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SimoneF

Bewertungen

Insgesamt 528 Bewertungen
Bewertung vom 27.07.2023
Kontur eines Lebens
Robben, Jaap

Kontur eines Lebens


ausgezeichnet

"Kontur eines Lebens" von Jaap Robben hat mich emotional sehr aufgewühlt. Was Frieda in den 60er Jahren durchmachen musste, als sie unverheiratet und ungewollt schwanger wurde, hat mich beim Lesen fassungslos gemacht, wütend und traurig. Zugleich war ich tief beeindruckt von ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut.

Jaap Robben erzählt in zwei Handlungssträngen.  Der erste spielt in der Gegenwart der inzwischen 81-jährigen Frieda, und der zweite lässt Frieda auf ihr Leben als junges Mädchen in den 60er Jahren zurückblicken. Beide Frauen sind glaubhaft und detailliert gezeichnet, die Gebrechen des Alters und das Verschwinden in den Erinnerungen an frühere Zeiten ebenso wie die Lebenslust und die schmerzvollen Erlebnisse der jungen Frau. Durch Trauer und Verlust, die Frieda im Alter erlebt, wird lange Verdrängtes aus Friedas Jugend wieder lebendig, und sie stellt sich ihren Gefühlen. Je mehr man über die junge Frieda erfährt, desto besser versteht man als Leser*in auch die ältere Frieda.

Bemerkenswert finde ich, dass dieses Buch, das aus der weiblichen Ich-Perspektive Friedas Erlebnisse, Gedanken und Gefühle schildert, auch rund um eine Schwangerschaft und Geburt, von einem Mann verfasst wurde. Jaap Robben gelingt es hervorragend, Friedas Seelenleben und ihre körperlichen Empfindungen zu beschreiben, und man spürt, dass er hier sorgfältig recherchiert hat und fachlich beraten wurde (im Nachwort erwähnt er u.a. eine Gynäkologin und eine Geburtshelferin).

Dieses Buch ist alles andere als einfach zu verdauen, aber ungemein wichtig, um zu zeigen, wie Frauen noch vor gerade einmal 60 Jahren stigmatisiert, geächtet und ausgegrenzt wurden, wenn sie ohne Trauschein schwanger wurden. Es drohte der komplette soziale Abstieg, der Verlust von gesellschaftlicher Stellung, Wohnung, Arbeit, Familie,  Freundeskreis. Auch die Rolle der katholischen Kirche ist alles andere als rühmlich, und von Barmherzigkeit und Nächstenliebe ist wenig zu spüren.

Dieses Buch hat mich richtig gefesselt, ich habe mit Frieda gelitten, getrauert und mitgefiebert. Es wird mir sicher noch sehr lange in Erinnerung bleiben, und ich möchte es von ganzem Herzen weiterempfehlen.

Bewertung vom 27.07.2023
Kater Chaos - Au Backe, ein Hamster!
Reider, Katja

Kater Chaos - Au Backe, ein Hamster!


ausgezeichnet

In "Kater Chaos - Au Backe, ein Hamster" von Katja Reidle erzählt der aufgeweckte Kater Pommes vom Leben mit seiner Menschenfamilie, die aus den Eltern Julia und Moritz und den Kindern Pauline und Jonah besteht. Eines Tages bekommt die Familie Zuwachs: Der Hamster Mimi zieht ein und Pommes ist davon alles andere als begeistert. Doch er und Mimi werden schnell Freunde, und wenn es um darum geht, "ihren" Menschen zur Seite zu stehen,  halten die beiden fest zusammen. Ob ein Besuch von Paulines verwöhnter Freundin, Papas Männerabend, Jonas vergeigter Mathetest, ein drohender Streit oder Jonahs Gruselparty - die beiden sind immer für eine Überraschung gut.

