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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 224 Bewertungen
Bewertung vom 09.01.2025
Cold Case Ötzi
Rohrer, Josef

Cold Case Ötzi


ausgezeichnet

Wurde Ötzi ermordet? Ein sehr spannendes Sachbuch über den Mann aus dem Eis.

Alexander Horn - Profiler, Oliver Peschel - Rechtsmediziner, Andreas Putzer – Archäologe, und der Autor schließen sich für drei Tage in einer abgeschiedenen, hochalpinen Hütte ein um den Mordfall Ötzi zu beleuchten.
Ich kann mich noch gut an die Bilder erinnern, als die mumifizierte Leiche 1991 am Gletscher auf über 3000 Meter Seehöhe gefunden wurde. Die ersten Mutmaßungen und dann die große Sensation – über 5000 Jahre alt. Muss die Geschichte neu geschrieben werden? Und wer war der Unbekannte? Die Leiche und all die Fundstücke wurden auf das genaueste untersucht, um Antworten auf die vielen Fragen zu finden, hauptsächlich aus archäologischer Sicht. Erst zehn Jahre später, 2001, wurde eine Pfeilspitze in Ötzis Schulter entdeckt, die zweifelsfrei als Teil einer Tatwaffe, die seinen Tod verursachte, identifiziert werden konnte. Das warf ein neues Licht auf den Mann aus dem Eis.
Die drei Wissenschaftler setzten sich nun akribisch mit dem Fall auseinander. Mit dem Mordfall, denn davon wird mittlerweile ausgegangen. Oder war es doch ein Jagdunfall.
Nach 5200 Jahren kann das natürlich nicht mehr vollständig geklärt werden. Und dennoch, was Forensik und Archäologie mittlerweile alles zu Tage fördern, ist mehr als erstaunlich. Unter anderem anhand von wenigen Pollen, die im Magen, an Kleidung, etc. gefunden wurden, ließ sich ein recht gutes Bild von Ötzi und der ganzen Gegend zeichnen. So konnte mit ziemlicher Sicherheit sein soziales Umfeld beschrieben werden, seine ursprüngliche Herkunft aus einem anderen Tal, usw.
Das Buch liest sich weg wie nichts, ist spannend wie ein Krimi. Erstaunliche Erkenntnisse werden uns präsentiert, nach und nach aufgearbeitet. Und vor allem: sehr flüssig geschrieben. Viele Skizzen und Fotos ergänzen alles perfekt. Das Buch gibt sehr interessante Einblicke auf die Arbeit der Forensik und Rechtsmedizin, und auch darauf, wie verzwickte Kriminalfälle in der Praxis aufgerollt werden.
Ein Sachbuch, das, ich wiederhole mich, spannender ist als so mancher Krimi, den ich gelesen habe.
Sehr gerne gebe ich eine Leseempfehlung für dieses informative Buch.

Bewertung vom 07.01.2025
Bruckners Affe
Peschka, Karin

Bruckners Affe


ausgezeichnet

Ein herrlich verfasstes Meisterstück über Anton Bruckner! Sehr lesenswert!

