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nessabo

Bewertungen

Insgesamt 148 Bewertungen
Bewertung vom 20.03.2025
Alles, was ich weiß über die Liebe
Alderton, Dolly

Alles, was ich weiß über die Liebe


ausgezeichnet

Nach Startschwierigkeiten ein erstaunlich tiefgründiges Memoir

Ganz ehrlich: Zu Beginn hatte ich Schwierigkeiten mit Dolly Aldertons Buch. Die ziemlich roh beschriebenen Eskapaden ihrer Zwanziger entsprechen einfach so gar nicht meinen eigenen und mit völlig entgrenztem Alkoholkonsum habe ich sowieso immer meine Schwierigkeiten. Auch die teils sprunghaften Episoden haben mich anfangs an einem guten Lesefluss gehindert.

Doch das hat schnell eine überraschende Wendung genommen. Das Sprunghafte ging deutlich zurück und die kurzen, überwiegend gut lesbaren Kapitel folgten mehr und mehr einer zeitlichen bzw. strukturellen Logik. Ganz besonders überzeugt hat mich aber die Selbstreflexion und das Wachstum der Autorin. Sie nimmt ihre Leser*innen mit auf die Erkundung des eigenen hedonistischen Verhaltens und hinterfragt kritisch, vor was genau sie damit eigentlich wegzulaufen versucht. Auch ihr Alkoholkonsum wird kritisch eingeordnet, was ich in allerlei Literatur sehnlichst vermisse.

Und auch, wenn meine Zwanziger sich deutlich von den hier geschilderten unterscheiden, fand ich Einiges an diesem Buch heilsam. Alderton schafft es, diese Lebensphase mit all ihren Vorzügen und Unsicherheiten zu beschreiben, ohne ins Romantisieren zu verfallen. Die Geschichte ist naturgemäß höchstpersönlich, manche Kapitel fand ich entsprechend auch weniger spannend als andere. Doch insgesamt betrachtet hat mich dieses Memoir emotional ganz schön mitgenommen. Einige Kapitel drehen sich um veränderte Freundinnenschaft, andere um Verlust. Ein Tiefgang, auf den ich ehrlicherweise nicht vorbereitet war und der mich zu Tränen gerührt hat.

Die Autorin schafft es, ihre ganz persönliche Erfahrung unterhaltsam zu verpacken und fast immer den Grat zu treffen zwischen Ernst und Heiterkeit. Nicht all ihre Erkenntnisse entsprechen den meinigen, aber genau das darf ja auch so sein. Ganz definitiv ist es ein Buch über Liebe, womit erfrischend wenig die romantische gemeint ist. Damit ist es eine tolle Lektüre - auch für alle, die wie ich ihre Zwanziger nicht weniger vermissen könnten! 😅

4,5 ⭐️

Bewertung vom 15.03.2025
Erdbeeren und Zigarettenqualm
Docherty, Madeline

Erdbeeren und Zigarettenqualm


ausgezeichnet

Eine temporeiche, schmerzhafte Coming-of-Age-Geschichte

[TW: Endometriose, starke Blutungen, extreme Schmerzen, Abtre!bung]

Wie schon von anderen angemerkt, halte ich den Titel der deutschen Übersetzung für eine Entscheidung, die dem Umfang des Buches nicht gerecht wird. Er vermittelt eine Banalität des Lebens, die sich in diesem wirklich tollen Debüt zwar auch finden lässt, welche mich aber nicht vorbereitet hat auf den vielschichtigen Schmerz, den die Geschichte transportiert.

Die junge Protagonistin begleiten wir von Anfang bis Mitte 20. Irgendwie also kein klassisches Coming-of-Age, aber ich habe es trotzdem als eines empfunden. Aufgrund ihrer lange unerkannten chronischen Erkrankung und der damit einhergehenden Herausforderungen im Alltag verschiebt sich das tatsächliche Erwachsenwerden nämlich spürbar.

Die Geschichte ist in der 2. Person Singular geschrieben, was zu Beginn zwar gewöhnungsbedürftig scheint, mich aber ganz schnell für sich eingenommen hat. Ich habe das Buch in einem Rutsch gelesen, auch wenn das Leben der Protagonistin durchaus so schmerzhaft ist, dass ich eigentlich eine Pause gebraucht hätte. Doch der Sog des Erzählstil ist wirklich bemerkenswert.

