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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 763 Bewertungen
Bewertung vom 11.11.2016
Marina
Ruiz Zafón, Carlos

Marina


sehr gut

Erinnerungen an das, was nie geschah

Der Roman enthält autobiographische Elemente. Hierzu zählen Óscars Streifzüge durch das nächtliche Barcelona, die beschriebene Gefühlswelt, das katholische Internat und Mädchen wie Marina. Die Geschichte selbst ist erfunden oder das Abbild einer Innenwelt, wie unschwer zu erkennen ist, wenn man sich im letzten Drittel des Buches befindet.

Carlos Ruiz Zafón ist in Barcelona geboren und hat dort die Jesuitenschule in Sarriá besucht. Auf seinen Streifzügen durch das nächtliche Barcelona schlenderte er durch einsame Gassen, erforschte verfallene Villen und überquerte finstere Friedhöfe. Auch Mädchen, die Marina gleichen, lernte Zafón in seiner Jugend kennen. Damit enden die autobiographischen Züge in diesem Roman. „Ich glaube, ich habe versucht, damit auszudrücken, dass dies der erste von mir geschriebene Roman ist, der sich wie „ich“ anfühlt und nicht so, als ob ich versuchte, jemand anderes zu sein.“ Es ist mehr die Gefühlswelt und weniger der reale Gehalt des Romans, mit dem sich der Autor identifiziert.

„Marina“ ist eine Mischung aus Abenteuer, Krimi, Liebesgeschichte und Horror. Diese Vielschichtigkeit ist ein Element, welches die Leser auch aus Zafóns anderen Büchern kennen. „Marina“ wirkt wie ein phantastischer und ein wenig abgedrehter Übergangsroman zu seinem Bestseller „Der Schatten des Windes“. Auffallend sind Zafóns Ausdrucksstärke, seine zahlreichen Metaphern und Bilder, die seine Bücher geheimnisvoll und mystisch wirken lassen und seine Szenebeschreibungen und die schicksalhaften Begegnungen. Wenn man den Autor aus anderen Büchern kennt, erkennt man ihn in „Marina“ wieder.

Die Geschichte selbst lässt am Anfang noch nicht erahnen, in welche Richtung sie sich bewegen wird. Auch wenn dieser Stil für Spannung sorgt, gleitet die Geschichte derb ins Phantastische ab. Werden hier Traumwelten und jugendliche Gefühlswallungen literarisch verarbeitet? Ist nur auf diese Weise der „Zugang zu diesem Dachgeschoss der Seele“ möglich? Die Antworten kennt nur der Autor.

„Der Schatten des Windes“ stand für mich unter dem Motto „Im Bann des Schicksals“. Dies trifft auch auf „Marina“ zu. Auch hier geht es um einen Entwicklungsprozess. Diesmal ist es nicht Daniel Sempere, sondern der Autor selbst, der einen Reifungsprozess durchmacht. „Marina“ ist nicht der beste Roman von Carlos Ruiz Zafón. Die Fans seines verzaubernden Stils werden es dennoch lesen.

Bewertung vom 09.11.2016
Wer die Nachtigall stört ...
Lee, Harper

Wer die Nachtigall stört ...


ausgezeichnet

Ein amerikanischer Roman über Rassismus

Der Roman "Wer die Nachtigall stört ..." wurde 1960 erstmals publiziert und spielt im Süden der USA in den 1930er Jahren. Es ist der einzige Roman von Harper Lee, die damit einen Klassiker der Weltliteratur geschaffen hat. Das Buch wurde bereits 1962 verfilmt mit Gregory Peck als Atticus Finch.

Zu dem großen Erfolg tragen einige Elemente bei. Das Buch ist in einfacher Sprache verfasst aber dennoch tiefsinnig. Das zentrale Thema, der Rassismus, ist aktueller den je. Wie schwierig es ist, nicht in die Falle der Vorurteile zu tappen, wird an Details deutlich, z.B. als die Lehrerin von Jem und Scout Hitler verurteilt, weil dieser Juden verfolgt, aber im gleichen Atemzug blind ist für ihre eigenen Vorurteile gegenüber der schwarzen Bevölkerung im eigenen Land.

Die Charaktere sind sehr markant. Das gilt für Atticus und Ich-Erzählerin Scout, aber auch für Randfiguren wie z.B. Mrs. Dubose. Lehrreich auch, dass einige Protagonisten ihr Licht unterm Scheffel halten, um die Ordnung im Dorf nicht durcheinander zu bringen, z.B. ist die farbige Hausangestellte Calpurnia viel intelligenter, als die durchschnittliche Dorfbevölkerung, zeigt es aber nicht.