Während seines Begräbnisses steigt der Komponist Anton Bruckner aus seinem Sarg. Etwas verwirrt, hastet er nach Hause, muss er doch unbedingt noch seine letzte Symphonie, die Neunte, fertigstellen. Verdutzt lässt er die Trauernden hinter sich, darunter seinen ärgster Kritiker Eduard Hanslick und seine Majestät Kaiser Franz Josef I. Sie scheinen alle empört, wohingegen seine Haushälterin Kathi die Einzige zu sein scheint, die sich freut und Bruckner nicht nur umsorgt, sondern auch versucht, ihm den Kritiker und sogar den Kaiser vom Hals zu halten. Denn die meinen, Bruckner solle sich dem Unausweichlichen stellen und zurück in seinen Sarg steigen.
In den weiteren Akten dieses herrlichen Stückes, das als Stationentheater konzipiert ist und das Publikum mit einbezieht, tauchen der mittlere und der jüngere Bruckner auf. Schlüsselszenen aus seinem Leben – Kindheit, Jugend. Aus den Sichtweisen als Erwachsener, Aushilfslehrer und Organist schafft es die Autorin die innere Zerrissenheit Bruckners darzustellen. Seine Position am Rande der gehobenen Gesellschaft; und vor allem über seine Musik, die ihm innewohnt, die unbedingt raus muss, und sei es bei etwas improvisierten Orgelspielen während der Gottesdienste. Kurzum: Seine Genialität stand ihm selbst im Weg.
Seine Begegnung mit einem Affen, gefangen gehalten und zur Schau gestellt im Stift Wilhering, ist eine Kernszene dieses Theaterstückes. Sie soll Bruckner zu Teilen seiner ersten Symphonie inspiriert haben.
Mit Witz und Wortspiel zaubert hier Karin Peschka ein Werk, das mit wenigen Worten sehr eindringlich Anton Bruckner beschreibt. Allein die Szene, als Haushälterin Kathi allen so richtig die Meinung sagt, ist genial.
Die Dialoge sind im Dialekt geschrieben, was ich als äußerst passend finde und dem Ganzen den letzten Schliff gibt wie die perfekte Prise Salz.
Ein Essay der Autorin rundet dieses kleine Werk wunderbar ab. Der österreichische Komponist Anton Bruckner ist somit kein Fremder mehr – er steht oder sitzt nun da an seinem Pult und wandelt seine von Musik durchtränkten Gedanken in Noten um.
Herrlich zu lesen! Riesenkompliment an die Autorin und ganz große Leseempfehlung . Ich hoffe, eines Tages die Aufführung dieses Stückes erleben zu dürfen.

Bewertung vom 05.01.2025
Zerrissene Sonne
D'Amérique, Jean

Zerrissene Sonne


ausgezeichnet

Eine Zwölfjährige in einem armuts- und kriminalitätsdurchtränkten Land. Sehr lesenswert!

Die zwölfjährige Tête Félée, was so viel wie Spinnerin bedeutet, wächst in den Slums von Port-au-Prince auf Haiti auf. Die allgegenwärtige Armut ist zum Greifen, die Lebensumstände so, wie wir es uns nicht im Entferntesten vorstellen können. Um an Wasser zu kommen, muss Tête Félée von ihrer Hütte, in der sie mit ihrer Mutter und Stiefvater lebt, fünfhundert Meter zum nächsten Brunnen pilgern. Der Kampf um einen Eimer Wasser geht oftmals über Stunden.

S.20: „Mich wie gestern vier Stunden lang mit Wortgefechten und Körperscharmützeln abgegeben, um an einen Eimer Wasser ranzukommen […]“

Das Slumleben scheint von den Erwachsenen gewollt zu sein. Ihre Mutter, genannt Fleur d’Orange, arbeitet als Nobelprostituierte, und ihr Stiefvater ist die rechte Hand des Gangster-Bosses mit dem Namen Metall-Engel. Am Geld scheint es nicht zu liegen.

Tête Félée möchte lernen, bemüht sich in der Schule, auch wenn: „Die Schule ist mit Abstand eine der dreckigsten Abwegigkeiten, in die sich unsere Welten zum Zweck der Erleuchtung allzu sehr verbissen haben.“
Dennoch zieht es sie dorthin, nicht zuletzt wegen ihrer Schulkameradin Silence, die Tochter ihres Lehrers, in die sie sich verliebt hat.
Neben dem Schülerinnendasein gibt es nur noch das raue Leben. Ihr Stiefvater, den sie dennoch Papa nennt, spannt sie für so manche Gaunereien ein. Die Kriminalität wird von den Kindern in den Slums mit der Muttermilch aufgesogen. Doch die Dinge entwickeln sich selten so, wie man es sie für sich vorhersieht oder wünscht.
Tête Félée möchte weg, hat Haiti satt.

S.48: „Raus aus diesem Land mit seinen lockersitzenden Kugeln. Raus aus diesem Land der zwölfjährigen Gangster. Runter von dieser Insel mit ihren unendlichen Schwindelliedern.“

S.59: „Was die Polizisten angeht, so waren sie, wie immer in diesem Land, damit beschäftigt, ihrem Beruf nicht gerecht zu werden.“

Mehr kann ich nicht verraten, denn alles andere wäre gespoilert. Und es passiert in diesem gerade mal 115 Seiten starken Roman noch jede Menge. Schlimme, brutale Sachen. Schmerzvolles für Körper und Seele. ↓↓↓ (weiter im Kommentar)

