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booktower
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Rodgau

Bewertungen

Insgesamt 57 Bewertungen
Bewertung vom 10.07.2023
Das Glück der Geschichtensammlerin
Page, Sally

Das Glück der Geschichtensammlerin


ausgezeichnet

Das Cover ist so vielversprechend und ausgestattet mit schönen Extras im Bucheinband, wie es mit Taschenbüchern noch selten geschieht. Solche Bücher machen gleich Lust auf‘s Lesen.
Darum übte dieses Buch gleich beim Anschauen einen besonderen Zauber auf mich aus.
Und- ich wurde nicht enttäuscht..
Diese Geschichte hat für mich einen besonderen Zauber. Janice, eine Putzfrau, macht sich viele Gedanken über die Menschen, deren Räume und Häuser sie putzt. Sie beobachtet sehr genau und so lernen wir die Menschen kennen, über die sie sich Gedanken macht, während sie putzt oder den Kühlschrank abtaut. Denn während dieser Zeit erzählen viele ihr ihre eigenen Geschichten. All diese Geschichten speichert sie bei sich selbst ab.
Auch über die Menschen, die sie im Bus beobachtet, denkt Janice nach. Page schreibt sehr poetisch, hier ein Beispiel über einen Moment mit dem Busfahrer, von dem Janice sich in einem Augenblick denkt, ob wohl der Fahrer mit den Türen mitseufzt, wenn sich diese seufzend schließen…Sie ist so eine anteilnehmende, feinfühlige und taktvolle Person. Außerdem liebt sie es sehr, zu lesen. So lernen wir auch ihre eigenen Vorlieben kennen, für die Autoren, deren Bücher sie leiht. Es ist wie einen literarischen Wegweiser zu entdecken, mit all den Büchern, die Janice so mag.
Als Janice anfängt, für Frau B zu putzen – eine kluge und listige Frau in den Neunzigern – trifft sie jemanden, der ihre Geschichte hören möchte. Aber Janice ist klar: Sie ist die Hüterin von Geschichten, sie hat keine Geschichte zu erzählen. Zumindest keine, die sie teilen kann.
Frau B. bemerkt bald, dass hinter Janice mehr steckt, als man auf den ersten Blick sieht. Was verbirgt sie? Hat nicht jeder eine Geschichte zu erzählen? Janice Geschichte birgt Überraschungen, die ihr Leben umkrempeln werden. Sie entwickelt erstaunliche Entschlusskraft, eine ganz neue Richtung einzuschlagen.

Alles ist einem leichten sehr anschaulichen Stil geschrieben, obwohl es sehr tief gehende Themen sind, mit denen wir hier konfrontiert werden. Zutiefst menschlich sind diese. Dass die Geschichte im Präsens geschrieben ist, stärkt die Echtheit der Ereignisse in Janices tapferem Leben. Diese Erzählung macht neugierig während wir sie lesen, darauf, was wir noch alles erfahren werden.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.07.2023
Die Erinnerungsfotografen
Hiiragi, Sanaka