Der Fall selbst, der in dem Roman vor Gericht verhandelt wird, dürfte Anfang der 1960er Jahre in den USA als Tabubruch gewertet worden sein. Aber es sind diese Widersprüche zwischen Schein und Sein, die den Roman lesenswert machen. Die Leser werden ständig herausgefordert. Letztlich ist auch positiv zu werten, dass Atticus wenigstens einmal gegen seine eigenen Prinzipien verstößt und sich damit als Mensch offenbart. "Wer die Nachtigall stört ..." ist ein gesellschaftskritischer lehrreicher Roman, der wunderbar in die heutige Zeit passt.

Bewertung vom 06.11.2016
Die Bücherdiebin
Zusak, Markus

Die Bücherdiebin


ausgezeichnet

Literatur, wie sie sein soll

Mit diesem emotional anrührenden Roman ist Markus Zusak ein ganz große Wurf gelungen. Die Geschichte macht betroffen und weckt Hoffnungen, ist gleichzeitig poetisch und aufklärend, einfühlsam und dramatisch. „Die Bücherdiebin“ ist kein spezieller Jugendroman, sondern ein Roman, der alle Generationen anspricht. Er beschreibt das dunkelste Kapitel deutscher Geschichte aus der Perspektive des Todes. Aber der Tod hat menschliche Züge. Er ist nicht Verursacher, sondern eher Knecht einer Aufgabe, der er nachgehen muss. Und das tut er nicht sadistisch, sondern achtsam. Zur Protagonistin Liesel Meminger hat er ein besonderes Verhältnis.

Zum Inhalt braucht man bei der großen Anzahl veröffentlichter Rezensionen nicht mehr viel zu sagen. Auch wenn einige wenige Rezensenten es anders sehen: Die Zeitsprünge überfordern den Leser nicht. Sie werden kompensiert durch kleine überschaubare Kapitel in einfacher Sprache, denen zudem ansprechende erläuternde Überschriften vorangestellt wurden. Für erläuterungsbedürftig halte ich die Frage, warum Liesel Meminger Bücher stiehlt. Immerhin wurde der Buchtitel danach benannt. Ist es ihre Leidenschaft nach Büchern oder handelt es sich um ein Ventil, um aus dem tristen Alltag entfliehen zu können? Dieser Charakterzug liefert Stoff für Interpretationen.

Es gelingt nur wenigen Autoren so zu schreiben, dass man als Leser mit allen Sinnen in die Romanwelt eintaucht. „Die Bücherdiebin“ verzaubert die Leser und kann ich sehr empfehlen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.11.2016
Haut nah
Adler, Yael

Haut nah


sehr gut

Schnittstelle zwischen Innen- und Außenwelt

Für den Laien ist es schon schwierig, trockene Haut und fettige Haut voneinander zu unterscheiden. Hautärztin Yael Adler erklärt, warum das so ist. Eindeutige Aussagen sind möglich, wenn die Hautschuppen näher untersucht werden. Ohne genauen Befund ist keine wirksame Therapie möglich. Und so führt die Selbstbehandlung manchmal zur Verschlimmerung des Ekzems.

Das Buch gliedert sich in 5 Teile. Im ersten Teil des Buches stellt die Autorin ausführlich die drei „Stockwerke“ der Haut vor und erläutert deren Aufbau, Eigenschaften und Abhängigkeiten. Deutlich wird, dass es sich beim Stockwerkmodell, bestehend aus Oberhaut, Lederhaut und Unterhaut, nur um ein grobes Raster handelt, denn die drei Hautschichten lassen sich weiter untergliedern.

Die Leser erfahren, warum es unterschiedliche Hautfarben gibt, warum Frauen von Cellulite betroffen sind und warum Hautcremes keine Falten wegzaubern können. Ihre Wirkstoffe gelangen dank Hautbarriere gar nicht da hin, wo sie hin müssten, um Falten zu straffen. Auch neigen die Menschen dazu, sich zu viel zu waschen und zu oft zu duschen mit der Folge, dass die Haut sehr belastet wird.

Eine starke Belastung erfährt die Haut auch durch intensive Sonnenbestrahlung, wie die Autorin im zweiten Teil des Buches deutlich macht. So angenehm es auch ist in der Sonne zu liegen, so schädlich ist ein Übermaß an Sonnenbestrahlung. „Heute kämpfen wir mit den Folgen des allzu sorglosen Sonnenkontakts. Mit einer Verzögerung von 20 bis 30 Jahren erhalten wir die Quittung und haben den höchsten Hautkrebsstand seit je ….“ (151)

Während der Kontakt mit der Sonne negative Folgen haben kann, hat der Hautkontakt zum Partner bzw. zur Partnerin positive Auswirkungen. Im Gehirn wird Oxytocin ausgeschüttet, was beruhigend wirkt, die soziale Bindung fördert und Ängste reduziert. Zudem wirkt Sex sich positiv auf die Haut aus. Häufig wechselnde Partnerschaften sind dagegen mit Risiken verbunden. Die Autorin klärt über Geschlechtskrankheiten und deren Übertragbarkeit auf.