Die Autorin erzählt eindrücklich und ungeschönt, nimmt sich kein Blatt vor den Mund. Der sprichwörtliche Kampf ums Überleben nimmt sich selbst beim Wort.
Und trotz der vielen verstörenden Bilder erzeugt die Autorin mit ihrer Erzählkraft einen unglaublichen Sog, dem man sich nicht entziehen kann. Der Inhalt wird zu einem Mix aus jugendlicher Unschuld, bitterem Sarkasmus und der brutalen Härte, die der Alltag bereithält, eingepackt in eine Sprache, die sich einer Poesie nicht entziehen kann.
In diesen wenigen Seiten des Romans steckt ein Großteil des Lebens von Haiti, wie wir es auf Hochglanzprospekten niemals finden werden. Knapp und prägnant eröffnet uns Jean d’Amerique das wahre, bittere, armuts- und kriminalitätsdurchtränkte Land.

Ganz große Leseempfehlung für diesen Roman, der teilweise schockieren mag, aber unbedingt gelesen werden will, ja muss.

Bewertung vom 02.01.2025
Der beste Tag seit langem
Volkmann, Jana

Der beste Tag seit langem


ausgezeichnet

Herrlich erzählter Roman gegen das Ausbeuten von Tieren. Leseempfehlung!

Tiere werden tagtäglich von der selbsternannten Krönung der Schöpfung namens Mensch zur Arbeit gezwungen, versklavt, ausgebeutet, gemetzelt.
Was, wenn man den Tieren den Ungehorsam beibringen könnte. Die Arbeit verweigern. Fiakerpferden zum Beispiel.
Denn so ein Pferd wollte nicht mehr, und ist Maja und ihrer Nichte Cordelia schlichtweg zugelaufen. Zumindest trabte das anscheinend herrenlose und arbeitsverweigernde Tier den beiden nach, lebte fortan in einem Garten einer Siedlung am Rande Wiens. Die beiden kümmerten sich um Isidora, wie sie das Pferd nannten. Sie versuchten ein Geheimnis daraus zu machen, denn die Nachbarschaft, ein alt eingesessenes Rechtsanwaltsgeschlecht, hatte so ihren Ruf. Diese Vorurteile zerbröckelten rasch, auch dort herrschte große Tierliebe.
Etwas abseits von Maya entwickelt sich unter dem Beisein von Cordelia eine neue Szene von Tierschützern. Sie möchten den Tieren den Ungehorsam beibringen, zum Streik „erziehen“.

Jana Volkmann legt mit ihrem Roman sehr gezielt die Finger auf die offene Wunde unserer Gesellschaft. Die Lebewesen sind „nur“ eine Sache in unserer kapitalistischen Welt. Ein Ding zur Befriedigung unseres Verlangens. Das Überfallen der Natur mit allen möglichen Mitteln, das Unterjochen aller Spezies. Das ist das zentrale Thema des Romans.
Volkmann gelingt das große Kunststück, diese Themen in einen wirklich leicht und unterhaltsam zu lesenden Roman zu packen. Ihre Worte kommen oft mit gut verstecktem Humor daher, haben dann aber auch wieder die nötige Strenge, um mit erhobenem Zeigefinger die Missstände aufzudecken.
Die Autorin schafft es mühelos, ihre Leserschaft zum Nachdenken zu bewegen. Muss es immer noch so sein, wie es immer schon war, oder ist es nicht wirklich an der Zeit, umzudenken. Weg nicht nur vom Kapitalismus, sondern auch fort von dem allgemein durchtränkten Gedanken, alles beherrschen zu müssen.
Sehr gerne gebe ich eine große Leseempfehlung für diesen tollen, sehr flüssig zu lesenden Roman.

Bewertung vom 28.12.2024
Die Schlangen werden dich holen
Malfatto, Emilienne

Die Schlangen werden dich holen


ausgezeichnet

Ein Abbild der kolumbianischen Gesellschaft. Ein sehr lesenswerter Berichtsroman.