Die Erinnerungsfotografen


ausgezeichnet

Das Seelenfoto

Wir treten ein ins Zwischenreich zwischen Leben und Tod. Was wir dort lesend erleben, geschieht in einem Fotostudio. Ein ungewöhnliches Fotostudio und der Wirklichkeit, in der wir existieren, enthoben. Nach und nach beginnen wir in die Geschichte einzudringen. Hier werden Menschen vorbereitet auf das Kommende in der Ewigkeit. Was erwartet uns in diesem ungewöhnlichen setting? Etwas noch nie so Erzähltes, Erlebtes und trotzdem vorstellbar, traurig und zugleich tröstlich. Hirasaka, der Besitzer des Fotostudios, empfängt seine Klienten liebevoll und behutsam.
Hirasaka begleitet seine Besucher in die Unendlichkeit. Diese dürfen ihr Leben nochmals erleben, bevor sie endgültig Abschied nehmen müssen. Staunend begleiten wir ihn durch die Vergangenheit seiner Besucher*innen. Wir lesen über das Leben einer tapferen Erzieherin, die sich allen Hindernissen zum Trotz im Japan der Nachkriegszeit des zweiten Weltkriegs durchsetzt, um das Leben von Kindern, nach dem August 1945, zu erleichtern. Wir erfahren durch das Schicksal eines Yakuza Mitglieds surreale Begebenheiten, an die man sich noch lange erinnern wird. Auch ein kleines Mädchen spielt eine ganz besondere Rolle in dieser zauberhaften Erzählung.
Sie alle dürfen aus Hirasakas Studio eine Kamera auswählen und dann auf einem Ausflug mit ihm Fotos machen, so viele sie möchten. Ein Foto bleibt bedeutsam für ihr Leben. Alle ihre Schicksale sind ergreifend und werden so lebensnah und mitfühlend geschildert, dass wir uns ihnen nicht entziehen können. In poetischer Sprache und wunderbaren Naturschilderungen begleiten wir die Protagonisten durch ihre Erinnerungen.
Wie Hiraagi die Szenerie und handelnden Personen beschreibt ist kunstvoll komponiert. Mir gefällt der Schreibstil, die Gedanken der Handelnden sind in kursiv zu erfahren. Behutsam werden wir eingeführt in einen Zustand, von dem wir alle nicht wissen, wie wir ihn erleben werden. Die Idee zu diesem besonderen Roman ist hochspannend und fantastisch umgesetzt. Ich wünsche ihm viele Leser*innen.

Bewertung vom 06.06.2023
Sommertage im Quartier Latin / Paris und die Liebe Bd.1
Martin, Lily

Sommertage im Quartier Latin / Paris und die Liebe Bd.1


ausgezeichnet

Die Magie der Liebe
Paris kann so charmant sein und so charmant ist auch dieser Roman. Schon der Einband dieses Romans lädt ein, in die französische Lebensart einzutauchen. Der Anfangsbuchstabe jedes Kapitels ist besonders gestaltet. Bereits im Prolog treffen wir viele Charaktere an, ein foreshadowing dessen, dass ganz viel passieren wird in dieser Geschichte. Ähnlich einer Rahmenerzählung finden wir hier noch andere Geschichten, die die einander bedingen. Da ist die verschwundene Großmutter Rose, die Mamie ihrer Enkelin Lola, beide sind geheimnisvoll verbunden. Lola folgt dem Ruf ihres Vaters, nach Hause zu kommen, zurück aus Bordeaux, wo sie lebt und wirkt.
„Ja, sie näherten sich unverkennbar Paris. Und neben dem nagenden Unmut, dass sie das Schicksal zu diesem unfreiwilligen Trip gezwungen hatte, und der Müdigkeit wegen der kaum vorhandenen Nacht ( die Lola leider keinen belebenden Schlaf schenken konnte), spürte Lola, wie nervös sie war, weil sie ihre Heimatstadt wiedersehen würde. Fast so, als wartete dort eine Prüfung auf sie.“
Bald erfahren wir, welche besonderen Herausforderungen auf Lola warten – ihr kränkelnder Vater und die Entscheidung, die sie treffen muss – bleiben oder zurück nach Bordeaux reisen…Es wäre nicht Paris, wenn nicht eine ganz besondere Liebegeschichte die größte Rolle spielt – eigentlich zwei – die von Lolas Großmutter und ihre eigene. Es bleibt auf jeder Seite spannend.
Es liegt ein Zauber über dieser Erzählung. Er zeigt sich in so vielen Facetten: wie die Menschen in der Nachbarschaft miteinander umgehen, wie und was sie essen, worüber sie sich unterhalten – überall finden wir Magie. Die unvergleichliche Atmosphäre des Quartier Latin schwebt über allem. Wer Anne Sterns Bücher kennt, weiß, dass hier wieder, wo sie als Lily Martin schreibt, ein besonderer literarischer Genuss wartet. Das französische Flair der Leichtigkeit lugt aus den Seiten – wir durchschauen schon, dass wir hier auf eine wunderbare Mischung des „savoir vivre“ treffen werden, auch wenn ernste Themen keinesfalls ausgelassen werden. Diese Sommertage werden noch lange nachwirken.