Eine weitere wichtige Einflussgröße für den Zustand der Haut ist die Ernährung. Die Medizinerin beschreibt Nährstoffe und ihren Einfluss auf die Haut. Zahlreiche Nahrungsmittelallergien sind bekannt. Die Autorin erläutert, wie sich Industriefett und Umweltgifte auswirken können und warum manche Menschen Probleme mit Weizen oder Milchprodukten haben.

Im fünften Teil des Buches, der nur wenige Seiten umfasst, widmet sich die Autorin dem Einfluss der Psyche auf die Haut. Gefühle wirken sich auf der Haut aus und machen den Menschen ungewollt transparent. Die Haut ist das Aushängeschild des Menschen und so ist es auch verständlich, dass Hautkrankheiten für die Betroffenen unangenehm sind.

Der Schwerpunkt des Buches liegt, abgeleitet aus der Länge der Kapitel, beim Aufbau der Haut (Schichtenmodell) und deren Beeinflussung durch Sonne, Körperpflege und Faltenbehandlung. Die Themen Ernährung, Erotik und Psyche sind deutlich kürzer gefasst. Hierzu könnten eigene Bücher geschrieben werden.

„Hautnah“ ist kein typischer Ratgeber, aber auch kein Buch für Fachleute. Es ist ein Buch für Menschen, die sich einen verständlichen Überblick zum Thema verschaffen möchten. „Wer der Haut wirklich Gutes tun will, sollte nicht zu viel tun“ ist eine zentrale Aussage aus dem Buch.

5 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.10.2016
Gott und die moderne Physik
Davies, Paul

Gott und die moderne Physik


sehr gut

Urgründe des Universums

„Mit wahrhaft herzerfrischender Unbekümmertheit rückt Davies hier so mancher antiquierten theologischen Aussage auf den Leib – unter anderem etwa der Forderung nach einer Anerkennung übernatürlicher, die Naturgesetze außer Kraft setzender göttlicher Eingriffe in den Weltlauf.“ (10) Hoimar von Ditfurth bringt in seinem Vorwort auf den Punkt, wo Davies die Grenze zieht zwischen Religion und Naturwissenschaft. Mit der Naturwissenschaft ist ausschließlich ein deistisch verstandenes Gottesprinzip vereinbar.

Paul Davies, von Haus aus Theoretischer Physiker, klärt die Leser über Grundlagen der Kosmologie auf. Dabei geht es um die Strukturen des Mikrokosmos (Materie, Quantentheorie) und um Fragen des Makrokosmos (Relativitätstheorie, Schwarze Löcher). Er diskutiert Grenzfragen wie „Warum gibt es ein Universum?“ oder „Kommt das Universum aus dem Nichts?“ aus dem Blickwinkel der etablierten Forschung und erläutert die Schwierigkeiten, die sich aus der Beziehung zwischen physikalischer und geistiger Welt ergeben.

Aufschlussreich sind die Ausführungen in „Freier Wille und Determinismus“, weil Davies hier u.a. Wechselwirkungen zwischen Quanteneffekten und Neuronen diskutiert. Auch thematisiert er Kategoriefehler, wenn es um die Beziehung von Geist und Gehirn geht. „Ohne Zweifel lenkt die moderne Physik die alte Frage nach dem freien Willen und nach der Vorbestimmung in eine neue Richtung, aber sie löst sie dadurch nicht.“ (189)

Das Buch ist verständlich und der Stil der Argumentation ausgewogen und angenehm. Davies ist kein Guru. Er klärt auf, aber er belehrt nicht. Auffallend sind die vielen Fragezeichen und wenigen Ausrufezeichen, die er setzt, wenn es um Grenzfragen geht. Damit erweist er sich als verantwortungsbewusster Autor. Was ich nicht teilen kann, ist den Optimismus in seinem Vorwort. „Tiefgreifende existenzielle Fragen – Wie entstand das Universum und wie wird es enden? Was ist Materie? Was ist Leben? Was ist Geist? - sind nicht neu. Neu ist, dass wir möglicherweise nahe daran sind, sie zu beantworten.“ (13/14)

Das sind Aussagen, die typisch sind für Klappentexte aufklärender Bücher. Hier wird den Lesern suggeriert, dass Grenzfragen bald beantwortet werden können, ungeachtet der Tatsache, dass ontologische Fragen, also Fragen nach dem Sein (Materie, Leben, Geist) nicht von Wesen beantwortet werden können, die selbst Teil dieser Welt sind. Vielleicht liegen die Antworten eher in der Erfahrung als in der rationalen Analyse.

