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Benutzername: 
violettera
Wohnort: 
Stuttgart

Bewertungen

Insgesamt 50 Bewertungen
Bewertung vom 04.11.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


sehr gut

Verstörende Erlebnisse
In kurzen Sequenzen erzählt Alex Schulmann Geschichten einer Kleinfamilie über drei Generationen. In Zeitsprüngen, vor und zurück, erkennen wir allmählich die Struktur der Familie, erst Vater, Mutter und zwei Töchter; Vater und jüngere Tochter; Vater, Mutter und Tochter der nächsten Generation; auch dort schließlich Vater und Tochter. Alle fahren sie irgendwann zur Endstation Malma, und erst spät verstehen wir die Zusammenhänge. Durchgängig herrscht eine beklemmende, teils verstörende Stimmung. Schmerzhafte Erlebnisse prägen die Protagonisten, besonders die Töchter und ihre Väter. Vieles bleibt zwischen ihnen unausgesprochen, quält sie im Verborgenen. Die Kommunikation ist gestört. Die Töchter erleben den Verlust der Mutter, in der Folge Angst, Gefühlskälte, Einsamkeit. Das prägt sie für ihr Leben.
Bedeutungsgeladene Motive ziehen sich durch den Roman, wie die Zugfahrt und ihr düsteres Ende, Fotografien, der einsame Adler als Lieblingsmotiv des fotografierenden Vaters, das Reinigen und Ordnen der Objektive, das grausame Schicksal eines geliebten Haustiers. Der Roman bleibt spannend bis zum Ende. Er ist meisterhaft erzählt, aber schwer zu verdauen.

Bewertung vom 15.10.2023
Memoria
Beck, Zoë

Memoria


sehr gut

Beklemmendes Szenario
Der Roman spielt in einer leider nicht so fernen deutschen Zukunft: In den Städten herrscht große Hitze, im ganzen Land wüten Flächenbrände, die Kluft zwischen arm und reich ist extrem, viele Menschen leben in Armut, wohnen z.B. in aufgegebenen Bürotürmen, kämpfen um Wasser, Energie und Lebensmittel, während sich die Reichen abschotten und von Securityfirmen bewachen lassen. Brände spielen in der Story eine wichtige Rolle. Harriet, eine junge Frau, die in Frankfurt am unteren Rand der Gesellschaft lebt, hat lückenhafte bzw. fehlende und offenbar falsche Erinnerungen, erlebt Unerklärliches, stößt auf Widersprüche, will ihre Erinnerungslücken füllen. Wen soll sie fragen? Die Mutter ist tot, der Vater dement, Freunde hat sie nicht. Alpträume quälen sie mit immer gleichen oder ähnlichen Bildern, oder sind es Erinnerungen? Warum passt nichts zusammen, wo ist der Schlüssel zu ihrer Vergangenheit? Harriet macht sich auf nach München, den Ort ihrer behüteten Kindheit als Tochter wohlhabender Eltern, den die Familie überstürzt verlassen hatte. Wir erleben eine rasante, teils sehr konstruierte Story, immer wieder überraschende Entwicklungen, Spannung bis zum Schluss. Sprachlich ambitioniert und mit lebendigen Schilderungen führt uns die Autorin nach einem sehr spannenden Einstieg hinein in die beklemmende Gegenwart einer Zukunft, in der nicht einmal mehr auf eigene Erinnerungen Verlass ist.

Bewertung vom 27.08.2023
Hinter der Hecke die Welt
Molinari, Gianna

Hinter der Hecke die Welt


gut

Endzeitstimmung
Die beiden Kinder Pina und Lobo sind die einzige Hoffnung eines halb verlassenen Dorfes auf eine Zukunft. Nur leider wachsen die Kinder nicht mehr. Einzig die Hecke am Dorfrand scheint noch zu wachsen. Pinas Mutter Dora arbeitet weit entfernt auf einem Forschungsschiff in der Arktis, dokumentiert dort das langsame Verschwinden des Eises. Viel passiert dort nicht, genau wie im Dorf, und davon erzählt das Buch. Auch von den Sehnsüchten, Wünschen und Träumen der Protagonisten, und von ihren Ängsten. Die Angst vor dem Verschwinden dominiert, sowohl im Dorf als auch in der Arktis, wo eine gigantische Klimakatastrophe in Gang kommt. Die Sprache ist eher dem Duktus der Kindersprache angepasst, wie ein Kinderbuch, die Sätze sind kurz, die Kapitel ebenso. Bedrohliche Entwicklungen lassen sich auch so darstellen. Ein gleichermaßen poetisches wie verstörendes Buch.