Bewertung vom 03.06.2023
PS. Über Apulien leuchtet die Liebe
Damonte, Lene

PS. Über Apulien leuchtet die Liebe


ausgezeichnet

Lene Damonte

P.S. Über Apulien leuchtet die Liebe

Rosa aus Berlin, durch Trauer verstört, hat monatelang gelitten. Ihre Geschichte geht zu Herzen, es scheint als ob niemand ihr helfen kann, zurück ins Leben zu finden. Denn ohne den verstorbenen Lenni kann Rosa sich ein Leben nicht mehr vorstellen. Da kommt ihr eine liebe Freundin, Petti, zu Hilfe. Diese hat eine großartige Postkartensammlung, Rosa liebt es, darin zu stöbern. So wundervolle Karten aus vielen Ländern enthält die Sammlung. Rosa, die alles liebt, was Vintage ist, findet eine wunderbare Karte und darauf steht: PS – über Apulien leuchtet die Liebe. Apulien – die Gegend ihrer und des verstorbenen Lennis Träume. Apulien, wo beide eine Keramikwerkstatt eröffnen wollten. Keramik ist Rosas Leidenschaft, so lange konnte sie sich nicht mehr ihrer Arbeit widmen. Das ist ihr Zeichen für einen Neuanfang. Spontan entschließt sie sich, allein nach Italien, nach Apulien zu fahren. Die Reise beginnt wie ein Road Movie. Es geschieht viel auf dieser Reise und fast sieht es so aus, als ob unsichtbare Helfer Rosa zur Seite stehen. Sie findet was sie braucht. Zuerst eine wunderbare Unterkunft bei einer herzensguten Vermieterin. Bald kreuzen Menschen ihren Weg, die zu Freunden werden, die ihr beistehen in diesem fremden Land. Ihre Liebe zu Italien, seine temperamentvollen Menschen mit ihrer melodischen, ausdrucksvollen Sprache inspiriert Rosa. Und was hat es wohl zu bedeuten, dass sie ein altes verlassenes Haus findet und welche Schätze sie darin findet?
Damontes Geschichte kommt authentisch rüber. Ihre Sprache ist leicht, trotzdem fehlt es ihren Darstellungen nicht an Tiefe. Wie sie die Gegend Apulien, die Atmosphäre in Bari und Umgebung beschreibt, erzeugt im Leser das Gefühl, mittendrin zu sein, sozusagen an allem teilzunehmen, worüber wir lesen.
Aromatisch duftendes Essen, die Verbläuung der Dämmerung am Meer, das nächtliche Schwimmen darin. Ihre Charaktere beschreibt sie liebevoll und so, dass man sich fühlt, als stände man ihnen gegenüber. Dieser Roman überrascht immer wieder mit unerwarteten Wendungen. Als gegen Ende noch ein Sturm wütet, erreicht die Dramatik ihren Höhepunkt. Es scheint alles verloren. Wie alles Rätselhafte miteinander verbunden scheint, selbst wenn es viele Jahre, ja Jahrzehnte her ist, zeigt uns Lene Damonte in diesem Debut. Es ist eine Geschichte, die sich zu lesen lohnt, nicht nur für Apulien Fans. Auch ist es ein Loblied auf die Freundschaft, dieses wichtige Element in unser aller Leben.

Bewertung vom 22.05.2023
Das Restaurant der verlorenen Rezepte / Die Food Detectives von Kyoto Bd.1
Kashiwai, Hisashi