Zentral in der Handlung ist eine Freundinnenschaft, die sich verändert. Während die namenlose Protagonistin neu eingeschlagene Wege auf verschiedene Weisen immer wieder abbricht, scheint ihre beste Freundin Ella alles im Griff zu haben - und damit ist auch das Leben der Erzählerin gemeint. Wenn deren Welt nämlich wieder einmal auseinanderzubrechen droht, fängt Ella sie auf - bis sie es nicht mehr tut. Die Protagonistin testet währenddessen ihre eigene Sexualität aus, sucht verzweifelt den passenden Job, struggelt mit ihrem Alltag und ihrer Zukunft. All das wäre schon herausfordernd genug, wird aber von extremen Schmerzen bis hin zur Ohnmacht begleitet. Irgendwann wird sie, einige Jahre nach der eigentlichen Diagnose von Endometriose, von einer Ärztin endlich richtig ernstgenommen und mit Medikamenten eingestellt. Daraufhin erteilt sie sich auch selbst die Erlaubnis, ihren Umgang mit sich selbst zu hinterfragen.

Davor, und besonders im letzten Viertel, reihen sich die Exzesse nahtlos aneinander. Dieser Teil sorgte in mir für tiefe Verzweiflung angesichts einer Protagonistin, die sich immer tiefer in die Sch**** reitet und war mir fast ein bisschen zu arg. Besonders der exzessive Alkohol- und Drogenkonsum ist mir persönlich fremd und ich wünsche mir bei aller Authentizität wirklich, dass das Thema literarisch kritischer eingeordnet wird. Dafür ziehe ich einen halben Stern ab. Das Ende ist nicht ganz so versöhnlich, wie mein Herz es sich gewünscht hat, doch ich halte es für die exakt richtige Wahl.

Es ist spürbar, dass Madeline Docherty hier Persönliches hat einfließen lassen. Ob nun die Wohnsituation in Glasgow, Bullshit-Jobs nach dem Studium, sexistische Abwertung oder Studipartys mit reichlich Drogen. Ein ehrliches, schmerzhaftes Debüt über Wachstum, erwachsene Verantwortungsübernahme und die Grenzen einer Freundinnenschaft mit einem klaren Appell daran, sich selbst aber auch Endo-Betroffene generell ernst zu nehmen.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 15.03.2025
Achtzehnter Stock (MP3-Download)
Gmuer, Sara

Achtzehnter Stock (MP3-Download)


sehr gut

Intensiv, echt und vielschichtig - manchmal auch ein wenig zu wild

Zum Hörbuch: Die Sprecherin hat mir sehr gut gefallen und ich halte sie für eine passende Wahl. Ihre Stimme hat mich gut für sich eingenommen und auch, wenn manche Figuren mir persönlich noch zu ähnlich klangen, fand ich die Figurenabgrenzung gut.

Zum Buch selbst: Es war zwar kein 100%ig passendes Buch für mich, aber ich bleibe eher positiv gestimmt zurück. In jedem Fall ist der Roman einer, der seine Leser*innen fordert und auf intensive Art eintauchen lässt in eine Welt, die ihnen vielleicht nicht bekannt ist.

Sprachlich halte ich das Werk für sehr authentisch. Wanda war mir als Protagonistin vielleicht nicht sympathisch, aber ich habe ihr das beschriebene Leben absolut geglaubt. Der Frust angesichts des eigenen Alltags in der Platte und der Wunsch nach einem Schauspiel-Durchbruch waren wirklich deutlich spürbar. Besonders die Krankheit ihrer Tochter Karlie im ersten Teil hat mich sehr mitgenommen, obwohl ich keine Mutter bin. Auch hier werden die Emotionen wie Wut und Verzweiflung angesichts der schlechten medizinischen Behandlung, ja sogar des Medical Gaslighting, packend beschrieben.

Im späteren Verlauf wurde es mir dann aber doch etwas zu wild. Bei den Schilderungen am Set hatte ich das Gefühl, hier sollte besonders viel Drama aufgebaut werden, was das Ganze für mich völlig übertrieben darstellte. Auch ihr Versinken in einen depressiven Zustand und das ständige Kreisen um das eigene Schicksal habe ich als herausfordernd bis anstrengend empfunden - vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass da noch ein Kind im Spiel war. Ich habe wohl auch einfach nicht verstanden, warum sie sich so vehement als Einzelkämpferin sieht und nicht auf das existierende Netzwerk zurückgreift bzw. dieses ausbaut.

