tage auf den Straßen, er selbst kann nicht mehr mitdemonstrieren. Und so dokumentiert er die laufenden Ereignisse schriftlich. Er berichtet tagesaktuell über Demonstrationen, Terroranschläge, politische Statements und Entscheidungen. Er ordnet für die Leser die gesellschaftlichen, ethnischen, militärischen und politischen Strukturen kritisch und differenziert in einen größeren (auch geschichtlichen) Kontext ein, äußert seine Überlegungen zur Zwei-Staaten-Lösung, zur Siedlungspolitik der aktuellen und früheren Regierungen, zur Abgrenzung von Antisemitismus und Israelkritik. Und er bringt seine große Sorge zum Ausdruck, wie die Regierung Netanjahu durch die Koalition mit rechten religiös-nationalistischen Parteien versucht, die Demokratie in Israel systematisch auszuhöhlen.
Blick in den Abgrund – treffender hätte der Titel für dieses Buch nicht gewählt sein könnten. Saul Friedländer, jüdischer „Historiker des Holocaust“, der bereits 1948 nach Israel kam, um, wie er selbst schreibt, das Land mitaufzubauen, blickt auf ein zerrissenes Land. Seine Worte, seine Aussagen sind ehrlich, offen und deutlich kritisch. Er selbst macht keinen Hehl daraus, wo er steht: Seite an Seite mit der Demokratie, mit den Zivilisten, mit den Menschen. Und doch findet auch er nur schwer Worte für das Unfassbare dieser Tage, große Sorge trifft auf kleine Hoffnungsschimmer.
Viele der von Friedländer erwähnten Fakten waren mir bis heute nicht bekannt und liefern nun gute Erklärungen und Einordnungen zum Verständnis Israels. Und doch: Kann man dieses Buch losgelöst von dem Krieg, der seit drei Monaten in der Region tobt, lesen? Ja! Unbedingt. Denn es wird eine Zeit danach geben und dann ist Friedländers Einordnung der rechtsradikalen, religiösen Kräfte im Land vielleicht wichtiger denn je, um zu verstehen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.12.2023
Wir sind nicht alle
Plagemann, Johannes;Maihack, Henrik

Wir sind nicht alle


ausgezeichnet

Wichtiger politischer Perspektivwechsel - Die beiden Autoren nehmen uns mit auf einen politischen Perspektivwechsel und setzen uns quasi die „Brille des Globalen Südens“ auf. Wir blicken auf die großen Krisen und Abgründe dieser Welt, die Kriege, die Coronapandemie, den Klimawandel. Wir blicken auf die Weltgeschichte, die von hier ganz anders aussieht. Wir blicken auf internationale Politik, Organisationen und Institutionen, in denen die Länder des Globalen Südens eine andere Rolle innehaben als die des Westens.
Die beiden Autoren sind Politologen und Experten für den globalen Süden mit langjährigen, auslandspolitischen Erfahrungen. Sie beleuchten fundiert und strukturiert das (gesellschafts)politische Weltgeschehen, in dem die westliche „Blockbildung“ immer weniger Relevanz hat und die Länder des Globalen Südens sich selbstbewusst und auf Augenhöhe mit ihren internationalen Partnern begegnen. Multipolarität und individuelle Allianzen gewinnen zunehmend an Relevanz und stärken die Interessen dieser Länder.
Bewusst klammern sie kritische Themen nicht aus; Autokratien und Korruption werden ebenso angesprochen wie die politische Doppelmoral des Westens. Gleichwohl schreiben die Autoren nie belehrend, sondern fokussieren klug und differenziert auf gemeinsame Ansätze und Chancen hin zu einer gerechteren Welt.
Dieser Perspektivwechsel hat mir viele Aha-Erlebnisse und fundierte und detaillierte neue Erkenntnisse beschert. Ein ganz, ganz wichtiges und unglaublich aktuelles Buch, das vor allem diejenigen lesen sollten, die der Ansicht sind, dass allein die westliche Politik die „richtige“ sei.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.11.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Emotional schwierige Familiengeschichten -Wieder einmal hat Alex Schulman bewiesen, was für ein großartiger Geschichtenerzähler er ist. Suchtfaktor inklusive!
Ein Zug in Richtung Malma: An Bord ein Vater mit seiner kleinen Tochter, die beide eine schwierige Beziehung verbindet. Ein junges Ehepaar, das sich seit Jahren von Krise zu Krise hangelt. Eine Frau, die anhand eines Buches auf den Spuren ihrer eigenen Familie ist.
Sie alle verbindet ein unsichtbares Band, das Alex Schulman einmal mehr gekonnt und bis zur letzten Seite in Szene setzt. Und wie man es von ihm gewohnt ist, greift er dabei keine einfachen Themen auf: toxische Elternliebe, die Schwere des Familienerbes, emotionale Extreme. Trauer und Wut sind in diesem Roman sehr gegenwärtig; wenn dann auch noch Kinder im Spiel sind, ist dies manches Mal für die Leserin nur schwer zu ertragen. Und doch gibt es da immer wieder diese kleinen, ruhigen Momente, die Schulman wunderbar einfängt.
Alex Schulmans Bücher haben eine immense Sogwirkung und einmal angefangen kann man sie nur schwer zur Seite legen. Gleichwohl konnten mich in diesem Roman nicht alle Figuren vollends überzeugen, manche blieben mir persönlich zu blass. Da hätte ich mir etwas mehr Tiefe und im Zweifel einige Seiten mehr gewünscht. Dennoch ein sehr guter Roman, der bis zum Schluss nichts an Spannung verliert.

