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Benutzername: 
MB
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Rösrath

Bewertungen

Insgesamt 443 Bewertungen
Bewertung vom 15.08.2020
Die Topeka Schule
Lerner, Ben

Die Topeka Schule


sehr gut

Lesen!!!
Es gab Momente im ersten Drittel, da hatte ich den ernsthaften Gedanken, ‚Die Topeka Schule‘ nicht zu Ende zu lesen.
Meine Zwischennotiz: „Dem wilden Themenkarussell des Autors ist nur schwer zu folgen; überintellektualisiertes Erzählen soll hinwegtäuschen über die fehlende Stringenz einer Geschichte…“
Ich war richtiggehend ärgerlich – zumal einige der in Sätze gegossenen Gedanken schlichtweg genial sind: „Wie viele von Darrens eigenen kleinen Bewegungen und Posen waren körperlich gewordene Echos der Vergangenheit, Wiederholungen knapp unterhalb seiner Bewusstseinsschwelle?“
Oder auch: „Die Erinnerung … war stellenweise verbrannt, am linken Rand schwarz.“
Und es ist genial, wie Ben Lerner inneres Erleben auf den Punkt bringt – z.B. die durch die Erfahrung einer Ablehnung veränderte Wahrnehmung eines Liebenden: „Jeder Gesprächsfetzen, den er auf der Straße zufällig hörte, sogar Musik aus vorbeifahrenden Autos, kam ihm vor wie ein Scherz auf seine Kosten.“ (Ein ‚moderner‘ Peter Handke aus dessen Anfangszeiten???)
Die Beschreibung der in einem Pflegeheim lebenden, demenzerkrankten Mutter, einer ehemaligen Krankenschwester, die der Autor bei einem Besuch der Angehörigen denken lässt „… so oder so war sie immer etwas verärgert über ihre Besuche, darüber, dass die beiden reden und reden wollten, wo sie sich doch um Patienten kümmern musste.“
Adams Verhältnis zu seinem Großvater: „… er fühlte sich verpflichtet, eine Anzahl heiterer Äußerungen an den Körper im Rollstuhl zu richten und zu demonstrieren, dass er den Kontakt mit diesem Körper nicht scheute.“
Wie das Archaische im Mann das Gefängnis des Verstandes durchbricht: „… ich bin der Vater, ich bin das archaische Medium männlicher Gewalt, das die Literatur überwinden soll, indem sie Körperlichkeit durch Sprache ersetzt.“
Ich bin froh, das Buch zu Ende gelesen zu haben! Aber – das will ich nicht verschweigen – ich musste mich richtiggehend ‚reinarbeiten‘. Und ich bin belohnt worden! Das Buch macht Lust auf ein zweites Mal – wie bei anfänglich unbeholfenem aber dann doch ungeheuer gutem Sex. Nocheinmal und nocheinmal und…
Das Themenkarussell: Männliche Identität, Rassismus, Amerika unter Trump, das Verhältnis der Generationen und der Geschlechter, Alter und Demenz, Sprache als Verführung, Wettbewerb und Therapie, ganz viel Therapie…
… und am Ende dann, da schimmert Hoffnung. Hoffnung auf eine Abkehr von der phrasendreschenden, wettbewerbsorientierten Welt, in der jeder sich selbst der nächste ist: „… Teil einer öffentlichen Rede zu sein, einer Öffentlichkeit, die mitten im allgemeinen Schnellsen (Anm.: rhetorisches Stilmittel, ein Kunstwort) langsam wieder zu reden lernte.“