Das Buch enthält viele schöne, durchgehend farbige Illustrationen von Alexandra Helm, die den Text auflockern und auch kleine Lesemuffel bei der Stange halten. Auch die Einteilung in 10 jeweils abgeschlossene Kapitel ist für Leseanfänger ab der zweiten Klasse ideal. Für jüngere Kinder ab ca. 4 Jahren eignet sich das Buch wunderbar zum Vorlesen.

Wer Lust auf ein kurzweiliges Buch über zwei sympathische und gewitzte Haustiere hat, das nette und unterhaltsame Geschichten aus dem Familienalltag bietet, ist hier genau richtig!

Bewertung vom 23.07.2023
Weißtannenhöhe
Weiglein, Christof

Weißtannenhöhe


ausgezeichnet

"Weißtannenhöhe" von Christof Weiglein ist ein Kriminalroman, der durch einen realen Fall aus dem Jahr 1928 inspiriert ist, bei dem zwei Frauen auf der Weißtannenhöhe ermordet wurden. Der echte Fall wurde nie aufgeklärt. Ausgehend von den öffentlich zugänglichen Akten inklusive Vernehmungsprotokollen etc. entwirft Weiglein eine fiktive Geschichte, die hoch spannend ist und auch ein Bild der damaligen gesellschaftlichen und politischen Situation zeigt. Die Niederlage im 1. Weltkrieg ist noch präsent, die Weimarer Republik steht auf wackeligen Füßen, nationalistische Kräfte erstarken und nähren die Dolchstoßlegende, Antisemitismus breitet sich immer weiter aus. Die angespannte, von drohendem Unheil kündende Atmosphäre wird im Buch sehr gut deutlich. Auch die damaligen Ermittlungsmethoden sind interessant und rufen aus heutiger Sicht teilweise Kopfschütteln hervor, so wurden doch damals tatsächlich auch Hellseherinnen zu Rate gezogen! DNA-Abgleiche waren noch in weiter Ferne und die moderne Kriminalistik steckte noch in den Kinderschuhen. Auch das heute undenkbare Lehrerinnenzölibat wird thematisiert. Wie diese zeitgeschichtlichen Aspekte aufgegriffen wurden, fand ich besonders gelungen. Ich konnte richtig in die damalige Zeit eintauchen. Die Charaktere der Ermittler sind interessant, wenn auch bisweilen etwas eindimensional. Die Geschichte bleibt bis zum Schluß spannend und sehr unterhaltsam.

Besonders gut gefiel gefiel mir, dass Weiglein im Nachwort ausführlich auf seine Recherche eingeht und darlegt, welche Anteile des Romans der Realität entsprechen. Sehr praktisch ist, dass im Text des Ebooks die Namen der Figuren mit Links zum Personenregister hinterlegt wurden, so dass man unkompliziert nachschlagen und wieder an die richtige Textstelle zurückspringen kann. Das finde ich besonders lobenswert, da von dieser Möglichkeit noch viel zu wenig Verlage Gebrauch machen.

Insgesamt ein wirklich spannender, sehr kurzweiliger Krimi, der die Weimarer Reublik in Baden lebendig werden lässt. Ich kannte den Autor bisher nicht und werde definitiv noch weitere Bücher von ihm lesen.

Bewertung vom 23.07.2023
Der ewige Brunnen

Der ewige Brunnen


ausgezeichnet

Da ich mich seit meiner Schulzeit für Lyrik interessiere, war ich sehr gespannt auf die Neuausgabe von "Der ewige Brunnen". Die erste Ausgabe erschien 1955, und nach einer ersten Überarbeitung 2005 erfolgte nun durch Dirk von Petersdorff eine grundlegende Neubearbeitung, infolge derer auch einzelne moderne Songtexte und deutlich mehr Gedichte von Frauen aufgenommen wurden.