Bewertung vom 26.10.2023
So weit das Licht reicht
Imbler, Sabrina

So weit das Licht reicht


ausgezeichnet

Fulminantes Debüt - Sabrina Imbler ist Wissenschaftsjournalist:in und hat mit diesem großartigen Buch ein fulminantes Debüt hingelegt. Zum einen lernen wir zahlreiche wundersame und unglaubliche Tiere der Tiefsee kennen. Wir beobachten, wie sie sich ihrer kargen, rauen und dunklen Umgebung angepasst haben und wie sie sich für das Leben und, wichtiger noch, das Überleben gewappnet haben.
Gleichzeitig nimmt uns Imbler mit auf eine sehr persönliche Reise in die eigene Vergangenheit und die eigenen Herausforderungen des Lebens. Nicht umsonst lautet der Untertitel dieses Coming-of-Age-Buches „…und was sie mir über das Leben erzählen“. Und so halten die 10 Essays zahlreiche Parallelen, Herausforderungen und Erinnerungen zu und aus Imblers Leben bereit: Queerness, familiäre Wurzeln, their „Erleben als mixed-race“ oder auch Essstörungen und Sexualität.
Sabrina Imblers Erzählsprache ist sehr feinfühlig und poetisch. Die wissenschaftlichen Beschreibungen sind sooo schön und faszinierend, dass man unweigerlich diese Tiere beschützen und bewahren möchte. Und dann sind da Sabrinas Erinnerungen und Gedanken, die so ehrlich und einfühlsam, direkt und dann wieder verletzlich sind. Ganz wundervoll.

Bewertung vom 22.10.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


ausgezeichnet

Wahrheit trifft auf Illusionen und Selbsttäuschung - Diamantnächte erzählt von einer Frau, die sich ihrer eigenen Vergangenheit stellen will und doch immer wieder an der Diskrepanz zwischen Wahrheit und Ehrlichkeit einerseits und Selbsttäuschung und Aufrichtigkeit andererseits zu scheitern droht.
Agnete ist 48, zum zweiten Mal verheiratet, hat eine Tochter, führt ein angepasstes, unauffälliges Mittelstandsleben. Eigentlich schein alles gut zu sein. Eigentlich. Bis ihr von einem Tag auf den anderen die Haare ausfallen. Und Agnete ahnt, dass die Lösung hierzu in ihrer Studentenzeit in London liegt, tief verborgen und emotional „weit weggepackt“. Als ihr Mann dann für längere Zeit dienstlich verreist, stellt sie sich ihren Erinnerungen.
Es beginnt eine Geschichte voller Selbstbetrug und Illusionen, Wahrheiten und Täuschungen. Agnete erkennt, dass sie sich immer wieder windet, ablenken lässt. „Ich weiche schon wieder aus, Wort für Wort versperrt das, wohin ich eigentlich vordringen will.“ Nur durch einen Perspektivwechsel gelingt ihr dann der Fokus. „Ich muss verschwinden.“ Genau hier wechselt die Autorin in Teilen vom Ich ins Sie. Allein mit dieser Distanz ist die Erinnerung möglich. Und was da zutage kommt ist geprägt von toxischen Beziehungen, Selbstzweifeln, fehlender Anerkennung und dem Wunsch dazuzugehören.
Rød-Larsens außergewöhnlicher Schreibstil lässt die Leserin auf eine Art am Geschehen und den Gedanken Agnetes teilhaben und ist doch sehr distanziert und emotionslos. Gleich so, als wäre ich die Vertraute des Opfers, das in Fragmenten berichtet und gleichzeitig aus der zeitlichen Reflexion heraus deutet und erklärt. Erschütternd, wie da Erlebnisse aus der Vergangenheit im gesellschaftlichen Kontext heutiger Diskussionen wie beispielsweise #metoo eine neue, gegenwärtigere Interpretation und Einordnung erfahren.
Auch wenn vieles inhaltlich in Andeutungen bleibt und viel Raum für Interpretation lässt, so mag dieser Roman für einige Leserinnen schwere Kost sein. Einmal darauf eingelassen ist der Roman sehr tiefgründig, ergreifend und lässt bis zum Ende sehr viel Spielraum für eigene Gedanken.