Das Restaurant der verlorenen Rezepte / Die Food Detectives von Kyoto Bd.1


ausgezeichnet

Die Idee zu dieser Geschichte ist so großartig. Nicht nur sind alle Begebenheiten literarische Schmuckstücke. Sie beinhalten so viele Facetten des japanischen Lebens, der Gepflogenheiten von Menschen und nicht zuletzt deren oft anrührende oder auch heitere Schicksalen.
Diese zauberhafte Erzählung nimmt einen vom ersten Kapitel an gefangen. Wie der frühere Polizeibeamte Nagare und jetzt Inhaber eines ganz speziellen Restaurants sowie seine Tochter Koishi dabei helfen, die verlorenen Rezepte durch unermüdliches Bemühen zu beleben und nach zu kochen, beflügelt die Sinne jedes Feinschmeckers. Die Klienten kommen auf die Spur des Restaurants durch eine Anzeige im Feinschmecker Magazin „Gourmet Insider“. Die Gäste, die das absichtlich versteckte Restaurant finden können, sind sehr speziell. Sie alle suchen Gerichte, mit deren Erinnerung sie etwas ganz Besonderes verbinden. Koishi kocht nicht nur, sie notiert alles, was sie und Herr Nagare wissen müssen, um das Rezept nachkochen zu können. Die Gäste erinnern sich so weit wie möglich an Orte, Personen und Ereignisse, an denen sie das für sie wichtige Essen gegessen haben. Das kommt oft sehr emotional rüber. Und Nagares Spürsinn führt immer zu dem gewünschten Resultat: ein ganz bestimmtes Rezept zu finden und es für den Gast nachzukochen. Er scheut keine Mühen, um die Rezepte aufzuspüren. Dies zu lesen ist reines Vergnügen. Dabei erfahren wir die Geschichte des Gastes.
Wenn es dann gelungen ist, wird der Tisch gedeckt. Vor unseren lesenden Augen werden die wundersamen Gerichte in kunstvoll hergestelltem Geschirr serviert: Mal ist es Mashiko Keramik, dann wieder sind es Shigaraki Teller. Oder Koimari Porzellan und Negoro Schalen. Bewundernswerte Gegenstände, die man im Internet finden kann. Immer werden Gäste gebeten auf einem Metallstuhl mit roter Sitzfläche Platz zu nehmen. Die Tische werden sorgsam abgewischt. Und wenn Herr Nagare serviert hat, klemmt er sich jedes Mal das Metalltablett unter seinen Arm. Oft kauft er sogar Servierteller passend zum Gericht. Auch hilft er den Gästen, indem er ihnen in einer Papiertüte verpackt die Zutaten mit gibt und auch die zugehörigen Teller.

Allein die Ausstattung dieses Romans begeistert. Der Schutzumschlag lädt gleich zum Lesen ein. Jedes Kapitel beschäftigt sich mit einem Rezept und den Menschen, die es suchen und denjenigen, die es vor langer Zeit kreiert haben. Die Kapitel tragen den Namen des Rezepts. Geschmückt werden diese Namen am Kopf des Kapitels von Vignetten der reizenden Restaurantkatze Hirune. Sie spielt mit Utensilien, die zum Essen benötigt werden, wie eine Gabel, einem Löffel, einem dampfenden Becher oder anderen.
In diesem Roman lernt man auch, dass es „DIE japanische Küche“ nicht gibt. Je nach Region ist sie sehr unterschiedlich. Der Autor bringt es fertig, dass man gern gleich nach Japan reisen möchte, um alles selbst kennenzulernen. Und diejenigen Leser, die Japan bereits lieben, kommen voll auf ihren Geschmack.