Mit über 1200 Seiten ist ein stattliches Buch entstanden, das eine einzigartige Sammlung an Lyrik enthält. Die Gedichte sind thematisch geordnet. Im Anhang befinden sich eine alphabetische Liste der Gedichttitel und -anfänge sowie eine Autor*innenliste, sodass ein bestimmtes Gedicht oder alle enthaltenen Gedichte eines Dichters bzw. einer Dichterin schnell gefunden werden können. Das finde ich besonders praktisch. Die Idee, auch einige neuere Liedtexte mit aufzunehmen, etwa von Herbert Grönemeyer, Tocotronic oder Wir sind Helden, gefällt mir sehr gut, denn letztendlich ist der Übergang zur Dichtung fließend, und auch Bob Dylan erhielt vor wenigen Jahren den Nobelpreis für Literatur. Von Petersdorff hat einige weniger bekannte Werke großer Dichter*innen mit aufgenommen, dafür fehlen mir leider manche meiner Lieblingsgedichte wie "Blauer Abend in Berlin" von Loerke, "Fragen eines lesenden Arbeiters" und "Mein Bruder war ein Flieger" von Brecht, "Gorm Grymme" von Theodor Fontane und "Ein grünes Blatt" von Theodor Storm. Aber jeder Sammlung kann nur eine Auswahl sein, und die Neuausgabe von "Der ewige Brunnen" ist eine sehr schöne Lyriksammlung, die in der Gegenwart angekommen ist und in keinem Bücherregal fehlen sollte.

Bewertung vom 23.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

Doris Knecht hat mich mit "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" sehr berührt. Wie der Titel bereits anklingen lässt, liest sich der Roman wie eine Bestandsaufnahme der ersten Lebenshälfte, die so differenziert beobachtet, vielschichtig und klug erzählt ist, dass ich das Buch wirklich verschlungen habe. Mit klarem Blick und wunderbar feinem österreichischen Humor stellt sich die Protagonistin mit Mitte 50 den Veränderungen, die mit dem Auszug der Kinder anstehen, und lässt ihre Lebensentscheidungen im  Lichte eigener Hoffnungen und Träume, elterlicher  Erwartungen und im Vergleich mit den Lebensentwürfen der Schwestern Revue passieren. Hierbei ist sie sich dessen bewusst, wie trügerisch  Erinnerungen sein können, und auch, dass in dieser Unschärfe gleichzeitig eine Chance liegt.

Ich habe mich der Protagonistin sehr nahe gefühlt, und an vielen Stellen hat sie mir einfach aus der Seele gesprochen. Ich kann das Buch nur nachdrücklich weiterempfehlen!

Bewertung vom 23.07.2023
Mord auf der Insel Gokumon / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.2
Yokomizo, Seishi

Mord auf der Insel Gokumon / Kosuke Kindaichi ermittelt Bd.2


gut

Mit "Mord auf der Insel Gokumon" erscheint nach "Die rätselhaften Honjin-Morde" der zweite Band um den Privatdetektiv Kosuke Kindaichi des japanischen Autors Seishi Yokomizo erstmals auf Deutsch. Yokomizo verstarb bereits 1981, und die japanische Erstausgabe des Bandes erschien 1971.

Ich kenne den ersten Band nicht, doch da die Fälle in sich abgeschlossen sind, ist es problemlos möglich,  mit Band 2 einzusteigen.

Die leicht altertümliche Erzählweise und der aufwendig konstruierte Fall erinnern mich etwas an Agatha Christie und Arthur Conan Doyle. Doch während bei Poirot und Sherlock Holmes meist ein Ich-Erzähler zu Wort kommt und sich die Geschichten sehr vergnüglich lesen, verwendet Yokomizo eine auktoriale Perspektive. Zusammen mit seinem recht spröden Sprachstil bewirkte dies, dass ich zu allen Charakteren auf Distanz blieb und auch mit Konsuke Kindaichi nicht richtig warm wurde. Die meisten Figuren waren mir sehr unsympathisch, so dass ich nicht mit ihnen mitfühlen und tief in die Geschichte eintauchen konnte. Die Lösung des Falles erschien mir sehr abstrus und weit hergeholt, und es bleiben bei näherer Betrachtung Ungereimtheiten. Dass mir die Motive sehr abwegig erscheinen, liegt möglicherweise auch daran, dass ich mit der japanischen Kultur nicht vertraut bin.