Bewertung vom 14.07.2020
Ich bleibe hier
Balzano, Marco

Ich bleibe hier


gut

Ein Stück Geschichte...
"Niemand kann verstehen, was sich unter den Dingen verbirgt. Niemand hat Zeit, stehenzubleiben und um das zu trauern, was gewesen ist..."
Marco Balzano erzählt die Geschichte eines Dorfes in Südtirol am Vorabend des zweiten Weltkrieges bis hinein in die 50-er Jahre - konfrontiert zunächst mit zwei politischen und später dann mit einer wirtschaftlichen Katastrophe. Zuerst der italienische Faschismus unter Mussolini und dann der zweite Weltkrieg und die Nazis. Das Politische spaltet das Dorf und die Familien, einige bleiben andere wandern aus oder flüchten. Nach dem Horror des Krieges wird das Dorf in der Folge eines Staudammbaus geflutet und verschwindet bis auf den Kirchturm, der als letztes Anzeichen der Ansiedlung aus dem Wasser ragt (Siehe auch die aktuelle Netflix-Serie 'Curon'). Als Leser*in folgen wir der Geschichte des abgeschiedenen Bergdorfes und seiner Bewohner*innen aus der Perspektive einer Familie, die stets ums Überleben kämpft, sich um den Zusammenhalt sorgt, Widerstand leistet und schlussendlich doch zum Opfer der Geschichte wird.
"Er hatte kein Vieh mehr, sein Feld war überflutet worden, er war kein Bauer mehr, wohnte nicht mehr in seinem Dorf. Er war nichts mehr von dem, was er sein wollte, und wenn du nichts mehr wiedererkennst, wirst du rasch lebensmüde. Dann genügt dir auch Gott nicht."
Ein beeindruckendes Buch, weil es erlebte Geschichte erzählt, die sich hinter ('unter') der südtiroler Touristenattraktion verbirgt - dem mitten aus einem See ragenden Kirchturm.
Unbedingt lesenswert!

Bewertung vom 03.07.2020
flüchtig
Achleitner, Hubert

flüchtig


sehr gut

Ein wunderbares Buch!!!
Hubert Achleitner hat ein wunderbares Buch geschrieben! Der erste Roman des schon viele Jahre als Musiker bekannten Hubert von Goisern. Nun hat er neben seiner Musik eine weitere ausdrucksstarke Form gefunden, uns Menschen nicht nur zu erreichen, sondern auch zu bewegen. Das Buch zuklappend und resümierend muss ich sagen, Hubert Achleitner hat sich mit den Seiten regelrecht 'warmgeschrieben' - direkt in mein Herz. Die Rahmengeschichte ist eigentlich schnell erzählt - nach dreißig Jahren Verheiratetsein verschwindet Maria und Herwig, der selbst seit einiger Zeit eine Affäre mit einer Jüngeren hat, begibt sich auf die Suche nach seiner Frau, die auch eine Suche in der Verganhgenheit und im Inneren meint. Überhaupt scheinen alle Figuren auf ihre eigene Weise mit der Suche nach dem richtigen Leben, nach dem Lebensglück beschäftigt zu sein - nach der guten Partnerschaft, nach dem außerpartnerschaftlichen Lustgewinn, nach dem Glauben und der Enthaltsamkeit und Askese, nach dem einfachen Leben, nach der kleinen Pause mit THC, nach Weltverbesserung im Kollektiv. Die Erzählperspektive wechselt und fordert von uns Lesenden auch für uns selbst den Blick auf das eigene Leben zu variieren. Vielleicht ist ganau das das Berührende an der Geschichte und ihrer Form, dass sie auch unsere eigene sein könnte. Wundervolle Gedanken sind in Sätze gegossen: "... und versuchte mit kleineren und größeren Aufmerksamkeiten einen Fuß in die Tür zu ihrer Seele zu bekommen..." "Die meisten Menschen überlassen das Träumen der Werbung."
Und er Autor lässt gegen Ende Maria in einem Brief sagen: "... Nachdenken ist eine postparadiesische Sache, etwas, das erst durch den Sündenfall möglich geworden ist." Und in der Tat - die 'allzu menschlichen Verfehlungen' der Protagonist*innen haben sie - allen voran Herwig und Maria - nachdenklich gemacht. Alles ist flüchtig und geht trotzdem weiter, deshalb bleibt das Ende, bzw. der Fortgang der Ereignisse den Leser*innen überlassen.
Ein wunderbarer Roman!!!