Bewertung vom 05.10.2023
Warum wir noch hier sind
Pelny, Marlen

Warum wir noch hier sind


ausgezeichnet

Marlen Pelny erzählt in ihrem neuesten Roman eine hochemotionale Geschichte, „die Geschichte von einem Danach“, die Geschichte nach dem Mord an der 14-jährigen Etty.
Im Roman geht es aber nicht um Etty, wenn sie auch allgegenwärtig ist. Es geht um Heide, Ettys Mutter und um ihre beste Freundin, die Ich-Erzählerin. Wie sieht ein Leben aus, in das das Unfassbare Einzug gehalten hat? In dem Schmerz, Trauer, Hilflosigkeit und Wut alles übertünchen. Tage sich endlos aneinanderreihen voller Leere, Sinnlosigkeit und der großen Frage nach dem Warum. In der Großstadt, die sich plötzlich grau und gefährlich anfühlt. In einem Leben, das irgendwie weitergehen muss, mit Job und Alltag und einer Großmutter, die ebenso Hilfe und Unterstützung benötigt.
Marlen Pelny ist es so unfassbar gut und echt gelungen, Worte für das zu finden, was so oft unausgesprochen bleibt, hinter Türen stattfindet, nur als Gedankenchaos im Kopf ist. Herausgekommen ist ein sehr ehrlicher und berührender Roman, der die Emotionen der Hinterbliebenen, die ja im Grunde auch ein Opfer der Gewalttat geworden sind, in all ihren Facetten einfängt. Und der in beiden parallel laufenden Erzählsträngen auch kleine Lichtblicke und Hoffnung zulässt, die zeigen, wie wichtig und wertvoll Liebe und Freundschaft gerade in den dunkelsten Momenten sind.

Bewertung vom 09.09.2023
Die Unwürdigen
Jacobsen, Roy

Die Unwürdigen


ausgezeichnet

Starker, beeindruckender Roman, der lange nachhallen wird - Stadtrand von Oslo zur Zeit der deutschen Besatzung während des Zweiten Weltkriegs. Hier leben die Freunde Carl, Olav, Roar, Vidar, Mona, Jan und Amalie in ärmlichsten Verhältnissen. Der Krieg, die Entbehrungen der letzten Jahre, die Besatzung. All dies hat das Leben der Menschen hart und düster gemacht und ebenso ist der Alltag der Jugendlichen: geprägt von Armut und Verlusten. Und so ergreifen sie jede Gelegenheit, um die eigenen Familien mit dem Nötigsten zu unterstützen: Sie stehlen, räumen ganze Villen aus, sie halten sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, auch, wenn dies bedeutet, mit dem Feind zu arbeiten, sie fälschen Dokumente, sie betrügen die Besatzer. Und immer ist da die Angst, erwischt zu werden. Selbst als der Krieg vorbei ist, wendet sich das Blatt nicht und das, was als „Befreiung“ gefeiert werden könnte, ist nur ein weiterer Tag ums Überleben.
Roy Jacobsen schildert in seinem neuen Roman den Alltag der Jugendlichen in düsterer und beklemmender Atmosphäre. Das Leben ist ein Kampf ums Überleben und jede und jeder muss seinen Beitrag dazu leisten. Koste es, was es wolle. Emotionen sind da fehl am Platze. Ganz zu schweigen davon, was das Leben dieser Kinder eigentlich ausmachen sollte: Spielen, Schule, Freude und Glück. Kind sein zu dürfen statt die Aufgaben und Pflichten eines Erwachsenen zu erfüllen.
Sprachlich setzt Jacobsen diese Tristesse und düstere, beklemmende Stimmung genial um. Er beschreibt mehr als er erzählt, er blendet Emotionen und Sympathien aus, lässt den Figuren keinen „Raum zu leben“ und schildert schrecklichste Momente eher gefühlslos bis schockerstarrt. Es geht nur darum, den nächsten Tag zu überleben. - Und dann schlucke ich als Leserin. All die Figuren in diesem Roman sind doch noch Kinder! Kinder ohne Kindheit! In Norwegen im Zweiten Weltkrieg. Und heute? - Ein beeindruckender Roman, der lange nachhallen wird.