Hilfreich war diesbezüglich der Anhang, in dem die wichtigsten japanischen Begriffe erläutert wurden. Leider wurden diese im Text des Ebooks nicht mit Links hinterlegt, was das Nachschlagen deutlich erleichtert hätte. Mir ist nicht klar, warum nach wie vor viele Verlage diese technische Möglichkeit nicht nutzen.

Wer sich das Buch lieber vorlesen lassen möchte, kann zum Hörbuch greifen, das vom Schauspieler und Sprecher Dennis Moschito mit sehr angenehmer Stimme eingelesen wurde.

Insgesamt fand ich es interessant, Einblicke in japanische Bräuche und gesellschaftliche Konventionen Ende der 1940er Jahre zu erhalten. Der Kriminalfall und der etwas umständliche Erzählstil mit vielen Wiederholungen konnten mich jedoch nicht überzeugen, und ich werde diese Reihe nicht weiter verfolgen.

Bewertung vom 23.07.2023
Paradise Garden
Fischer, Elena

Paradise Garden


ausgezeichnet

Bereits nach dem ersten Kapitel wusste ich, dass ich dieses Buch lieben würde. Elena Fischers Art zu schreiben berührte mich auf Anhieb, und Billie, die 14jährige Protagonistin, wurde sofort lebendig. Ihr Blick auf die Welt, ihr trockener Humor und ihre teils lakonischen Bemerkungen machten sie mir sehr sympathisch. Obwohl Billie und ihre Mutter Marika in einer trostlosen Hochhaussiedlung leben und trotz zweier Jobs der Mutter das Geld kaum ausreicht, um über die Runden zu kommen, gelingt es ihnen, sich immer wieder Augenblicke des Glücks zu schaffen und kleine Freuden zu genießen. Marika ist eine energiegeladene Frau, die im Moment lebt und eine sehr innige und liebevolle Beziehung zu ihrer Tochter hat. Auch wenn die beiden nicht viel haben, so haben sie sich, und sie sind sich dessen bewusst. Als plötzlich die ungarische Großmutter vor der Tür steht und Marikas und Billies Sommerpläne durchkreuzt, ist bald nichts mehr, wie es einmal war. Und Billie stellt sich mehr denn je die Frage nach ihrer Identität. Sie macht sich allein im Nissan der Mutter auf die Suche nach ihrem unbekannten Vater und entdeckt dadurch sich selbst und ihre Mutter neu.

Billie ist eine mutiges, intelligentes junges Mädchen, und ihr Geschichte, die trotz vieler trauriger Momente nie bitter wird, sondern durch feinsinnigen Humor und eine hoffnungsvolle Grundnote getragen wird, hat mich sehr bewegt. Ich möchte dieses warmherzige Buch unbedingt allen, insbesondere auch jüngeren Lesern ab ca. 14 Jahren, ans Herz legen!

Bewertung vom 18.07.2023
Mein großer Naturführer Tiere & Pflanzen
Böskens, Jana

Mein großer Naturführer Tiere & Pflanzen


ausgezeichnet

"Mein großer Naturführer" von Jana Böskens ist ein wirklich tolles Buch für Kinder ab 8 Jahren, in dem auch ältere Kinder und Erwachsene noch viel Wissenswertes entdecken können.

Der Naturführer enthält zunächst eine kurze allgemeine Einführung in die Welt der Tiere, Pflanzen und Pilze. Der Hauptteil des Buches ist in die Lebensräume Wald, Wiesen und Felder, Gewässer, Auen, Feuchtgebiete und Stadt und Dorf untergliedert.