Bewertung vom 02.06.2020
#Fatboysrun
Jordan, Philipp

#Fatboysrun


gut

Ein wahrhaft motivierendes Buch!!!
"Viele denken ja, dass Laufen Energie raubt, müde macht und Kraft kostet. Aber Laufen gibt Energie, Laufen spendet Kraft. Laufen macht glücklich." "... Und auch, wenn ich mich manchmal aufraffen muss, um bei Sauwetter meine Laufschuhe zu schnüren, so weiß ich, dass ich schlussendlich belohnt werde."
'#Fatboysrun' von Philipp Jordan ist weit mehr als nur ein Buch vom Laufen. Es ist ein sehr persönlicher Bericht über den Kampf gegen das "Mehr-Monster", das von allem nie genug bekommt und dabei aber eigentlich nur das Glück sucht. Philipp Jordan beschreibt in mehreren Etappen seinen Weg - Aufhänger und Rahmenstory ist dabei die Laufstrecke von Utrecht (Wohnort) nach Karlsruhe (Heimat) - 700 Kilometer in 2 Wochen! Es gibt also die gelaufenen und die erzählten Etappen: Die Jugend, das Skaten, der Autor als Graffiti-Sprayer, der Drogenkonsum, der Einstieg ins Laufen und Philipp als teddybärenmalender Künstler...
"DasLaufen war (und ist) die Antwort auf so viele Fragen, die Lösung so vieler Probleme, der Ausweg aus fast jeder Krise." "Nur wer seine Komfortzone verlässt, kann wahres Glück erfahren."
Eine Einladung Grenzen auszureizen (das Mehr-Monster) - und Grenzen zu akzeptieren (Sieg über das Mehr-Monster). Und ganz nebenher ist das Buch mit Bildern und Cartoons schön illustriert!
Ein wahrhaft motivierendes Buch - in jeder Hinsicht!!!

Bewertung vom 01.06.2020
Beute / Bennie Griessel Bd.7
Meyer, Deon

Beute / Bennie Griessel Bd.7


gut

Ein gut geschriebener und total solider Krimi
Die Stärke des Krimis: Gut gezeichnete Charaktere, denen man ihre Geschichte und ihre Eigenarten glaubt (menschliche Schwächen; die Privatperson hinter der beruflichen Rolle, welche sich mit so unbedeutenden Wichtigkeiten wie "Wie und wo mache ich ihr einen Heiratsantrag und wie soll ich es formulieren?" oder "Wie bekomme ich einen guten Kontakt zum Sohn meiner Freundin?" auseinandersetzen.
Total solide Kost: Laufen die Handlungsstränge anfangs eher gemächlich und ohne offensichtlichen Bezug nebeneinander her, so beschleunigen sie sich doch zusehends... am Ende geht es dann etwas schnell; und zur Sicherheit lässt der Autor hin und wieder seine handelnden Personen die Zusammenhänge des Falles erklären, damit die werten Leser*innen auch auf gar keinen Fall im Dunkeln bleiben.
Eine der 'schönsten' Passagen ist die nachfolgende, welche das Verbrechen an sich als eine Störung der Harmonie beschreibt: "Er spielte Bass, weil er die Einfachheit und Regelmäßigkeit liebte. Die Vorhersagbarkeit. Die Struktur. Musik war Ordnung, perfekte Ordnung. Seine Arbeit hingegen war ein unerträglicher, nie enden wollender, meist frustrierender Kampf gegen das Chaos. Jedes Verbrechen, jeder Mord war eine falsche Note, die einem schrill und schief durch Mark und Bein ging, eine Kakophonie, eine furchtbare Störung der Ordnung."
Und ein weiterer Pluspunkt dieses Krimis: Keine kilometerlangen Abschweifungen, keine Gewaltpornographie und dabei absolut gut lesbar!!!
(Inhalt siehe Klappentext)Daher: Empfehlung!!!

Bewertung vom 01.05.2020
Die Burnout Klinik
Fröhlich, Udo

Die Burnout Klinik


gut

Als Leser*in hautnah dabei...
Ich bewundere Udo Fröhlich für sein Buch; wahrscheinlich ist nichts daran erfunden, nur humorvoll überzeichnet. Humor ist ja oft die einzige Rettung gegen den Untergang! Wo Humor ist, da ist noch Hoffnung und wo Humor ist, da gelingt die Distanz zu dem, was einem gerade passiert ist und was man irgendwie in sein Leben integriert kriegen muss... was im Falle des Autors ja heißt, den eigenen Burnout, die Depression, die Arbeitsunfähigkeit und die Frührente als zur eigenen Person gehörig zu akzeptieren. Ich kann mir gut vorstellen, dass das Erzählen, das Niederschreiben dabei geholfen hat.Hut ab!!!