Bewertung vom 23.08.2023
Diese paar Minuten
Habringer, Rudolf

Diese paar Minuten


ausgezeichnet

Alltagsgeschichten mit Tiefgang
Zwölf Erzählungen, kurze Episoden aus dem Leben von Menschen, die auf den ersten Blick nur eines gemeinsam haben, ihren Lebensraum im Donauhügelland. Wie beiläufig erzählen die Protagonisten uns, sich selbst, Freunden oder Bekannten Begebenheiten aus ihrem Alltag, in einer stark verdichteten, knappen und doch anschaulichen Sprache. Was so beiläufig daherkommt, lässt oft genug den Atem stocken. Hier offenbaren sich menschliche Abgründe, Betrügereien aller Art bis hin zu Morden. Rache und Eifersucht, Ehebruch und Unfallflucht, vielfache Schuld und düstere Geheimnisse durchziehen diese Geschichten. Ein starkes Gefühl der Aussichtslosigkeit verbirgt sich unter der harmlos scheinenden Oberfläche. Immer wieder deuten sich bei der Lektüre Verbindungen zwischen den Personen an, die diesen oft nicht einmal bewusst sind. Man kennt einander im Dorf, aus der Schule, den Vereinen, der Nachbarschaft und dem Beruf. Aber kennen die Menschen sich selbst? Welche Rolle spielt der Zufall im Leben? Vieles bleibt im Dunkeln. Und gerade darum sind diese kurzen Geschichten nicht nur spannender als manch ein Roman, sie bleiben auch haften. Sehr lesenswert!

Bewertung vom 12.08.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


sehr gut

Spurensuche
Simone war eine auffallend schöne junge Frau voller Erlebnishunger, aufgewachsen in Ostberlin zu DDR-Zeiten als privilegierte Arzttochter. Sie war zwanzig, als die DDR mit dem Fall der Mauer zusammenbrach, und mit dem Staat viele Regeln und Gewissheiten, die bis dahin ihr Leben bestimmt hatten, aber auch Halt gaben. Sie wurde in eine Freiheit entlassen, die sie intensiv nutzte. Sieben Jahre später sprang sie in den Tod, immer noch Studentin und ohne feste Bindung. Einen Tag zuvor und noch einmal am Todestag hatte sie ihre fast gleichaltrige Freundin Anja angerufen und um einen Besuch gebeten, aber Anja hatte keine Zeit. Der Schock über Simones Selbstmord saß tief. Jahrzehnte später erst macht sich die Journalistin Anja Reich an die Recherche, um sich mit ihren Schuldgefühlen auseinanderzusetzen und herauszufinden, was Simone in den Tod getrieben hatte. In bester Journalistenmanier recherchiert sie Simones Familiengeschichte, ihre Herkunft und Prägung, frühkindliche Erlebnisse, die Erwartungen der Eltern, die enge Bindung an den Bruder, Freundschaften und Liebschaften, ihr bewegtes Leben nach dem Fall der Mauer, erzählt auch die Geschichte ihrer Freundschaft. Sie nimmt die Leser mit zu vielen Gesprächen, lässt sie an Simones Aufzeichnungen teilhaben, auch an ihren eigenen Fragen. Psychologen und Wissenschaftler kommen zu Wort. Das Buch ist streckenweise spannend wie ein Roman, geschrieben in klarer, schnörkelloser Sprache. Viel Stoff zum Nachdenken, sehr lesenswert!