Die einzelnen Kapitel vermitteln fundiertes Wissen, das gut verständlich aufbereitet ist, ohne zu stark zu vereinfachen. Die Texte werden durch zahlreiche detailreiche farbige Illustrationen, Fotografien, übersichtliche Schaubilder und Infoboxen perfekt ergänzt. Besonders lobenswert finde ich, dass giftige Tiere und Pflanzen durch farbige Totenkopfsymbole gekennzeichnet sind (giftige Tiere in lila, leicht giftige Pflanzen in orange, sehr giftige in rot).

Der handliche Naturführer passt für Wanderungen prima in jeden Rucksack, und die etwas dickeren Seiten sind schön robust. Das Buch eignet sich aber auch hervorragend als Nachschlagewerk oder einfach zum Schmökern auf dem Sofa.

Meine Familie und mich hat das Buch rundum begeistert, und es ist der beste Naturführer für Kinder, den in bisher in Händen hatte. Ich möchte ihn unbedingt weiterempfehlen und werde ihn sicher auch noch des öfteren verschenken.

Bewertung vom 16.07.2023
Ich habe keine Angst
Ammaniti, Niccolò

Ich habe keine Angst


ausgezeichnet

Der Roman "Ich habe keine Angst" des italienischen Autors Niccolò Ammaniti wurde vom Eisele Verlag zusammen mit "Fort von hier" neu aufgelegt. Zeitgleich erscheint auch Niccolò Ammanitis neuestes Werk "Intimleben".

Ich hatte zuvor noch nichts von Niccolò Ammaniti gelesen, der Klappentext machte mich jedoch neugierig.

Das süditalienische Örtchen Acqua Traverse mit gerade einmal vier Häusern und einer alten Villa ist Schauplatz der Geschichte und Heimat des neunjährigen Michele und seiner Familie. Der Sommer 1978 ist sengend heiß, die sechs Kinder des Dorfes vertreiben sich die Zeit. Eines Tages findet Michele beim Spielen in einem abgelegen Haus ein Loch im Boden, in dem ein gleichaltriger Junge angekettet liegt. Michele kehrt immer wieder zu dem Loch zurück, zunächst unschlüssig und überfordert, nähert er sich dem Jungen immer weiter und bringt ihm Essen und spricht mit ihm. Die Antworten sind allerdings wirr, da der Kleine offenbar schwer traumatisiert ist. Durch Zufall erfährt Michele, dass der Junge ein Entführungsopfer ist, und je mehr er über die Hintergründe erfährt, desto unglaublicher und auswegloser wird die Situation.

Ammanito zeichnet ein trostloses Bild dieses kleinen armseligen Dörfchens. Die Häuser sind heruntergekommen, alles wirkt schmutzig, es gibt nicht einmal fließend Wasser. Michele, seine kleine Schwester Maria und die Nachbarskinder sind weitgehend sich selbst überlassen, die Eltern kümmern sich wenig, Liebe und Zuwendung fehlen. Auch die Kinder gehen wenig freundschaftlich miteinander um, haben Spaß daran, sich gegenseitig zu demütigen oder ein Huhn aus Langeweile zu töten. Trotz der Sommerhitze im Buch fröstelt einen beim Lesen. Je weiter das Buch fortschreitet, desto größer wird das Grauen. Einzig Michele und in Andeutungen auch das Nachbarskind Barbara scheinen sich ihre Menschlichkeit bewahrt zu haben.

Ammaniti lässt den Protagonisten Michele rückblickend als Erwachsener die Ereignisse dieses Sommers 1978 erzählen. Vieles bleibt vage, doch als Leser*in kann man sich die Zusammenhänge erschließen. Der Autor erschafft eine düstere, beklemmende Atmosphäre, und er konterkariert die emotionale Kälte durch sentimentale Schlagertexte, etwa als der skrupellose und unberechenbare Felice abwechselnd zweistimmig "Parole, parole" trällert. Mich hat die Stimmung im Buch immer wieder an William Goldings Herr der Fliegen erinnert, das mich als Jugendliche sehr beeindruckt hat.