Als Leser in vergleichbarem Alter ist es mir stellenweise ganz anders geworden, war ich doch über 440 Seiten hautnah mit dabei! Ich durfte Mitwisser einer multiplen Krisensituation werden (Trennung, berufliche Überlastung / Mobbing), war in der Klinik mit dabei und musste mich damit auseinandersetzen, wie es nach den Wochen in der psychosomatischen Klinik weitergehen wird...

Ein wahnsinnig ausführlicher und auch detaillierter Erfahrungsbericht, wohl auch niedergeschrieben, um den Verarbeitungsprozess zu unterstützen, als 'neue Aufgabe' in der(Früh-) Rente. Anerkennung.

Beste Szene: Der Elternbesuch kurz vor Ende des Klinikaufenthaltes.

Punktabzug für:

Als Roman sollte das Werk verdichtet werden. Da verhält es sich wie mit einem köstlichen Getränk - gießt man zuviel Wasser hinzu, um am Ende mehr davon zu haben, verliert es an Geschmack. Too much 'Fahrstuhl', 'Gerüche', 'Speisesaal', 'Adipositas-Bashing', Raucher-Ekel', 'Rollatoren und Rollatorenbesitzer', 'Rock'n Roll Caps & Shirts', 'schlaffe Penisse der anderen & der eigene Ständer', 'flachbrüstige Frauen'...

So wie der Autor über Personal und Mitpatienten spricht, wirkt es zuweilen recht arrogant... im Nachklang dachte ich mir als Leser allerdings, dass dieses 'sich über andere lustig machen' natürlich auch eine Form des Selbstschutzes durch Abgrenzung ist - "ich bin zwar auch hier in der Klinik, aber nicht so abgestürzt/fertig/fett/süchtig wie all die anderen" - mit dieser Interptetation könnte ich leben, allerdings wäre es dann insgesamt eher ein aus der Verzweiflung heraus geborener Humor (auf Kosten von anderen & zur Stabilisierung des eigenen Selbstwertgefühls)...

Vielleicht wird es in zwei Jahren eine neue und überarbeitete Version von 'Die Burnout Klinik' geben: 200 Seiten und gar nicht mehr lustig, weil die Integration dieser einschneidenden Erfahrung gelungen ist und nicht mehr abgewehrt werden muss! (Wow - es sprach der Hobby-Psychologe).

Fazit: Lesen und die überarbeitete Ausgabe in zwei Jahren vormerken!!! Unbedingt!!!

Bewertung vom 20.04.2020
Das kann uns keiner nehmen
Politycki, Matthias

Das kann uns keiner nehmen


gut

Beeindruckend und weise!!!
Ein lebenskluges Buch: Vordergründig die Besteigung des Kilimandscharo - auch das lesenswert, aber das ist nur der Vordergrund. Der Hintergrund ist ein anderer. Hans will endlich auf dem Dach von Afrika mit seiner Vergangenheit ins Reine kommen, freut sich auf die Einsamkeit, begegnet aber dem 'Tscharli' aus Bayern, der seinen Wunsch nach Alleinsein schon durch seine reine Anwesenheit in der vermeintlichen Einsamkeit durchkreuzt... und als Person so furchtbar anders ist...
Zunächst am Beginn der Geschichte das Vorurteil und am Ende doch eine Freundschaft, Vermissen eines Freundes und Trauer um diesen Menschen... und dazwischen das gemeinsame Abenteuer Afrika und zwei Lebens- und Liebesgeschichten. Der Tod, die Angst und als Kontrapunkt der ungebremste Optimismus, Scheitern und pure Lebensfreude; sich im Widerspruch bewegen anstatt ihn einfach nur auszuhalten, sich der Vergangenheit stellen und für das Leben dem Tod ins Angesicht blicken. Die Verfluchtheit und die Schönheit von Afrika. Das Neugierigsein und bis an die eigenen Grenzen gehen. Beide Männer - der Hans und der Tscharli - arbeiten sich aneinander ab, überwinden ihre Vorurteile bezüglich des anderen hin zu einem vertieften Verständnis füreinander... was man durchaus als Liebe bezeichnen kann.
Als Leser*in hat man Anteil an der großen Expedition, die 'Leben' heißt, obwohl es auf der reinen Handlungsebene lediglich eine Woche Afrika ist.
Das Ganze ist noch gewürzt mit unerhörten Sprüchen und Weisheiten:
"Lieber stolpern und stürzen, als gar nicht erst aufbrechen."
"Um den Tod auf Distanz zu halten, hilft nichts als Neugier."
"Manche haben gar keine Tassen mehr im Schrank, sie bauen schon den Schrank ab."
Eine Reise durch 300 Seiten, die ich unbedingt empfehlen kann!!!