Warum musste Maritza sterben? Dieser Frage geht die Autorin und Journalistin Emilienne Malfatto mit detektivischem Gespür nach. War Maritza zur falschen Zeit am falschen Ort? Wie so oft in Kolumbien, wenn man zwischen die Fronten des Drogenkrieges gerät? Oder war sie als Sozial-Aktivistin ein Dorn im Auge der Regierung? War es ein Mord aus Habgier und Neid, obwohl Maritza kaum etwas besaß außer einer Parzelle Land?
Malfatto führt uns tief in den Dschungel Kolumbiens – ein Dschungel aus Korruption und unterschiedlichen Machtinteressen. Das Land ist reich an fruchtbarem Boden, hat eine üppige Vegetation. Kaffeesträucher, die dort so gut gedeihen, werden ausgerissen, um Platz zu machen für den Anbau von Marihuana und Kokain. Die Gegenden sind fest in einem mafiosen Clan. Daran reiben sich Paramilitärs, und auch die Regierung. Immer wieder werden von den Guerillas die Berghänge durchstreift, die Opfer unter den Zivilisten sind zahlreich. 200000.
Die Autorin beleuchtet das Umfeld von Maritza. Sie forscht nach, spricht mit Zeitzeugen, Bekannten und den Kindern der Getöteten. Nach und nach offenbart sie uns das Leben der Frau, von der Kindheit an bis zum Tag ihres Todes am 5. Januar 2019 in ihrem zweiundsechzigsten Lebensjahr. Mutter von sechs Kindern. Es war der fünfte Mord an einer sozialen Aktivistin binnen fünf Tagen. Das Motiv scheint vorerst klar, denn der Regierung und Polizei ist es einerlei. Es scheint sie nicht zu interessieren. Die Familie, total verängstigt, kümmert sich um das Nötigste und um ein Begräbnis. Steckt dennoch mehr dahinter?
Was auf den ersten Blick wie eine Tatsachenrecherche anmutet, ist in Wahrheit ein überzeugender Berichts-Roman, der den ganzen Sumpf der Korruption beleuchtet. Ein Thriller wäre nicht spannender. Oder schockierender. Denn hier werden tagtägliche Begebenheiten erzählt, bar jeder Fiktion.
Die Sprache ist eindrücklich, fließend, ein richtiger Genuss. Trotz der Schwere des Inhalts bewahrt sich der Text seine eigene Leichtigkeit, um die Kost einigermaßen gut verdauen zu können.
Maritzas ganzes Leben war ein Kampf. Ein Wechsel zwischen bitterster Armut, einer trostlosen Kindheit, und auch wieder Lichtblicke, wenn sie ihre eigene Finca bewirtschaften konnte. Zusammen mit ihrem Ehemann Alvaro war das Leben erträglicher. Aber ihm ereilte schon früh dasselbe Schicksal, als die Guerillas an deren Türe klopften, ein wenig die Gastfreundschaft auskosteten, besonnen miteinander redeten. Nur um dann Alvaro höflich aus dem eigenen Haus zu bitten. Die Schüsse prägten sich in den Ohrenzeugen ein.
Malfatto beschreibt eine Gesellschaft zwischen armer Landbevölkerung, reichen Patriarchen, korrupter Regierung und touristenverseuchten Stränden, die wir uns nicht annähernd vorstellen können. Kampf und Leid der Bevölkerung. Opfer zwischen den Mühlsteinen, ausgebeutet wie eh und je.
Lest das Buch! Schaut über den eigenen Tellerrand und denkt an die unzähligen armen Seelen, wenn ihre ein Tasse kolumbianischen Kaffee trinkt.
Ganz große Leseempfehlung für diesen preisgekrönten Roman.

PS: Der Titel des Buches erklärt sich im Roman! Kann hier nicht verraten werden.

Bewertung vom 18.12.2024
Kleine Fliegen der Gewissheit
MacCarthy, Molly

Kleine Fliegen der Gewissheit


sehr gut

Ein schön erzählter, autofiktionaler Einblick in die Bloomsbury Group und deren Zeit