Nichtsdestotrotz liegt dem Text eine Gesellschaftskritik zugrunde: Wer hat aus welchem Grund Privilegien und kann ein Mensch den bei Geburt mitgegebenen Umständen wirklich entfliehen? Stellenweise waren mir die Reflexionen rund um „Was macht einen Menschen wirklich glücklich?“ dann doch etwas zu platt und auch die anderen Bewohner*innen des Hauses hätte ich gern vielschichtiger kennengelernt. Als eine Perspektive von vielen ist der Roman aber sicher eine eindrückliche Erzählung.

3,5 ⭐️

Bewertung vom 12.03.2025
Die Fletchers von Long Island
Brodesser-Akner, Taffy

Die Fletchers von Long Island


gut

Ein wahrer Epos, der sich leider zu sehr in seinen Längen verliert

Ich habe eine echte Vorliebe für Familiengeschichten, sie müssen aber (besonders bei einem gewissen Umfang) gut gemacht sein. So gern ich das von diesem Werk sagen würde, muss ich doch feststellen, dass es für mich zu wenig konsistent war in seiner Stärke.

Was mir gut gefallen hat, waren die verschiedenen Perspektive. Sowohl die drei mittlerweile erwachsenen Kinder des zu Beginn entführten Carls als auch seine Frau bekommen je einen Abschnitt, die immer etliche Jahre nach der Entführung spielen. Diese ist lediglich der Aufhänger der Geschichte, vielmehr spielen ihre Auswirkungen auf die indirekt Betroffenen eine Rolle. An sich ein interessanter Ansatz, doch das Buch war eindeutig zu langatmig und konnte zu selten an einer klaren Handlung festhalten.

Alle drei Kinder sind herausfordernde, ambivalente, moralisch mindestens dunkelgraue Figuren, die ich gern kennenlernen wollte. Aber 150 Seiten lang Beamer auf seinen Drogenexzessen zu begleiten oder Nathans extreme Angstzustände und Jennys innere Dissonanz auszuhalten, war mir deutlich zu viel. So hatte die Geschichte richtig gute Phasen, die aber nicht lang genug angehalten haben, um in einen guten Lesefluss zu kommen. So blieb es eher ein stetiges Auf und Ab.

Dabei gab es wirklich tolle Elemente, ich habe stellenweise herzlich gelacht (etwa beim Versuch Beamers, seiner Mutter die sehr nicht-jüdischen Namen seiner Frau und Kinder mitzuteilen) und fand es bemerkenswert, wie subtil Taffy Brodesser-Akner gesellschaftskritische Gedanken platziert. Racial Profiling und Klassenkritik wurden manchmal nur in einem Satz angedeutet und lösten gerade dadurch etwas viel Größeres in mir aus.

Vermisst habe ich insgesamt betrachtet auch den Humor. In anderen Besprechungen habe ich von viel schwarzem Humor gelesen, aber so richtig konnten meine Erwartungen hier nicht erfüllt werden. Phasenweise zwar geprägt von einer skurrilen Alltagskomik und ironischen Elementen, war es mir auf den deutlich über 500 Seiten dann doch zu wenig.

Es war für mich spannend, in das Leben einer jüdisch-amerikanischen Familie einzutauchen und fand auch das Trauma mit seinen vielschichtigen Konsequenzen für die Kinder eine spannende Ausgangslage. Mit einem Drittel weniger Länge wäre meine Bewertung wohl auch noch besser ausgefallen. So bleibe ich ein wenig unbefriedigt zurück und bereue die Lektüre zwar nicht, werde sie aber auch einfach nicht im Gedächtnis behalten.

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Bewertung vom 07.03.2025
No Hard Feelings
Novak, Genevieve

No Hard Feelings


sehr gut

Authentisches Porträt einer Mittzwanzigerin - mit ein paar Schwächen

Grundlegende Message des Buches: Leben und Dating sind anstrengend. Bin ich froh, dass das zumindest letzteres lange keine Rolle mehr in meinem Leben gespielt hat. Das mit dem Leben kann ich aber noch immer nachfühlen. 🥲 
Die Lektüre von „No Hard Feelings“ hatte für mich durchaus ihre Tücken, weil die Selbstzweifel und übersteigerte eigene Abwertung der Protagonistin mir und wohl generell vielen weiblich sozialisierten Menschen bekannt sind. That hit home und war besonders in der ersten Hälfte echt herausfordernd.