Bewertung vom 24.04.2023
Die Tage in der Buchhandlung Morisaki
Yagisawa, Satoshi

Die Tage in der Buchhandlung Morisaki


ausgezeichnet

Schon der Einband dieses Romans wird alle sofort anziehen, die Bücher lieben. Das Mädchen am Fenster mit der Katze deutet auf eine Zeit hin, in der Menschen Gesellschaft brauchen.
Diese berührende Geschichte gehört für mich zu den Büchern, die ich nach Beendigung gleich wieder nochmal von vorn lesen möchte. Zuviel Ungesagtes steht zwischen den Zeilen, das es weiter zu entdecken gilt. Die Protagonistin Takako entdeckt geschockt die betrügerische Liebe, der sie ausgeliefert war. Sie kündigt ihren Job und sucht Zuflucht bei ihrem Onkel Satoru, der ein Antiquariat führt in Jinbocho, dem größten Antiquariatsviertel der Welt in Tokio.
Takako ist bei weitem keine Buchliebhaberin und Vielleserin. Im Gegenteil. Außerdem ist sie so erschöpft von ihrer Enttäuschung, dass sie die ersten Wochen in ihrem Zimmer die ganze Zeit schläft. Es ist ein kleines Zimmer, vollgestopft mit Büchern, die sie erstmal draußen stapelt um Platz zu gewinnen. Das ist die vordergründige Handlung.
Onkel und Nichte haben sich viel zu erzählen. Tante Momoko, die Ehefrau des Onkels ist seit langem verschwunden und niemand weiß warum und wo sie ist. Als sie zurückkehrt bittet der Onkel Takako, Momokos Beweggründe herauszufinden. Später werden die beiden, Nichte und Tante, eine Reise unternehmen. Inzwischen lebt Takako sich ein und erkundet nicht nur die vielen Bücher, die sie zu lesen beginnt, sondern auch die interessante Umgebung, in der sie nun lebt. Sie entwickelt sich zu einer begeisterten Vielleserin. Auch ein Café entdeckt sie und wird nun eine regelmäßige Besucherin und Kaffeetrinkerin. Dort findet sie Bekannte und Freunde und fühlt sich mehr und mehr heimisch.
Dieser Roman berührt in so vieler Hinsicht. Die handelnden Persönlichkeiten sind liebevoll gezeichnet. Liebhaber japanischer Literatur befinden sich hier in einer Fundgrube und entdecken mit Takako viele Titel und ihre Autoren. Yagisawa schreibt eine einfache, trotzdem tiefgehende Sprache. Die Handlung lebt von den Dialogen der Personen und treibt so das Geschehen voran.
Dieses Buch ist ein Muss, wenn man Japan, seine Menschen und ihre Geschichten liebt. Alle, die etwas über Japan erfahren und in diese Welt eintauchen möchten, finden hier das, was sie dahin führen könnte.

Bewertung vom 15.08.2022
Die Passage nach Maskat
Rademacher, Cay

Die Passage nach Maskat


ausgezeichnet

Nichts ist wie es scheint

Cay Rademacher ist ein Meister der Worte, wie er uns immer wieder in all seinen Romanen zeigt. In seinem neuen Krimi entführt er uns in die Zeit nach dem 1. Weltkrieg, dem Großen Krieg, 1929. Berlin glitzert und die angesehene Kaufmannsfamilie Rosterg geht an Bord der Champillon in Marseille. Ihr Reiseziel ist das Gewürzparadies Maskat. Die Familie wird nach Maskat reisen um Handelsbeziehungen anzuknüpfen. Auch der Prokurist der Firma Rosterg ist dabei, Lüttgen. Zur Familie gehören der Fotograf Theodor Jung und seine Frau Dora Rosterg, sowie seine Schwiegereltern und der nazibegeisterte Sohn Ernst. Wir werden gleich eingeführt in die Umstände der Protagonisten: Jung – vom Krieg traumatisiert. Lüttgen, der Prokurist, offensichtlich ein hater. Dora, Jungs Ehefrau, die an vielen Dingen interessiert ist – hauptsächlich an sich selbst. All dies lesen wir in einer rasanten Sprache, die die Zeitumstände, die Mode, die Atmosphäre dieser Nachkriegszeit, den Hass der Franzosen auf die Deutschen - eindringlich schildert. Eine geheimnisvolle Atmosphäre umgibt die Menschen auf dem Schiff Champillon. Dazu Rademachers Schilderungen von Landschaften, hier das Meer, die umgebenden Horizonte, die Wolkenbildung, die Inseln die passiert werden - beschwören dies Geheimnisvolle geradezu herauf. Die angelaufenen Häfen werden so geschildert, dass man sich selbst dort wähnt. Man fühlt sich auf dieses Schiff versetzt, und mischt sich unter die überaus interessanten Charaktere der vielen Passagiere, die alle miteinander korrespondieren.
Jung, ein Fotograf der Berliner Illustrirten, bekommt viele Szenen vor seinen Sucher, die mit seinem Auftrag wenig zu tun haben, aber ganz sicher noch wichtig werden. Er liebt Dora, ist aber in ihrer Familie eine Art Außenseiter, weil er kein Kaufmann ist, sondern ein Künstler.
Unbegreifliche Ereignisse nehmen in dieser Geschichte Fahrt auf, nicht zu viel soll verraten werden, aber Theodor Jung wird sich während der Reise mit dem Rätsel auseinandersetzen müssen, wohin so plötzlich seine Gattin Dora verschwunden ist.
Wir kennen Cay Rademachers Schreibstil - immer aufs Sorgfältigste recherchiert, wir lesen anspruchsvolle, bildhafte Prosa. Sicherlich hat es auch eine tiefere Bedeutung, dass der Name des Schiffes – Champollion – gleichzeitig auch der Name des Wissenschaftlers ist, Champollion, geboren 1790 - der die altägyptischen Hieroglyphen entzifferte. Die Ausstattung des Schiffes folgt ganz dem Zeitgeist – überall sehen wir ägyptische Artefakte und Dekorationen. Selbstverständlich nur in der Luxusklasse und nicht auf den Unterdecks.
Bis zum Ende bleibt es spannend, bis es sich schließlich auflöst. Die vielen Wendungen der Geschichte, die immer neuen Überraschungen auf jeder Seite, die vielschichtigen Charaktere machen diesen pageturner der Sonderklasse unvergesslich.
Die Ausstattung des Buches ist sehr geschmackvoll und der Zeit angepasst. Eine Karte der Reiseroute ist vorn und hinten auf dem Vorsatzpapier zu verfolgen. Der Schutzumschlag zeigt “The Folio Society edition of Agatha Christie’s Death on Nile“ Da ist es wohl kein Zufall, dass eine der Passagierinnen Mary Westmacott heißt, ein Pseudonym Agatha Christie’s für ihre romantischen Romane.