Molly McCarthy – eigentlich hieß sie mit Vornamen Mary – war eine Schriftstellerin aus der Bloomsbury Group. Dessen bekannteste Vertreterin Virginia Woolf war eine Cousine von McCarthy.
Das Gesamtwerk von McCarthy ist eher beschaulich. Dieser Roman erschien 1924 und enthält starke autobiografische Züge.
Die Autorin erzählt viel über ihre Kindheit und Jugend. Vom Aufwachsen auf einem großen herrschaftlichen Anwesen, in unmittelbarer Nähe von Schloss Windsor. Über ihre Eltern, und vor allem all den Freiheiten, die sie hatte. Anscheinend hat es sie als Kind übertrieben mit dem „Unaufmerksamsein“ und wurde für ein paar Jahre von ihrer Mutter in ein Kloster gesteckt. Die Bedingungen dort waren das komplette Gegenteil von ihrem Zuhause. Eingepfercht in kaltes Gemäuer, der Zucht und Ordnung der Ordensschwestern ausgesetzt, ständig hungrig und krank.
Als ihr Vater Vize-Schulleiter von Eton wurde, mussten sie übersiedeln. Eine neue, prägende Zeit brach heran. So kam sie in Kontakt mit den verschiedensten Persönlichkeiten.
Es war das Auslaufen des Viktorianischen Zeitalters. Die Gesellschaft war eng in dieses steife Korsett aus strengstem Konservatismus, Bigotterie und Patriarchat verschnürt. In Erinnerungsepisoden erzählt Molly von der Starre des endenden neunzehnten Jahrhunderts und eines unbestimmten Aufbruches in eine neue, turbulentere Zeit, in der auch Frauen vielleicht ein klein wenig mehr öffentliche Achtung fanden als noch ein paar Jahre zuvor.
Dennoch bleiben Wissenschaft und Kunst fest in Männerhand.
Das Buch ist nett und unterhaltsam zu lesen. Manchmal direkt, dann wieder ironisch bekommen wir einen guten Blick auf die damalige Gesellschaft und das Erwachen der klassischen Moderne.
Das Vorwort des Übersetzers, wenn auch ziemlich umständlich formuliert, gibt einen umfassenden Überblick über das Leben der Autorin. Ein Essay über McCarthy von Virginia Woolf rundet das Buch perfekt ab.
Perfekt für Interessierte der damaligen literarischen Strömungen und Freunde von Bloomsbury.

Bewertung vom 15.12.2024
Das Archiv der Herzschläge
Imai Messina, Laura

Das Archiv der Herzschläge


ausgezeichnet

Ein ruhiger, gefühlvoller Roman rund um Freundschaft, das Loslassen und die Bewältigung von Trauer.

Shūichi, 40, hatte es nicht leicht in seinem bisherigen Leben. Er lebte zurückgezogen in Tokio als Autor und Illustrator von Kinderbüchern. Er war mit einem Herzfehler zur Welt gekommen, benötigte eine Operation. Diese ließ er aber erst an sich vornehmen, als sein Leben gefestigt, und er verantwortlich für seine kleine Familie war.
Aber vieles ist vergänglich ... In seinem jetzigen Zustand blickte er zurück, strich sich über seine große Narbe an der Brust, verfolgte seinen Herzschlag, und dachte an viele Dinge aus seiner Kindheit. Doch seine Erinnerungen schienen ihn zu betrügen, denn an das was er sich entsann und das was er glaubte zu wissen passte nicht zusammen. Seine Mutter hatte ihm wohl mit viel Erfolg sein Leben schön geredet. Probleme? Gab es nicht, es war doch alles viel anders, leichter, schöner.
Als dann seine Mutter starb zog er in das kleine Haus seiner Kindheit, krempelte um, mistete aus. Sein Leben war eine Maske, hinter der er sich verbarg. Eines Tages entdeckte er einen kleinen Jungen, der jeden Tag in das Haus einstieg, um ein paar belanglose Dinge zu entwenden. Es war Kenta, ein Junge aus der Nachbarschaft, der viel Zeit mit Shūichis Mutter verbrachte, wie er nach und nach erfuhr.
Zwischen Kenta und Shūichi bildete sich eine Freundschaft, eine zart blühende Knospe, die sich dennoch weigerte, ihre volle Blüte zu entfalten. Shūichi erfuhr dabei viel über seine Mutter und auch über sich selbst. Sein Leben, und vor allem seine Einstellung zum Leben änderten sich. Er wachte aus seiner depressionsähnlichen Eingeschlossenheit in sich selbst auf. Er ließ sein Herz wieder Leben, erlaubt ihm einen anderen Rhythmus und auch die Liebe, die er ausgesperrt hatte, um keine Verluste mehr erleiden zu müssen, darf wieder Einzug halten.