Bewertung vom 27.07.2023
Sekunden der Gnade
Lehane, Dennis

Sekunden der Gnade


sehr gut

Harte Kost, spannend verpackt
Boston 1974, ein heißer Sommer, auch politisch aufgeladen vom Rassenkonflikt. Im Mittelpunkt stehen die alleinerziehende Mutter Mary Pat Fennessy und das einzige ihr verbliebene Kind, Jules, eine hübsche 17-Jährige, die im letzten Schuljahr noch die Schule wechseln soll. Künftig sollen weiße und schwarze Kinder in den öffentlichen Schulen gemischt unterrichtet werden, also müssen viele ihre Schule wechseln und sollen mit Bussen dorthin befördert werden. Mutter und Tochter sind weiß, aber arm, leben in ziemlich heruntergekommen Verhältnissen, in einem Viertel mit lauter Menschen irischer Abstammung. Alkohol, Rauchen und Drogen gehören zum Alltag, Kriminalität und Gewalt sind an der Tagesordnung. Und nun auch noch Demos, Krawalle. Ein junger Schwarzer stirbt unter ungeklärten Umständen. Aber im Viertel gibt es auch Zusammenhalt und ungeschriebene Gesetze des Zusammenlebens. Da verschwindet Jules. Mary Pat hat schon ihren Sohn verloren, gestorben an einer Überdosis Drogen. Sie will ihre Tochter unbedingt finden. Bei ihrer Suche stößt sie auf unglaubliche Machenschaften. Was sie antreibt und am Leben erhält sind Wut und Zorn, Hass und der Wunsch nach Rache.
In starker, knapper Sprache, oft in wörtlicher Rede, spitzt sich die Story um das Thema Rassismus und Gewalt zu. Man ist mittendrin, nach wenigen Seiten. Große Spannung, in jeder Hinsicht.

Bewertung vom 14.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

Totgeschwiegene Kinder kann man nicht vergessen
Das Cover ist abstrakt und wunderschön, auch geheimnisvoll. Puzzleartige Teile einer Lilie sind zu sehen, bruchstückhaft wie die Erinnerungen der Ich-Erzählerin Frieda, einer ehemaligen Blumenverkäuferin, deren Lebensgeschichte sich im Laufe des Romans entfaltet.
Sie ist inzwischen eine alte, hinfällige Frau, die von ihrem geliebten Mann zu Hause gepflegt wurde, bis dieser völlig überraschend starb. Einst war sie stark, eigenwillig, manchmal auch bockig. Nun ist sie allein und entwurzelt, schwach und sehr traurig. Sie wurde von ihrem Sohn in einem Pflegeheim untergebracht, hat keine Perspektive mehr. Das Bild der blassen Füße ihres Mannes, die unter der Decke der Krankentrage, mit der man ihn wegbrachte, herausragten, lässt sie nicht los und weckt schließlich alte Erinnerungen. Sehr gemächlich, dem Thema angemessen, lässt der Autor sie von ihrem Elend erzählen, bis lange verdrängte Erinnerungen in ihr aufsteigen und überraschend lebendig werden. Sie fügen sich im Laufe der Erzählung zu einer sehr berührenden Geschichte, voll einprägsamer Bilder aus der Zeit ihrer ersten großen Liebe zu einem verheirateten Mann, die zu einer ungewollten Schwangerschaft führte. Das war in den frühen Sechzigerjahren skandalös und nahm ein tragisches Ende. Die Erinnerungen geben Frieda nun endlich die Kraft nachzuforschen und sich zu ihrem Schicksal zu bekennen.
Friedas Geschichte ist sehr einfühlsam erzählt, vermittelt aber ein gesellschaftliches Thema, das jahrzehntelang tabuisiert und von den Betroffenen verdrängt wurde. Was geschah mit den totgeschwiegenen Kindern? Wie konnten die Mütter mit ihren traumatischen Erinnerungen weiterleben? Wie haben verdrängte Verletzungen ihr Leben beeinflusst?
Dem Sog dieses Buches kann sich wohl niemand entziehen.