Penny hängt in einer toxischen Beziehung mit Max fest, der nicht wirklich etwas Festes will, was sie wiederum aber auch nicht akzeptieren kann. Das ganze Hin und Her zieht sich für mich fast einen Ticken zu lang und wird erst recht spät aufgelöst. Nebenher kommt sie in ihrem Job nicht weiter, wobei auch hier fraglich ist, ob sie das überhaupt möchte. Und spielt sie im Leben ihrer Freundinnen eigentlich überhaupt noch eine Rolle oder entwickeln die sich ohne sie weiter? Zweifel über Zweifel und Penny dreht sich dadurch ziemlich lange um sich selbst, was zwar chaotisch-unterhaltsam, aber auch anstrengend war. Außerdem bedient der Roman einige Stereotype: die zickig-überdrehte Bride-to-be, die extrem karriereorientierte Anwältin oder die tyrannisch-kompetitive Chefin. Auf diese etwas platten Rollen hätte ich lieber verzichtet, zumal ich die Bücher des Verlags vor allem für ihre Progressivität schätze.

Auch das Thema mentale Gesundheit kam mir persönlich etwas zu kurz. Penny befindet sich aufgrund ihrer Depression zwar in Therapie, beendet die Stunde aber voller Frust und mit dem Vorhaben, nie wieder zu kommen. Angeblich hatte sie auch früher schon Therapiesitzungen, was ich aufgrund ihres Verhaltens etwas unglaubwürdig finde. Das meine ich nicht in dem Sinne, dass irgendwer mit psychischen Erkrankungen sich nach einem bestimmten Schema verhalten muss. Aber doch passte es hier für mich nicht ganz und machte Pennys Kreisen um sich selbst streckenweise erdrückend.

Trotz der Kritik habe ich das Buch aber dank des lockeren, humorvollen Schreibstils flüssig lesen können und wurde im letzten Viertel dann auch mit dem Tiefgang belohnt, den ich erwartet hatte. Hier wird auf wenig pathetische Art herausgearbeitet, dass ein Mensch sich nur selbst befreien kann, indem Verantwortung übernommen wird - für das eigene Handeln sowie das Leben im Allgemeinen. Die Lovestory am Rand hätte es für mich persönlich auch nicht gebraucht, zumal es ja eigentlich gerade darum gehen sollte, dass Beziehungen niemensch retten können, aber davon abgesehen finde ich sie sweet geschrieben.

Ein gut lesbares Buch mit ansprechender Alltagskomik, bei dem es mir streckenweise aber leider an Tiefe fehlte, obwohl viel Potenzial da ist. Bestimmt finden sich Menschen Anfang/Mitte Zwanzig in Penny wieder, sodass ihre Struggle auch richtig wohltuend sein können. Für mein ganz persönliches Empfinden hat der Verlag aber deutlich vielschichtigere Bücher im Programm, die für mich echte Highlights waren. Hier vergebe ich trotzdem wohlmeinende 4 Sterne.

Bewertung vom 01.03.2025
Die erste halbe Stunde im Paradies
Adomeit, Janine

Die erste halbe Stunde im Paradies


ausgezeichnet

Ein tolles Werk mit viel Tiefe und Sensibilität zu einem unterrepräsentierten Thema

„Aber die erste halbe Stunde im Paradies - die Zeitspanne, in der niemand etwas von einem will oder braucht und man selbst auch von niemandem etwas will oder braucht und daher nichts wehtun kann -, diese erste halbe Stunde stelle ich mir vor wie Glück.“ ❤️‍🩹

Ich hätte ehrlich gesagt nicht erwartet, dass das Buch so ein Highlight wird. Aber Janine Adomeit hat hier mit sehr klarer, unaufgeregter Sprache ein Werk geschaffen, das ich nicht aus der Hand legen wollte.

Familienromane reizen mich immer besonders und hier haben wir ein herausragendes Exemplar, in dem die Figuren mit ganz viel Tiefe und innerer Ambivalenz überzeugen. Anne ist Pharmavertreterin und möchte sich im nächsten Schritt auf ein Fentanyl-Pflaster für den Palliativbereich fokussieren. Sie ist zielstrebig, analytisch und menschlich eher reserviert. Warum das so ist, wird in sich abwechselnden Zeitebenen geschickt erzählt.

Wir erfahren nämlich von ihrer Vergangenheit als 11-Jährige, in der sie sich gemeinsam mit ihrem gerade erwachsenen Bruder Kai um deren chronisch kranke Mutter kümmern muss. Diese leidet an einer nicht klar benannten, aber sehr klar identifizierbaren degenerativen Erkrankung und kann sich nicht so recht überwinden, Hilfe von außen anzunehmen. Ich finde es bemerkenswert, wie die Autorin hier mit viel Feingefühl die Ambivalenzen dieser Situation herausgearbeitet hat. Denn die kleine Familie bildet eine herzerwärmende, loyale Einheit, die trotzdem nach und nach an ihre Grenzen gerät. Dank des nüchternen, klaren Schreibstils werden die Emotionen auf die Lesenden ausgelagert.