S. 158: „Lieben, wiederholte er in seinem Kopf, war ein unerträgliches Risiko.“

S.173: „An jenem Tag kehrte das Bedürfnis zu fühlen zu ihm zurück.“

Die Freundschaft zwischen den beiden wurde inniger, und sie fuhren auf die Insel Teshima zum Archiv der Herzen. Es ist ein Museum, in dem Herzschläge von Menschen aus aller Welt gespeichert sind (gibt es tatsächlich). Und Shūichi machte dort eine unglaubliche Entdeckung …

Die in Japan lebende Italienerin Laura Imai Messina schreibt mit diesem Roman eine sehr gefühlvolle Geschichte. Sie kommt ruhig daher, in Wellen ohne große Aufs- und Abs. Es ist ein sanfter Roman, die Sprachführung könnte man als typisch Japanisch bezeichnen, höflich, ohne die LeserInnen zu sehr emotional kompromittieren zu wollen. Dennoch zieht die Story die Leserschaft in ihren Bann.
Trauer und deren Bewältigung stehen stark im Vordergrund, genauso wie das Leben einem immer wieder neue Chancen bietet. Die Vergangenheit, so einschneidend die Erfahrungen auch waren, muss nicht auf Dauer bestimmender Bestand des Lebens bleiben.

Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen gefühlvollen Roman und wunderschön gestaltete Buch.

Bewertung vom 10.12.2024
The Hollow Places
Kingfisher, T.

The Hollow Places


sehr gut

Spannender Mix aus Horror und Fantasy, manchmal etwas zu verfahren.

Manchmal bekommt man, in diesem Fall Kara, Mitte 30, die vollendeten Tatsachen präsentiert. Ihr Mann will die Trennung, die trotz gewisser Unstimmigkeiten doch eher unerwartet kommt. Sie muss raus aus dem gemeinsamen Haus, und so viel Meilen wie nur möglich zwischen sich und ihrer Mutter bringen. Ein Wink des Schicksals ergibt sich: ihr Onkel Earl bietet ihr an, bei ihm zu wohnen und zu arbeiten. Wohnung und Arbeit heißt: sein Museum für (sehr) kuriose Dinge aus aller Welt zu hüten. Dafür gibt es ein Hinterzimmer zu bewohnen. DIE Gelegenheit!
Es entwickelt sich gar nicht schlecht, findet im exzentrischen Barista Simon vom Café gegenüber einen guten Kumpel. Alles wunderbar, Earl muss zur Operation ins Krankenhaus, Kara schmeißt den Laden alleine.
Bis da eines Tages ein mysteriöses Loch in einer Wand auftaucht. Zuerst klein, aber dank der Neugier von Kara und Simon bald so groß, dass die beiden hindurchschlüpfen können. Sie entdecken einen Gang, eine Leiche und schließlich eine Tür in eine fremdartige Welt mit viel Wasser. Unzählige Inseln zeichnen sich ab, fast alle sind mit einem Bunker aus Beton versehen, scheinen selbst wieder Zugänge zu anderen Welten zu haben. Wer jetzt sofort an das erste Buch von Narnia denkt: Bingo! Auch Vergleiche mit Alice im Wunderland sind zulässig und legitim.
Ihr Erkundungstrieb weicht bald dem blanken Entsetzen, nicht mehr nach Hause zu finden, zumal sehr eigenartige Kreaturen in der anderen Welt hausen. Und Weiden! Böse Bäume, die ihren eigenen Gesetzmäßigkeiten folgen.
Die Story entwickelt sich zu einem Spießrutenlauf, ob das Loch in der Wand wieder verschlossen werden kann, oder sich von selbst schließt und die Beiden in der unwirtlichen Welt gefangen bleiben. Oder lauern gar die Kreaturen nur darauf, Karas Welt in Besitz zu nehmen? Und es stellt sich natürlich durch den ganzen Roman die Frage: warum ist das Loch überhaupt entstanden. Eine Lösung gibt es natürlich, wird aber nicht verraten.
Der Roman ist ein gutes Sammelsurium aus Horror- und Fantasyelementen. Die Sprachführung ist locker, manchmal aber zu ausschweifend. Im Prinzip hätte die ganze Geschichte auch auf die Hälfte gekürzt werden können, der Handlung wäre auch so genüge getan worden. So hangelt man sich durch verschiedene Details aus Karas Leben – und fiebert dann tatsächlich auf eine Fortsetzung des eigentlichen Handlungsfadens hin. Denn eines ist sicher: an Einfallsreichtum mangelt es der Autorin, die hier unter Pseudonym schreibt (bürgerlich Ursula Vernon, mit erfolgreichen Kinderbüchern und Comics), nicht.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für alle, die gerne mal etwas anderes lesen, und sich von einem interessanten Plot in unbekannte und schaurige Welten entführen lassen möchten.