Bewertung vom 29.03.2020
Eine kurze Geschichte vom Fallen
Hammond, Joe

Eine kurze Geschichte vom Fallen


gut

Ich verneige mich!
Diagnose: Motoneuronen-Krankheit. Wie seltsam es sich doch anfühlt, ein Buch mit den Erfahrungen eines Lebens zu lesen - von einem Autor, der weiß, dass er in absehbarer Zeit sterben wird. Eigentlich bin ich gefordert, mir selbst zu sagen 'ja, auch du wirst sternben'... ich erwische mich aber bei dem verharmlsenden Gedanken 'ist ja nur ein Buch'. Es ist, als wenn dieser Gedanke mir selbst helfen würde, diese unumstößliche Tatsache, diese einzige Gewissheit, die es in meinem Leben gibt, aus eben diesem auszublenden - dass nämlich auch mein Leben irgendwann enden wird. Und der Autor lässt mich teilhaben. Mit Trauer, einem Schuss Humor und einer ungeheuren Beobachtungsgabe: Wie die kleinen Dinge des Lebens mit einem mal wichtig, bzw. zu einer großen Herausforderung werden: "Oder ich sitze augf der Bettkante, nackt von der Taille abwärts, meine Hose und Unterwäsche um die Knöchel. Bis dahin habe ich es geschafft, aber mir fehlt die Kraft beides hochzuziehen. Gill läuft hektisch hin und her, und ich warte einfach. Es fällt mir leichter, als ich gedacht hätte, das Warten. Was soll ich sonst machen? In solchen Momenten wirkt der Raum still, und alles ist ruhig. Ich habe mein ganzes Leben darauf gewartet, so einen Frieden zu erkennen. Zu erkennen, dass ich nicht mehr bin als dieser Klörper."
Was machen die zunehmenden, krankheitsbedingten Einschränkungen, was machen diese unübersehbaren Anzeichen des näherrückenden Todes mit dem Konzept "Familie"? So schreibt Joe Hammond "Hinter jeder gewaschenen und adrett gekleideten körperbehinderten Person verbirgt sich das erhebliche und ungewürdigte Engagement eines anderen Menschen." Hammond beschreibt seine Trauer: "Dass wir gemeinsam weinen gehen könnten, vielleicht zu verschiedenen Orten auf der Welt, so wie wir gemeinsam spazieren gehen. Wir könnten endlich gemeinsam nach Japan weinen gehen oder uns zu den äußeren Hebriden schluchzen..." Der große Wunsch, als Partner und Vater für seine Familie da zu sein, selbst aber versorgt werden zu müssen; nicht mehr mit seinen Kindern ins Schwimmbad gehen zu können... Und wie der Autor auf Distanz geht zu dem war er erlebt: "Manchmal frage ich mich, ob ich vielleicht gar nicht mein eigenes Sterben erlebe, sondern irgendeine Form von medizinischer Prozedur."
Keine leichte Kost! Aber unbedingt lesenswert!!!