Und Emotionen hatte ich so einige! Ich war wütend auf die Mutter, weil sie ihren Kindern regelrecht trotzig einfach ihre Pflege aufbürdet. Aber ich habe auch zutiefst mitgefühlt mit ihrem Bedürfnis nach Normalität, habe ihre Scham regelrecht greifen können. Auch die Gleichzeitigkeit von Gefühlen bei den beiden Kindern spielt immer wieder eine Rolle - bedingungslose Liebe zueinander trifft hier auf Wut angesichts eigener Freiheitseinschränkungen. Die geteilte Vergangenheit führt schlussendlich dazu, dass Anne Kai nach jahrelangem Kontaktabbruch aus einer Entzugsklinik abholen soll, was in seiner Folge ein echtes moralisches Dilemma auslöst. Denn die Sucht ihres Bruders ist nicht loszulösen von ihrem nächsten Karriereschritt…

Ein absolutes Highlight aus Norddeutschland, das mich mit seiner Sprache und dem Spannungsaufbau durchweg mitgezogen hat. Das Thema der Medikamentenabhängigkeit, das übrigens ca. 3,5 % der deutschen Erwachsenen betrifft, wurde hier mit der nötigen Sensibilität behandelt. Auch der Themenkomplex rund um die Pflege von Angehörigen und wie Familien darunter zerbrechen können, hat hier auf eindringliche Art Raum gefunden. Die Figuren sind liebenswert, greifbar und authentisch, die immer wieder eingebundenen Science-Facts, wie bspw. zur Schmerzregulierung und Wirkung von Analgetika, fand ich einfach klasse. Die Ausführungen zu Annes moralischem Dilemma hätte ich mir am Ende zwar noch etwas ausführlicher gewünscht, grundsätzlich finde ich das offene Ende aber gut gewählt.

Bewertung vom 26.02.2025
Portrait meiner Mutter mit Geistern
Edel, Rabea

Portrait meiner Mutter mit Geistern


sehr gut

Literarisch beeindruckendes Werk über Schweigen, Sprache und ein „Nicht weiter so“

Ich kann diesem Werk unmöglich gerecht werden und bin sehr dankbar dafür, dass ich es im Austausch mit vielen anderen Bookies lesen durfte. Das kann ich vorab schon einmal klar empfehlen - dieser Roman benötigt Reflexion, Austausch und ggf. wiederholtes Lesen.

Rabea Edels Buch ist zeitgeschichtlich unglaublich dicht und arbeitet mit einer eher poetisch-assoziativen Sprache verschiedener Formen, die viel Aufmerksamkeit und Mündigkeit erfordert. Manchmal, vor allem im späteren Handlungsverlauf, fließt die Sprache auch deutlich klarer, aber die Autorin verweigert es oft, eine klare Deutung der Dinge vorzugeben - das müssen die Leser*innen selbst machen. Das Buch fordert damit ein hohes Maß an Konzentration und ich würde ganz klar empfehlen, sich wirklich Zeit zu nehmen und möglichst viel am Stück zu lesen, um die unzähligen Zusammenhänge zu erfassen. Denn die Zeitsprünge mit vielen Figuren und das Viele, das nur angedeutet wird, machen das Lesen zu einer herausfordernden Sache. Doch wer dazu bereit ist, wird mit einem literarischen Meisterinnenwerk belohnt. Edel versteht ihr Handwerk und macht diesen Roman zu einem, den wir in so einer Form wohl nur selten in der Hand haben werden.

Die Handlung kann ich kaum beschreiben, weil sie unfassbar komplex (der netterweise abgedruckte Stammbaum lässt das schon erahnen) und damit auch schwer spoilerfrei zusammenzufassen ist. Primär geht es um weibliches Leben, teilweise in der NS-Zeit, teils jüdisch, teils nicht-jüdisch (wobei auch das nie vollständig geklärt wird). Es geht um die Weitergabe von Traumata und eine Wiederholung von Schicksalen (z. B. toten Erstgeborenen). Der einzige Mann, der wirklich Raum bekommt, ist Jakob - den fand ich sprachlich schwer greifbar und wahrscheinlich ist das gewollt: Er sucht Worte für das, was er nicht greifen kann, für das, was passiert ist und für alles, an das er sich verzweifelt zu erinnern versucht. Ansonsten spielen Männer bzw. Väter eine untergeordnete Rolle, zumal sie oft die Auslöser der Traumata sind, von denen sich die Frauen zu befreien versuchen. Stark fand ich im späteren Verlauf, wie Raisa (die einzige Ich-Erzählerin) sich Klarheit einfordert in Bezug auf Dinge, die vor ihrer Geburt passiert sind. Nur mit Wissen können diese traumatischen Zirkel durchbrochen werden!