Bewertung vom 30.07.2022
Drei Tage im August
Stern, Anne

Drei Tage im August


ausgezeichnet

Diesen Roman möchte ich als ein Buch des Staunens und der Wunder bezeichnen. Er ist eine Erzählung, die viele tiefgründige und bewegende Geschichten enthält. Sie sind alle miteinander verkettet und verwebt und bilden einen Teppich – ja, eine wahre Tapisserie.
Vordergründig geht es um Schokolade, um die Schokoladenfabrik Sawade, die bis heute in Berlin existiert, wie wir aus dem Nachwort lernen. Wir erleben Berlin vor dem Hintergrund der Olympiade, die vom 1. bis 16. August 1936 stattfand. Die drei Tage von denen wir lesen, sind der 5. – 7. August. Es geschieht viel in dieser Zeit, dass niemand, der sie erlebt, je vergessen wird. Die Nazifahnen wehen, die Hitlerjugend belästigt andere Jungen. Ein Wind, dessen Vorboten unheimlich sind, weht in den Straßen, währenddessen elegante Berliner*innen dort flanieren und es sich in den vielen Cafés gut gehen lassen und gespannt die Spiele verfolgen. In diesen drei Tagen treffen sich Menschen, deren Schicksal ein ganz besonderes ist. Da ist der jüdische Buchhändler Franz, der vor einer schweren Entscheidung steht. Geschäftsführerin Elfie des Schokoladenladens Sawade kämpft mit ihren eigenen Dämonen. Ihre Kollegin Trude steht ihr zur Seite und erlebt die Liebe. Elfies schwer kranke Nachbarin, die Conte, erzählt von ihrem Leben, sie hat die Kaiserzeit seit 1880 erlebt. Auch dieses Leben von dem Elfie hört, hinterlässt Spuren in ihr. Abends treffen sich die Nachbarn in der Hamady-Bar von Issa El-Hamady. Elfie tanzt dort und dies verändert sie.
Selten liest man in einem Roman so viel Gustatorisches – der Duft von Schokolade, von Bonbons, von Blumen und den Linden, die die Straße säumen strömt geradezu aus den Seiten. Die Linden spielen auch eine besondere Rolle in der Erzählung. Von ihnen lernen wir viel über Berlin und seine ganz eigene Geschichte.
Sterns Sprache ist magisch. Sie schreibt und wir fühlen ins mitgenommen in die von ihr kreierte Atmosphäre. Nicht nur die Personen sprechen und hören zu, auch die Bonbons im Laden spreizen sich, um jedes Wort zu erhaschen. Als Elfie bei einem kleinen Mädchen Levkojen kauft, raunt ihr die Blütendolde zu, wie arm die Kleine ist. Während sie bei ihrer ganz besonderen Nachbarin, Madame Conte, ein Glas Portwein trinkt, spricht der Wein zu ihr „das werden wir ja sehen“, gerade als Elfie beschließt, dass dieses Glas das letzte sein wird.
Wie diese Geschichte sich entwickelt ist einmalig kunstvoll ausgedacht. Wie sie geschrieben ist, welche Sprache wir lesen ist ein Hochgenuss, gleich einer Praline, die wir uns auf der Zunge zergehen lassen und der weitere folgen müssen, so unwiderstehlich ist ihre Anziehungskraft.
Die Begegnungen dieser Menschen untereinander, von denen wir lesen, verändern in jedem etwas Anderes, etwas, das sie nie in ihrem Leben vergessen werden.