Bewertung vom 28.08.2023
Der Trost der Schönheit
Arnim, Gabriele von

Der Trost der Schönheit


ausgezeichnet

Wunderschöner Lesegenuss -In einer Zeit voller Ängste, Gefahren und Umbrüche nimmt Gabriele von Arnim uns mit auf die Suche nach Schönheit im Alltäglichen, nach Trost und Glück im Moment. Klug und überaus sensibel reflektiert sie die Ambivalenz ihrer eigenen Wahrnehmungen und Gefühle inmitten von Schönheit und Vergänglichkeit, von Leid und Freude, Trauer und Trost. Zutiefst berührend und tröstlich stimmen ihre Worte und Gedanken, die keinem roten Faden folgen und doch perfekt ausbalanciert sind. Eigene Überlegungen sind verflochten mit plötzlich aufkommenden Situationen und Assoziationen, Zitaten. Ehrlich und reflektiert erscheinen die Erinnerungen aus der seelenkargen, nicht-fühlen Kindheit; eingebettet in die gefühlvollen Erfahrungen einer starken Frau, die die Seelenlast gegen Sinnenfreude und SehLust eintauscht. Und wenngleich von Arnim mit einer wunderbaren Leichtigkeit über die Schönheit im Alltäglichen philosophiert, so sind es für mich gerade die Unsicherheiten und das Hinterfragen der eigenen Wahrnehmung, der eigenen Endlichkeit und Zerbrechlichkeit, die diesem Buch eine unglaubliche Tiefe, Ehrlichkeit und Schönheit verleihen.

Dieses Buch selbst ist Schönheit und Trost. Es regt die Sinne an, die eigene Wahrnehmung. Es lässt dich einen Satz lesen – einatmen – ausatmen – und nochmals lesen. Und staunen. Über die Farbe Blau. Über Worte wie NeuGier, AtemMut, ZuHauseGefühl. Über die Gleichzeitigkeit von Geschehen.

Dieses Buch braucht Zeit und Muße zum Lesen. Manches Mal waren es mehrere Seiten, dann wieder nur einzelne Sätze und ich wollte Innehalten. So viele wunderbare Worte und Gedanken. Dieses Buch wird mich noch lange begleiten und immer mal wieder zur Hand genommen. Einfach WunderSchön.