Das Buch lebt auch erzählerisch von zahlreichen Parallelen, die sich in verschiedenen Generationen wiederfinden. Und vor allem die weiblichen Figuren sind vielschichtig dargestellt, die meisten Details ihrer Geschichte erfahren wir erst nach und nach, während einige nur so zaghaft und bildhaft angedeutet werden, dass sie der Interpretation der Lesenden überlassen bleiben. Die Geschichte thematisiert das Schweigen innerhalb von Familien, aber ebenso auch Akzeptanz und Verständnis - welches seinerseits von den Leser*innen gefordert wird, denn das meiste im Leben ist schließlich nicht schwarz-weiß. Damit bewegt sich das Buch selbst auf dem schmalen Grat zwischen Akzeptieren und Widerstand gegen erfahrene Ungerechtigkeit.

Das Buch hinterlässt mich mit einer Vielzahl an Gefühlen. Die widerständen Frauen haben mich beeindruckt, ihr Verhalten aber auch fassungslos gemacht. Nicht alles konnte ich verstehen, einiges würde ich sogar verurteilen, aber doch kann ich vieles in seiner Komplexität akzeptieren. Transgenerationale Traumata sind schwer zu begreifen und noch schwerer zu durchbrechen - dies begleiten zu dürfen und das langsame Verstehen am eigenen Leib zu spüren, war ein einzigartiges Erleben. Sprachlich ist es wirklich, wirklich anspruchsvoll und besonders das erste Viertel fand ich ziemlich anstrengend. Komplexe Familiengeschichten finde ich total reizvoll, hier war ich aber fast überreizt. Doch es steckt so viel Stärke in diesem Roman, dass ich mich im weiteren Verlauf überaus gern auf ihn eingelassen habe. Die Leerstellen im Buch konnte ich erstaunlich gut akzeptieren - das spricht auch wieder für das schriftstellerische Talent Edels.

Ein großes Werk, das ich gern auf der Longlist des Buchpreises wiedersehen würde. Für mich hätte es besonders am Anfang und auch manchmal zwischendrin noch etwas zugänglicher sein können, aber das ist Kritik auf sehr hohem Niveau. Viele von uns kennen wohl das Schweigen innerhalb von Familien und ich hoffe, dass dieses Buch hier seinen Beitrag leisten kann, um es zu brechen.

4,5 ⭐️

Bewertung vom 26.02.2025
Super einsam
Weil, Anton

Super einsam


gut

Hatte bis zur Hälfte echtes Potenzial, danach war es mir zu wild

Bis etwa zur Hälfte dieses Buches dachte ich, dass ich ihm mindestens vier Sterne geben würde. Leider hat mich die Handlung in der zweiten Hälfte dann aber doch ziemlich verloren.

Der erste Teil des Buches hat meine Erwartungen noch recht gut erfüllt. Ich habe erwartet, dass es ein Roman ist über meine Generation und die Probleme, welche Menschen dieser Generation umtreiben. Von Fragen zur eigenen Identität und Sexualität über die Trauer aufgrund einer zerbrochenen Beziehung bis hin zu einem Gefühl allgemeiner Einsamkeit in einem Leben in der Großstadt, ergänzt um eine gesellschaftspolitische Kritik rund um Wohnraumknappheit, Leistungszwang und Kapitalismus. Die kurzen Kapitel lassen sich überwiegend gut lesen und einige von ihnen haben mich emotional wirklich packen können.

Anton Weil hat einen ganz bestimmten Ton, der schwer zu greifen ist, mich zu Beginn aber für sich eingenommen hat. Ich fand mich vor allem in der ersten Hälfte auf eine rauschhafte Art in Vitos Kopf wieder. Die Geschichte überzeugt mit einem angenehmen Alltagshumor und einer gewissen Situationskomik - ob in den Gespräche in der Eckkneipe, in welcher man der Besitzerin das eigene Herz ausschüttet oder bei frustrierenden Fahrten mit der Deutschen Bahn, die von absurden Verspätungen geprägt sind.