Bewertung vom 03.07.2022
Freundin bleibst du immer
Obaro, Tomi

Freundin bleibst du immer


ausgezeichnet

„Freundin bleibst du für immer“ ist der Debut Roman von Tomi Obaro, einer Redakteurin von BuzzNews. Romane, die Lebensgeschichten von Freundinnen behandeln sind sehr oft lesenswert und haben eine lange Tradition in der Literatur, angefangen von Mary McCarthys „Die Clique“ der Sechzigerjahre. In dieser modernen Geschichte geht es um Freundinnen, die zusammen erwachsen werden und ihre verschiedenen Lebensentwürfe verfolgen
Das farbenfrohe Cover zeigt wunderschöne Ohrringe und einen stilvollen Kopfputz, „headtie“ genannt, der immer zu einem eleganten Outfit in Nigeria gehört. Die Schicksale dieser drei Freundinnen nigerianischer Herkunft sind sehr unterschiedlich, auch von Tragik gezeichnet. Die Autorin schreibt eindringlich über das moderne Leben in Nigeria. Sie schreibt einfühlsam und klar, wir bekommen einen Eindruck des Lebensstils in der damaligen Hauptstadt Lagos sowie auch in Zaria und Kaduna, im Norden des Landes. Der Titel der amerikanischen Originalausgabe lautet „Dele weds Destiny“, ein Hinweis darauf, dass die Hochzeit der Grund ist, dass die Freundinnen sich wiedersehen. Wie die ganze Hochzeit zu einem „destiny“ – Schicksal – gerät, ist überaus spannend zu lesen. Zainab, eine der Freundinnen, ist Destinys Patentante und hat ein ganz besonderes Verhältnis zu ihr. Zainab studierte Englische Literatur. Die Hinweise auf die nigerianische Literatur mit ihren weltberühmten Autoren wie Chinua Achebe und Wole Soyinka und anderen sind sehr interessant und wichtig. Auch Conrads „Herz der Finsternis“, ein wichtiger Roman der Literatur über Afrika, wird erwähnt. Die Autorin erzählt ihre sehr tief gehende Geschichte mit einer faszinierenden und bewundernswerten Leichtigkeit. Wir beginnen mit der Gegenwart und tauchen dann ein in die Vergangenheit dieser drei Freundinnen. Am Ende sind wir wieder in der Gegenwart. Wir lesen eine farbige, emotionale und spannende Geschichte. Nigeria entsteht vor unserem inneren Auge – das Leben von Studentinnen und später im Youth Corps, einer einjährigen Zeit nach dem Universitätsabschluss. Für Enitan wird dies ein Schicksalsjahr. Studenten werden an vielen verschiedenen Orten Nigerias eingesetzt, um zu unterrichten oder auch auf Farmen zu arbeiten. Wir lernen die vollkommen unterschiedlichen Leben in den Familien der Freundinnen kennen. Die Herkunft der Frauen ist unterschiedlich. Zainab kommt aus einer bürgerlichen Hausa Familie, Enitan lebt mit einer alleinerziehenden Mutter und Fumni muss sich mit Stiefmüttern herumplagen. Die letzteren gehören zum Volk der Yoruba. Alle Charaktere entwickeln sich. Ihre Freundschaft hält über viele Jahre. Ein vollkommenes Spektrum Nigerias in all seiner Farbigkeit entsteht vor uns durch die Freundinnen und ihrer Kleidung, ihrem Essen, ihrem Studentenleben, ihren Vorlieben von Musik und ihre Erfahrungen mit der Liebe. Auch die schwierigen Seiten eines Lebens in Nigeria und die Probleme werden erzählt, zum Beispiel über die Studentenunruhen wegen der Verhältnisse an Universitäten in diesem Land. Hier entscheidet sich Funmis tragisches Schicksal. Enitans Tochter Remi ist in Amerika aufgewachsen, mit ihrem amerikanischen Vater. Remis kritische Anmerkungen zu ihrer neuen Erfahrung auf dieser Reise lassen uns Nigeria aus noch einem anderen Blickwinkel sehen. Der Höhepunkt dieser fulminanten Erzählung ist die minutiöse Beschreibung der traditionellen Yoruba Hochzeit zwischen Destiny und Dele mit allem Pomp, aller Eleganz und dem Glamour, der dazu gehört. Destiny trifft auf ihr Schicksal und erfährt zum ersten Mal ihre Mutter Fumni auf eine Weise, wie sie sie sich immer gewünscht hat.
Sehr hilfreich ist das Glossar am Ende des Buches für diejenigen, die nicht mit Nigeria vertraut sind.