Bewertung vom 20.05.2023
Die Sache mit dem Wald
Herzog, Sven

Die Sache mit dem Wald


ausgezeichnet

Ökosystem Wald - ein Sachbuch im besten Sinne
Für alle, denen das Wohl unserer Wälder am Herzen liegt, ist dieses Buch eine wertvolle Hilfe. Sven Herzog, ein hoch kompetenter Forst-Wissenschaftler, schreibt ein Sachbuch im besten Sinne, wissenschaftlich fundiert, klar gegliedert, gut verständlich und angenehm zu lesen. Er beleuchtet zahlreiche Aspekte zum komplexen Ökosystem Wald, die in der oft sehr ideologisch und emotional belasteten Debatte um die Zukunft unserer Wälder ausgeblendet oder verzerrt dargestellt werden. Er stellt sehr anschaulich die geschichtliche Entwicklung unserer Wälder dar und beschreibt die verschiedenen, oft widersprüchlichen Anforderungen und Kriterien ökonomischer, ökologischer und sozio-kultureller Art, denen der Wald genügen soll. Er erläutert die aktuellen Gefahren für den Wald, seine Rolle im Klimawandel und zeigt Lösungsansätze auf. So können sich die Leser selbst ein Bild machen von der aktuellen Problematik und möglichen Konzepten zum Schutz des Ökosystems Wald. Klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 06.03.2023
Wir hätten uns alles gesagt
Hermann, Judith

Wir hätten uns alles gesagt


ausgezeichnet

Gänsehaut-Buch
Frankfurter Poetikvorlesungen, Vom Schreiben über das Schreiben, das könnte staubtrocken sein, aber nicht bei Judith Hermann. Flüssig und einfühlsam, oft tief berührend schreibt sie über ihr Leben und ihre Beziehungen, dazu über vieles, was sie beim Schreiben verschwiegen hat. Das Verschweigen ist für sie ein großes Thema, das zum Schreiben gehört wie zum Leben. Auch das Versäumnis gehört zum Leben, und wir erfahren manches dazu. Die Erzählungen aus ihrer Kindheit, die Abgründe in ihrer Familie, die Geheimnisse ihrer Großeltern und Eltern, davon zu lesen verursacht Gänsehaut. Auch wie die Heranwachsende sich von ihrer Familie zu befreien versucht und neue Beziehungen knüpft, die zu neuen Irrwegen und Versäumnissen führen, wie alles mit allem zusammenhängt und in der Summe ein Leben formt, all das beschreibt die Autorin mit erstaunlicher Klarheit. Dieses Buch ist ein poetischer Versuch, die Zusammenhänge und die Unterschiede zwischen Leben, Träumen und Schreiben auszuloten, mit offenem Ergebnis und wunderbar zu lesen.

Bewertung vom 22.02.2023
Dschomba
Peschka, Karin

Dschomba


ausgezeichnet

Fremdsein und Heimat
Was sucht der Fremde in Eferding? Warum tanzt der Serbe Dragan Dzomba kurz nach seiner Ankunft im November 1954 halbnackt auf dem Friedhof? Dieses unerhörte Ereignis im beschaulichen Eferding steht am Anfang des Romans und sorgt für gehörige Spannung, im Städtchen wie bei den Lesern. Die weiteren Ereignisse breitet die Autorin eher gemächlich vor uns aus, immer in ihrem eigenartigen Sprachfluss, der offenbar an den Dialekt der Gegend angelehnt ist und für ein ganz eigenes Kolorit sorgt. Viele Sätze bleiben halb fertig, wie die Geschichten, die sie erzählen. Der Roman entwickelt sich im Wesentlichen, mit einigen Rückblenden, auf zwei Zeitebenen, zum einen nach der Ankunft des Serben und seiner Aufnahme in Eferding, zum andern rund 25 Jahre später, als die zehnjährige Wirtstochter sich von dem immer noch Fremden, von den Einheimischen Dschomba genannten, angezogen fühlt und beginnt Fragen zu stellen. Was hat es auf sich mit dem sogenannten Serbenfriedhof, wo Dschomba in einer Holzhütte wohnt? Allmählich fügt sich vieles zu einer Geschichte mit mancherlei Facetten, doch vieles bleibt auch offen und lässt Raum für die Phantasie der Leser. Es ist nicht alles so, wie es anfangs scheint, auch die handelnden Personen entwickeln sich oft anders, als man zunächst meint. Die Vielschichtigkeit der Erzählung, das Mehrdeutige und Melancholische machen einen großen Reiz dieses Romans aus. Fazit: sehr lesenswert.