Doch spätestens ab der Hälfte war mir Vitos Abdriften in seine Träume/Fantasien einfach zu wild. Es geht in diesem zweiten Teil der Geschichte vor allem darum, der eigenen Einsamkeit zu entfliehen, was hier konkret über die Verbindung zur verstorbenen Mutter passieren soll. Auch sucht Vito Verbundenheit zu fremden Menschen, mit denen er Sex hat oder sich vorstellt zu haben, doch wenig überraschend füllt das seine Leere nicht. Gerne hätte ich Vito noch länger bei dieser Suche begleitet, doch dafür war es mir vor allem zum Ende hin zu fragmentarisch und wenig emotional greifbar.

Ich kann persönlich auch einfach gar nichts anfangen mit Alkoholrausch, heftigem Trinken und Drogenkonsum allgemein. Das hat mich in seiner Intensität ziemlich gestört und auch mit Vito als zunehmend unzuverlässigem Erzähler konnte ich irgendwann wenig anfangen. Die Verwirrung der Geschichte ist sicherlich so beabsichtigt, doch mit meinen Erwartungen an das Buch und auch mit meinen Erfahrungen aus der ersten Hälfte war ich angesichts der sehr wilden, abgedrifteten Handlung dann einfach lost und konnte mich selbst nicht mehr mit der Geschichte identifizieren.

So bleibt es für mich leider nur ein durchschnittliches Leseerlebnis. Ich könnte mir vorstellen, dass Menschen, die sich gerne von Geschichten mitreißen lassen und auch kein Problem damit haben, dass Realität und Fantasie sehr stark miteinander verschwimmen, hier eine gute Lektüre finden. Die „wilde Irrfahrt durch die Psyche einer ganzen Generation“, die auf dem Cover versprochen wird, habe ich dann vor allem in der zweiten Hälfte leider nicht mehr wahrgenommen, obwohl meine Hoffnungen dahingehend nach dem ersten Teil durchaus hoch waren. Ich bleibe also etwas ernüchtert zurück und gebe diesem Buch drei Sterne.

Bewertung vom 18.02.2025
Es geht mir gut
Anthony, Jessica

Es geht mir gut


weniger gut

Große Hoffnungen, die leider nicht annähernd erfüllt wurden

Fast immer habe ich mit dem Kein&Aber Verlag gute Lesestunden, dieses Mal wollte es aber irgendwie nicht sein. Vielschichtige, ambivalente Beziehungsporträts sind eigentlich genau mein Ding und deshalb habe ich auch große Hoffnungen in dieses Buch gesteckt. Und beim Lesen der überwiegend guten Rezensionen frage ich mich auch ehrlich, was genau nicht gepasst hat.

Ich denke, zum einen stößt mich irgendwie das Flair der 1950er ab. Meine Abneigung ist schwer zu greifen und ich meine das auch nicht abwertend dieser Zeit gegenüber, aber irgendetwas hindert mich an einem echten Hineinfallen in die Geschichte. Dabei muss aber klar gesagt werden, dass das eine individuelle Präferenz ist und das Setting hier meiner Einschätzung nach wirklich sehr präzise gezeichnet wurde. Die Erzählweise wirkte auf mich fast wie eine Art Kammerspiel, obwohl natürlich viel mit Rückblenden und auch verschiedenen Orten gespielt wird. Das ist nie wirklich klar gekennzeichnet und erfordert beim Lesen ein gutes Maß an Konzentration, um zwischen den verschiedenen Zeitebenen und Erzählperspektiven nicht verloren zu gehen.

Vor allem auf Figurenebene hat es einfach nicht geklappt mit mir, Kathleen und Virgil. Beide fand ich irgendwie grundlegend unsympathisch und - für mich viel gravierender - emotional wenig greifbar. Die Autorin schreibt einerseits extrem nah an den Figuren und ich fand die Gedanken beider durchaus spannend. Doch trotzdem blieb ich die meiste Zeit lang emotional distanziert. Virgils Verzweiflung besonders am Ende war dagegen eindrücklich beschrieben, aber da war ich in meinem Urteil wahrscheinlich schon zu gefestigt. Im Gegensatz zu ihm hatte Kathleen eindeutig die spannendere Geschichte und phasenweise bin ich ihren Erinnerungen an die frühere Liebe sowie ihrer Tennis-Karriere gern gefolgt. Doch auch an dieser Stelle fehlten mir so oft die Emotionen. Ist sie wütend, verzweifelt oder motiviert, etwas zu verändern? Ich kann es einfach nicht sagen und obwohl die Geschichte als Rebellion angekündigt wurde, war sie für mich vor allem von Lethargie geprägt. Das einzig Rebellierende war für mich Kathleens Ignoranz gegenüber dem Gaffen der Nachbar*innen und dem Insistieren ihres Mannes, während sie im Pool verweilt. Weitere zukünftige Rebellion innerhalb ihrer Ehe wird am Ende zwar angedeutet, aber meiner Meinung nach erneut recht leidenschaftslos transportiert.