Bewertung vom 01.07.2022
Morgen kann kommen
Kürthy, Ildikó von

Morgen kann kommen


ausgezeichnet

Geheimnis eines ganzen Lebens

Schon das Cover, auch wieder von dem genialen Peter Pichler gestaltet wie die Aquarelle auf den Innenseiten, lädt ein, dieses Buch in die Hand zu nehmen und aufzuschlagen.
„Es wird Zeit“, im Jahr 2000 erschienen, hat mich bereits so begeistert. Auf „Morgen wird kommen“ habe ich gewartet und es nun in zwei Tagen durchgelesen. Ich denke, ich fange es noch einmal von vorne an. Sofort nach den ersten Seiten wurde ich in die Geschichte gezogen. Der Schreibstil ist rasant. Diese Idee, eine Geschichte zu erzählen, die ein Foto in Ruth auslöst, das sie in einem Drogeriemarkt findet, ist einfach genial. Ruth wird bald einundfünfzig und hat so viel erlebt und unausgesprochen mit sich herumgetragen, das sie uns in ihren eigenen Worten erzählt. Alle anderen Charaktere kommen in der dritten Person zu Wort. Diese Geschichte enthält so viele Gedanken und Gefühle, die für viele immer noch undenkbar und unaussprechlich sind. Wie die Autorin mit leichter Hand schreibt , mit fantasievollen Vergleichen ernste Dinge ausspricht, Gedanken, die Millionen Frauen auf dieser Welt denken und die diese unablässig beschäftigen, ins einzigartig. Wir lesen von vier Tagen aus dem Leben von Menschen. Von Männern und Frauen. Von einigen, die sich ewig kennen, andere kommen hinzu. Alle sind schicksalsmäßig verbunden. Besonders die Frauen leiden schon seit Jahren und leben trotzdem ihr Leben, worin besonders Frauen Meisterinnen sind, schon seit Jahrhunderten. In dieser Geschichte helfen sich die Charaktere gegenseitig, um in der eigenen Tiefe zu schürfen, hervorzuholen, was eingesperrt war und herauszufinden, wie sie sich befreien können. Alle sehnen sich danach, endlich los zu lassen, was sie quält.
Wie die Autorin diesen Roman komponiert, sich die Handlung und die Charaktere ausgedacht und den Haupt- und Nebenfiguren ihre Rollen zugeteilt hat, ist einfach genial. Entdecken Sie selbst, wie die beiden Schwestern Ruth und Gloria ihr großes Geheimnis endlich ans Licht bringen können und ihr Leben auseinander nehmen und neu zusammensetzen. Dagmar, die Dogge spielt ihre eigene hilfreiche Rolle. Alle anderen Figuren, die hier wie in einem Theaterstück agieren, sind so plastisch und echt gezeichnet, dass sie lebendig werden und man den Eindruck hat, bei ihnen zu sein in dieser Geschichte.
Jede Seite ist spannend und unterhaltsam, voller wunderbarer Ideen und Satzgefügen, einfach eine Lust zu lesen. Wir haben hier ein Lese Highlight, das so außergewöhnlich ist, dass keine Beschreibung ausreicht, ihm gerecht zu werden. Wir sind zwar erst im April, aber für mich wird dies in meiner persönlichen Leseliste das Buch des Jahres sein.