Bewertung vom 08.12.2024
Was noch kommt (eBook, ePUB)
Fónyad, Gábor

Was noch kommt (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Ein amüsanter Streifzug durch einen Familienurlaub, gewürzt mit essentiellen Fragen zum Leben.

War das schon alles im Leben? Kommt da noch was? Vierzig, Mitte vierzig. Wohnung, gefestigte Partnerschaft, Kinder. Job auch nicht so schlecht. Ein geregeltes Leben. Was will man(N) denn mehr? Geben sich Alltagsfrust und die Eintönigkeit des Lebens die Hand und klopfen dir auf die Schulter und sagen: Prima gemacht.
Auf amüsante Art und Weise erzählt uns der Autor von zwei Familien, die mit ihren Kindern Urlaub in Südengland machen, nähe Brighton. Warum? Der Ich-Erzähler Max hat dort vor vielen Jahren eine geile Zeit verbracht. An seine Erinnerungen möchte er anknüpfen, nochmals den Flair erleben, das Feeling aufsaugen. Seine Frau Sarah willigte in den Urlaub ein, genauso ihr befreundetes Paar Mona und Stefan samt Söhnchen Theo.
Neben Regen und Strand gibt es auch den ein oder anderen Ausflug. In der Ferienwohnung versucht man, sich mehr oder weniger aus dem Weg zu gehen. Die Abende sind vorgeplant, jeweils zwei Erwachsene gehen in den Pub, was sechs verschiedene Konstellationen abgibt. Die anderen beiden hüten die Kinder.
Neben Windelwechseln und quengelndem Nachwuchs herrscht sogar manchmal so etwas wie Harmonie, und der ein oder andere Ausflug wird dann gar nicht mal so schlecht.
Max erzählt viel von sich, seine Art sich um die Familie zu kümmern ist fast schon übertrieben mustergültig mit Arbeitsteilung, Karenzjahr, usw. Ein Ding, das für Stefan unmöglich wäre. Er sieht sich als „der Macher“, ist handwerklich geschickt (also das komplette Gegenteil von Max) und demnächst würden sie ein Haus renovieren und dort einziehen.
Auch Sarah und Mona sind unterschiedlich. Während sich Sarah kaum ein Blatt vor den Mund nimmt und ihren Max auch vor versammelter Mannschaft spüren lässt, was ihr nicht passt, ist Mona die eher ruhige Frau, die abwägt, diplomatisch agiert. Und Mona und Max scheinen gut miteinander auszukommen.
Und so kristallisiert sich nach und nach heraus, wo die Sehnsüchte der jeweiligen Personen liegen, was sie noch machen möchten, was in ihrem Leben noch kommen könnte (oder auch nicht). Es wird zum einem zukunftsweisenden Urlaub für alle Beteiligte. Was passiert: bitte selber lesen.
Detailverliebt, mit Esprit und dezentem Humor geht Gábor Fónyad an diesen Roman heran. Feinfühlig portraitiert er die ProtagonistInnen, man erkennt sich in der einen oder anderen Situation wieder. Die große Frage, ob ab einem bestimmten Alter schon der große Haken unter das Schauspiel namens „Leben“ gesetzt werden kann, versucht er mit dieser Urlaubsgeschichte zu erörtern. Wie sind die Menschen: langweilig sesshaft oder aufgeweckt genug für Neues? Und wer bleibt dann auf der Strecke? Oder ist es wirklich nur die viel zitierte Midlife-Crises? Gekonnt und amüsant umgesetzt, bleibt es dennoch an uns selber, diese Frage zu beantworten.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen Roman, der mich nicht nur gut unterhalten, sondern auch zum Nachdenken angeregt hat.
Das Coverbild skizziert das „Upside Down“ Haus, eines der Ausflugsziele im Roman, und auch ein wenig Sinnbild für den Inhalt, wenn das Nachdenken über das bisherige Leben so manches auf den Kopf stellen mag.

Bewertung vom 05.12.2024
Der Rabe, der mich liebte (eBook, ePUB)
Sakin, Abdelaziz Baraka

Der Rabe, der mich liebte (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Eine bewegende Geschichte von zwei Flüchtlingen aus dem Sudan! Wertvoll!