Ich bleibe wirklich aufrichtig traurig zurück, denn ich hätte die Geschichte gern gemocht. Vielleicht ist genau die lethargische, frustrierte Stimmung das, was das Buch erreichen möchte. Und einige Gedankengänge lassen sich frustrierenderweise recht genau auf die Gegenwart übertragen (Schönheitsideale, Mutterschaft, Geschlechterrollen). Doch ingesamt konnte ich einfach zu wenig mitnehmen.

Bewertung vom 18.02.2025
Wenn wir lächeln
Unterlehberg, Mascha

Wenn wir lächeln


gut

Ein Wutrausch in Buchform, von dem ich mir mehr Tiefe gewünscht hätte

Ich habe große Hoffnungen in das Debüt von Mascha Unterlehberg gesetzt, weil ich Geschichten über wütende Frauen sehr gern lese. Mir persönlich ist es dann aber wichtig, dass ich emotional auch darüber hinaus von den Figuren mitgenommen werden. Nicht zwangsläufig muss für mich die Wut am Ende verpuffen, ich kann ihre Anwesenheit auch nach der Lektüre noch gut aushalten. Aber hier hat es für mich auf Figurenebene nicht ganz gepasst.

Doch erst einmal zum Positiven: Der Roman hat mich durch seine innovative Schreibweise und die kurzen Kapitel schnell in sich aufgenommen. Der Schreibstil ist bissig, rau, getrieben und kommt ohne direkte Rede aus. Das ist zwar üblicherweise nicht ganz meins, hier konnte ich aber ingesamt gut damit leben. Jara erzählt fragmentarisch, aber auch irgendwie rauschhaft, was meiner Meinung nach sehr gut zur Wut beider Protagonistinnen passt. Gleichzeitig verschwimmen auf Erzählebene Realität, Erinnerung und Fiktion immer wieder miteinander. Das fand ich gewöhnungsbedürftig, aber nicht schlecht. Nicht immer wird klar, was genau nun Realität und was Fantasie ist. Rein literarisch erfordert der Roman also auf jeden Fall Einiges an Konzentration beim Lesen, obwohl er paradoxerweise geradezu zum schnellen Lesen verleitet.

Die zwei Mädchen im Fokus sind sehr verschieden und reiben sich darüber auch wiederholt aneinander, teilen jedoch eine tiefe Wut - primär eine Wut auf misogyne Strukturen und Männer, die sich nehmen, was sie wollen. Die Beziehung der beiden bewegt sich immer wieder hin und her zwischen Gemeinschaft (teilweise durchaus einer gefährlichen) und Auseinanderdriften aufgrund ihrer Unterschiede und gegenseitiger Missverständnisse.

Warum konnte mich der Roman aber nun doch nicht so begeistern, wie ich es erwartet habe? Zum einen hatte ich ein Problem mit Jaras Gewaltfantasien, in denen sie sich zwischendrin immer wieder verliert. Ob nachvollziehbar oder nicht, an der Stelle bin ich einfach eher sensibel. Und zum anderen konnte ich weder Jara noch Anto so richtig emotional greifen. Ihre Wut habe ich gespürt und sie hat mich auch in ihren Bann gezogen, so weh tat diese Realität beim Lesen. Abgesehen davon gab es für mich aber nicht so richtig viel und auch die Beziehung der beiden habe ich bis zum Ende nicht wirklich verstanden. Es blieben mir dann schlussendlich doch zu viele Leerstellen.

Ich sehe in der Autorin aber großes Potenzial und wäre auch für ihre Folgeromane offen. Ihr Debüt verstehe ich eher als eine Facette des Aufwachsens als weiblich sozialisierter Mensch. Wer Lust hat auf ein stark von Wut getriebenes Buch mit hohem Tempo und offen ist für literarische Innovation, wird hier auf jeden Fall fündig. Damit ich persönlich mich nachhaltiger an ihn erinnere, hätte der Text auf Figurenebene noch facettenreicher und konkreter sein müssen.

3,5 ⭐️