Bewertung vom 21.08.2023
Die Akte Madrid / Lennard Lomberg Bd.2
Storm, Andreas

Die Akte Madrid / Lennard Lomberg Bd.2


ausgezeichnet

Krimi + Kunst + Geschichte -Der zweite Teil dieser Krimiserie rund um den Ermittler und Kunstexperten Lennard Lomberg. Und erneut gab es diese spannende Mischung aus Krimi, Kunstgeschichte und Politik.
Dieses Mal führen uns die Ermittlungen nach Granada, Spanien. Dort wurde ein Gemälde aus dem Jahre 1928 gestohlen, das drei Männer abbildet: Salvador Dalí, Luis Buñuel und Federico García Lorca, gemalt von ihrer gemeinsamen Freundin Alma Arras. Das prekäre an dem Gemälde: Es ist als Beutekunst deklariert, galt eigentlich als verschollen – und gehörte einst dem deutschen Verteidigungsminister, der kurz vor der größten Beförderung seiner Karriere steht. Kurzerhand beauftragt er Lomberg, vertrauliche Ermittlungen zum Diebstahl aufzunehmen. Schnell stellt sich dabei heraus, dass noch weitere Parteien ein Interesse an dem Kunstwerk haben und auch der Minister keine so reine Weste hat, wie er dem Kunstkenner weißmachen möchte.
Auf diese Fortsetzung habe ich mich sehr gefreut, weil ich die Idee der Verknüpfung von Krimi und (Kunst-)Geschichte total stimmig und spannend finde und mich schon der erste Teil der Serie begeistert hatte! Und Andreas Storm hat seine Leser nicht enttäuscht. Einmal mehr hat er einen Krimi geliefert, der durch die unterschiedlichen zeitlichen Erzählstränge eine tolle Spannung aufbaut und dabei nie langweilig wird. Neben dem eigentlichen Krimi gibt es viele interessante Einblicke in die Zeit der Franco-Diktatur, das politische Deutschland insbesondere nach dem 2. Weltkrieg und natürlich: Kunst. – Sprachlich gefällt mir dieser zweite Teil tatsächlich besser als der erste. Schön auch, dass einige bekannte Figuren wieder mit von der Partie sind und hier und da mehr Raum bekommen. Da bin ich gespannt, wie es mit ihnen und den Ermittlungen in Zukunft weitergeht.
Die perfekte Lektüre für alle, die neben Spannung auch gern Einblicke in Kunst und Politik lesen.

Bewertung vom 11.08.2023
Das Pferd im Brunnen
Tscheplanowa, Valery

Das Pferd im Brunnen


ausgezeichnet

Starke Frauen, starkes Debüt - Valery Tscheplanowa hat mit diesem Roman ihr beeindruckendes Debüt gegeben und ich hoffe sehr, dass wir in Zukunft noch ganz viel von ihr lesen dürfen!

Die Autorin lenkt aus der Perspektive der Urenkelin Wanja den Blick auf die Frauen in ihrer (autobiographisch geprägten, fiktiven) Familie. Da ist die Urgroßmutter Tanja, die Zeit ihres Lebens ihre Haare für ihr Totenkissen sammelte und Wanja heimlich taufen lässt. Ihre Tochter Nina, die schon als kleines Mädchen die Härte des Lebens, des Krieges erfahren und „anpacken“ musste und die diese Härte nie ganz aus ihrem Leben verbannen konnte. Deren äußere Hülle, die geblähten Nasenflügeln, der kirschrot geschminkte, verbissene Mund, die strenge Haltung jedwede Wärme und Emotionen scheinbar abprallen lassen. Lena, Ninas Tochter und Wanjas Mutter, die der Enge entkommen will und als junge, alleinerziehende Mutter mit einem Alleinunterhalter 1988 in das vermeintliche „Paradies“ Deutschland geht. Um dort in einem maroden, grauen Haus direkt an der B77 zu stranden. Und schließlich Wanja, die sich nun, nach dem Tod der Großmutter, auf Spurensuche begibt und in die Heimat nach Kasan reist.

Vier starke Frauen, die Männer nur Randerscheinungen, die immer im Schatten hinter den Protagonistinnen bleiben. Frauen, die sich im 20. und 21. Jahrhundert in ihrem bescheidenen Leben behaupten mussten. Mir hat dieser Roman wahnsinnig gut gefallen und mich emotional tief berührt. Viele kleine, ergreifende Geschichten lassen die Härte der Umstände erahnen, im kommunistischen Russland, in den Wirren des Krieges, in Mangel und Verzicht. Und doch sind da immer wieder die kleinen, hellen, lichten Momente, die ein Lächeln hervorlocken, die eine Umarmung ersehnen oder auch einen tiefen Seufzer. Etwa die Szene, in der Lena für Eier Schlange stehen muss oder die heimlichen Treffen mit einem Patienten im Prothesenwerk.

Valery Tscheplanowas Sprache ist bildgewaltig und gleichzeitig sehr ruhig und poetisch. Als Leserin kann man gar nicht anders als ganz tief in diese hochemotionalen Episoden einzutauchen – auch wenn den Protagonistinnen vermeintlich die Emotionen fehlen. Mir sind die vier Frauen sehr ans Herz gewachsen und dieser Roman zählt für mich persönlich schon jetzt zu meinen Lesehighlights!