Bewertung vom 25.03.2020
Die Geheimnisse meiner Mutter
Burton, Jessie

Die Geheimnisse meiner Mutter


gut

Bewegend!
Ein Ende ist nicht immer einfach nur ein Ende - manchmal ist es auch der Beginn von etwas Neuem! "Manchmal empfindest du allein die tägliche Anstrengung, am Leben zu bleiben, den Kopf über Wasser zu halten, wie eine schwere Last. Aber du willst trotzdem nicht aufgeben, denn das alles ist deine Geschichte, mag sie noch so unvollkommen, noch so verkehrt und unglücklich sein. Und wenn am Ende die Lichtperlen kommen, wenn sie aufspringen und Himmelskörper, so gleißend hell wie die Sonne, sich zeigen, wenn ein ganzer Planet von lauter Glückseligkeit ins Dasein schießt, und wenn du umhergehst mit diesem Strahlen in deiner Brust - dann begreifst du. Dass du so lange im Dunkeln gestanden hast, um diesen Moment der Erleuchtung zu erfahren."
Die Suche von Rose nach ihrer Mutter entpuppt sich als eine Suche nach sich selbst - das deutet sich schon zu Beginn an: "Unter den vielen beschissenen Versionen meiner selbst die beste zu finden."
Ein Buch über die Tragik der Liebe und darüber, dass nur derjenige lieben kann, der sich selbst gefunden hat; so findet Rose erst zu sich selbst, als sie ihre eigene und die Geschichte ihrer Mutter, die sie früh verlassen hat, annehmen kann. Der Weg dorthin geht über die Bekanntschaft mit der Schriftstellerin Connie, die Geliebte ihrer Mutter, und über das eigene Erleben einer Schwangerschaft. Im Verlauf der Geschichte wirkt es so, als wenn alle Figuren trotz des Wunsches nach Verschmelzung schlussendlich für sich bleiben würden; am Ende aber wird klar - beim anderen kann nur derjenige ankommen, der sich selbst gefunden hat. "...nirgendwo zu sein, bevor du irgendwo ankommst."
Fazit: Unbedingt lesenswert!

Bewertung vom 13.03.2020
Das Evangelium der Aale
Svensson, Patrik

Das Evangelium der Aale


gut

'Sowohl als auch' oder eher 'weder noch'...
Mmhhh... Das Buchcover mit den schön gezeichneten, sich windenden Aalen gibt keinen Aufschluss darüber, worum genau es sich bei diesem Buch handelt. Ist es ein Roman oder ist es eher ein Sachbuch? Ohne Zweifel ist das 'Buch' gut geschrieben und ich habe es auch sehr gerne gelesen; ich habe ungeheuer viel über den Aal erfahren - über seine Herkunft, seine Lebenswege und vor allem über die Schwierigkeit, ihm auf die Spur zu kommen und zuguterletzt auch über sein drohendes Verschwinden von der Bildfläche (wie das leider bei vielen anderen Tierarten auch ist...); ich weiß jetzt, was Aristoteles über den Aal gesagt hat, mir ist durch das Buch bekannt geworden, dass auch Sigmund Freud den Aal beforscht hat und sich (welch gewagte, aber gut erläuterte Hypothese!) wegen seines Scheiterns an diesem Forschungsgegenstand in der Kompensation des Misserfolgs lieber der menschlichen Seele und der Sexualität zugewandt hat. Ich habe auch eine Idee von der Parallele zwischen Aal und Mensch bekommen: Beide schlängeln sich irgendwie durchs Leben, es gibt im Verlauf einige Verwandlungen und es gibt die Suche nach & die Rückkehr zum Ursprung. Auch ganz praktisches Wissen ist dabei: Wie man mit Hilfe von elektrischem Strom die Würmer aus dem Boden an die Oberfläche holt ud was es mit der Wünschelrute wirklich auf sich hat. Ich weiß jetzt auch, welche Rolle der Aal bei der Besiedlung Amerikas gespielt hat und dass er - wie in Günther Grass' Blechtrommel - die Tragödie ankündigt und auch auslöst. Mir ist bewusst geworden, wie der Aal bewegungslos verharren kann und ihm die Zeit - im Gegensatz zu uns Menschen - völlig egal ist! Und ganz nebenher (das ist dann wohl der Romananteil) erfahre ich auch etwas über den Autor als jungen Menschen und seinem eher wortkargen Verhältnis zu seinem Vater; die Verbindung der beiden erfolgt über das Angeln von...
Und am Ende des Buches läuft mit dem Tod des Vaters und dem Aussterben des Aals dann beides zusammen.
Und wenn ich so drüber nachdenke, dann war das ein Buch, welches mich nachdenklich gemacht hat. Was ja nicht verkehrt ist. Finde ich zumindest!