Diese Geschichte über Flucht und der Hoffnung auf ein besseres Leben beginnt damit, dass Al-Nur, einer der Ich-ErzählerInnen des Romans, nach zwei Jahren seinen alten Freund und Fluchtbegleiter Adam Saad Saadan zufällig in Graz wiedertrifft. Doch Adam, der von allen Adam-Ingliz genannt wurde, war kaum wieder zu erkennen. Verwahrlost, offensichtlich dem Wahnsinn nahe, scheint er Al-Nur nicht zu erkennen, und bettelt ihn an. Al-Nur versucht ihm helfen, doch nach kurzen Begegnungen verschwindet Ingliz wieder.
Von diesem Zeitpunkt an wird die Geschichte aufgerollt. Beide stammen aus dem Sudan und machten sich zu Fuß über den „Ameisenweg“ auf nach Europa. Über Graz gelangten sie bis nach Calais – in den sogenannten „Dschungel“, ein Flüchtlingslager. Die dort Gestrandeten leben in erbärmlichen Verhältnissen, allein die Hoffnung haltet sie aufrecht, es nach Großbritannien zu schaffen, sei es mit einem windigen Boot oder auf der Achse eines LKWs. Manchen gelang es, andere sind verschollen. Adam möchte nicht auf dem Festland bleiben. Er träumt davon, ein Professor in Oxford zu werden. Daher rührt auch sein Spitzname Ingliz. Vor dem Meer hatte er Angst, gleichfalls vor der LKW-Achse. Er beschloss, die Flucht mit einem Heißluftballon zu versuchen. Er möchte fliegen, wie seine Kumpane, die Raben. Mit ihnen scheint sich seine Seele verbunden zu haben. Nun, der Fluchtversuch änderte so manches …
In eindrücklichen Bildern erzählt der Autor, in seiner Heimat Sudan verfolgt, über die Flucht, die Zeit in den Lagern und von den unbändigen Wünschen auf ein besseres Leben. Adams Schicksal ist berührend, zeigt es doch auf, woran Menschen letztendlich scheitern können, oder ganz im Gegenteil, was ihnen Flügel verleiht.
Al-Nur fühlt sich Adam verpflichtet.

S. 102: „Adam Ingliz und ich haben alles geteilt, sogar Hunger und Durst, Angst und Geduld. Alle haben mich im Stich gelassen, als ich mir […] den Fuß verknackst habe und die Polizei hinter uns her war. […] und er hat mich auf dem Rücken über unwegsame Pfade getragen, bis wir gerettet waren.“

Im Dschungel von Calais erzählen sich die Asylsuchenden, die Adam kannten, Anekdoten über ihn.
Viele Menschen säumten den Weg der beiden Flüchtlinge, darunter hilfsbereite Seelen voller Empathie, wie die junge Frau Evelina, die Adam helfen wollte, und von ihm „Mama“ genannt wurde.

S.46: „Was können fünf Euro mit einem Menschen machen? Er hatte sie mir aus den Händen gerissen und war verschwunden. Was, wenn es zehn Euro gewesen wären oder tausend oder eine Million? Plötzlich überkam mich Trauer über ein so ungerechtes Schicksal. Dass ein so schöner und starker Mann zu einem Bettler wird, der sich dermaßen über eine so geringen Geldbetrag freut, während andere Millionen besitzen, ständig schlechte Laune haben und schließlich aufgrund von Stress und psychischem Druck sterben, weil sie sich in einem ständigen Kampf um noch mehr Geld und Privilegien befinden.“

Es ist ein wunderbares Buch über die Macht von Freundschaft und über die wahren Werte im Leben. Es ist ein Buch über innige Wünsche, und letztendlich auch über das Scheitern und das ganze Drama und Elend der Flüchtlinge. Aber es zieht einen nicht hinunter, sondern der Autor versteht es, eine positive Grundstimmung aufrecht zu erhalten, einem Abenteuer gleich mit vielen Botschaften zwischen den Zeilen.
Die Raben waren Adams Heil, er fütterte sie, sprach mit ihnen. Sie verstanden ihn wohl. Eine Hommage an E.A. Poe – Nimmermehr - Nevermore – das Absolutum, das Unausweichliche!

Ganz große Leseemempfehlung für diesen bewegenden Roman! Kauft ihn! Lest ihn! Er tut uns gut!