Wahrlich kein leichter, aber ein sehr bewegender Roman, der menschliche Abgründe aufzeigt und unbedingt lesenswert ist.

Bewertung vom 16.07.2023
Meine langen Nächte
Fabiani, Ilva

Meine langen Nächte


sehr gut

In "Meine langen Nächte" von Ilva Fabiani erzählt die fiktive Anna Alrutz ihre Lebensgeschichte u.a. als sogenannte braune Schwester. Dabei handelte es sich um Mitglieder der NS-Schwesternschaft, die einen Eid auf Adolf Hitler ablegten und an Zwangssterilisationen, Zwangsabtreibungen und systematischen Ermordungen im Rahmen der nationalsozialistischen Rassenhygiene beteiligt waren.

Das Besondere an diesem Roman war für mich die spezielle Erzählperspektive. Der Geist von Anne Alrutz, der als Sühne für Ihre Sünden in dieser Welt gefangen bleibt und nicht zur Ruhe kommen darf, wird immer wieder vom Wind an verschiedene Orte und Zeitpunkte aus Annes Leben getragen. Annes Geist erzählt aus der Ich-Perspektive ihre Erinnerungen, reflektiert und kommentiert diese. Nach und nach entsteht aus diesen einzelnen Episoden ein zusammenhängendes Bild. Zudem ermöglicht ihr der Wind gelegentlich, auch vergangene Ereignisse zu beobachten, die sie damals nicht selbst miterlebt hat, oder im Heute bestimmte Menschen zu besuchen.  Diese Erzählweise ist äußerst reizvoll und sehr gelungen.


Das Buch beginnt 1907 mit Annas Geburt. Sehr ausführlich wird Annas Leben in Braunschweig in einer aufgeklärten und weltoffenen Arztfamilie geschildert, ihre Jugend und ihre erste Jugendliebe, die für Anne wegweisend war. In den 20er Jahren wandte Anne sich immer mehr dem erstarkenden Nationalsozialismus zu und wurde eine glühende Anhängerin Adolf , was letztlich auch in Ihrer Tätigkeit als braune Schwester gipfelte. Am Klinikum Göttingen war sie als Operationsschwester 1934 und 1935 maßgeblich an Zwangssterilisationen beteiligt. Erst ein einschneidendes Erlebnis Mitte 1935 öffnete ihr die Augen und veränderte ihr Denken und Handeln. Das Buch endet zeitlich im Dezember 1935 mit Annas Tod (kein Spoiler, da dies bereits die ersten Buchseiten vorwegnehmen).

Durch den relativ frühen Tod 1935 wird im Buch auch die weitere Entwicklung der NS-Schwesternschaft bis zum Ende des Dritten Reiches und ihre grauenhafte Rolle im Euthanasieprogramm nicht weiter thematisiert. Das fand ich bedauerswert. Der Großteil des Buches widmet sich sich Annes Kindheit und Jugend und möglichen Gründen für Ihre Hinwendung zur NS-Ideologie. Hierbei war ich beim Lesen etwas hin- und hergerissen. Manchmal hatte ich den Eindruck, dass mir die Begründungen etwas zu einfach und unschuldig waren. Andererseits mag es durchaus möglich gewesen sein, dass man, insbesondere als Jugendliche auf der Suche nach dem Platz im Leben, tatsächlich sehr empfänglich für Ideologien ist.

Insgesamt ein sehr lesenswertes Buch, von dem ich mir jedoch gewünscht hätte, dass der Focus stärker auf die Tätigkeiten als braune Schwester gelegt worden wäre und der Roman einen größeren Zeitrahmen im Dritten Reich abgedeckt hätte, um die Verbrechen an den Kliniken noch deutlicher werden zu lassen.