Bewertung vom 16.10.2016
Verletzt, verkorkst, verheizt
Bartens, Werner

Verletzt, verkorkst, verheizt


sehr gut

Sport und seine Nebenwirkungen

Sport dient der Gesundheit, heißt es allgemein. Dem steht entgegen, dass pro Jahr alleine in Deutschland 1,5 Millionen Sportunfälle registriert werden. (9) Wie passt das zusammen? Autor Werner Bartens, Arzt, Journalist und Hobbysportler, analysiert den Freizeit- und Wettkampfsport aus dem Blickwinkel der Gesundheit. Diese sollte im eigenen Interesse und im Interesse der Gesellschaft höchste Priorität haben.

Die Ursachen für Sportverletzungen und langfristige Gesundheitsschädigungen sind vielfältig. Hierzu gehören veraltete Trainingsmethoden, unwissende Trainer, übertriebener Ehrgeiz, ungesunde Ernährung bis hin zum Doping, falsche Vorbilder und fehlendes Fairplay. Sport dient vielfach nicht der Entspannung, sondern das Leistungsdenken der Berufswelt wird auf den Sport übertragen.

Der Autor beschreibt Fehler, die bereits beim Kinder- und Jugendsport gemacht werden. Da geht es um aus medizinischer Sicht zweifelhafte Übungen, fehlende Aufwärm- und Entspannungsphasen, rücksichtslose Eltern und unethische Verhaltensweisen. Wenn Fouls bereits in jungen Jahren trainiert und akzeptiert werden, läuft etwas schief. Die Selektion im Sport führt dazu, dass faires Verhalten auf der Strecke bleibt.

Auf der anderen Seite muss gefragt werden, wo es denn Fairplay gibt? Schule, Berufsleben, Politik, Medien und Internet sind eben keine Horte, wo Fairplay vorgelebt oder hinreichend gewürdigt wird. Unsere Welt ist von Gewinn- und Erfolgsmaximierung geprägt. Wer betrügt, gilt als listig. Fairplay gibt es am ehesten im engeren Freundes- und Familienkreis, und manchmal nicht einmal dort.

Was ist mit der Verantwortung unserer Medien? Der Autor ist Journalist. Insofern hätte er viel mehr über die Rolle der Medien beim Sport schreiben können. Ist es nicht unsere Presse, die Sportler massiv durch den Kakau zieht, wenn diese ihre erwarteten Leistungen mal nicht bringen?

Neben dieser Kritik muss positiv erwähnt werden, dass der Autor einige Vorschläge macht, wie Dinge verändert werden und Spaß und Augenmaß in den Fokus gerückt werden können. Insofern ist sein Buch keine Abrechnung mit dem Sport, sondern eher eine konstruktive Kritik am Sportgeschehen. Letztlich gilt auch für den Sport das alte Sprichwort: "Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus." Damit wird Fairplay nicht erzwungen, aber wahrscheinlicher.

Bewertung vom 10.10.2016
Wir Kassettenkinder
Bonner, Stefan;Weiss, Anne

Wir Kassettenkinder


sehr gut

Ära ohne Internet

Die Liste der verstorbenen Helden zu Beginn des Buches macht nachdenklich und konfrontiert die Leser mit der Vergänglichkeit des Lebens. (5) Bei dem Buch handelt es sich aber nicht um eine wehmütige Hommage auf die 1980er Jahre. Es ist eher der Idealismus der 1980er Jahre, der wiederbelebt wird und der in den Ausführungen zu Peter Lustig prägnant zum Ausdruck kommt: "Was wir von ihm lernen können, ist, neugierig zu bleiben, den Dingen spielerisch auf den Grund zu gehen – und vor allem: sich eine gute Portion Humor zu bewahren." (270)

Das Buch gliedert sich in vier Kapitel, in denen unterschiedliche Facetten der 1980er Jahre in Erinnerung gebracht werden. Bei den Erzählungen handelt es sich zu einem großen Teil um Erfahrungen der Autoren selbst, die in der Ich-Form oder genauer gesagt in der Wir-Form, auf verständliche Art und Weise aufbereitet wurden. Auffallend ist, dem Titel nach aber auch zu erwarten, dass Kassetten in den Fokus rücken. Dabei waren Kassetten bereits in den 1970er Jahren ein beliebtes Medium, um Lieblingssongs aufzunehmen. Und das geschah bereits in den 1970er Jahren über ein Verbindungskabel und nicht über das Mikrofon.

Das Buch bietet eine bunte Mischung aus Musik, Filmen, Fernsehsendungen, Werbung, Spielen, Magazinen, Essgewohnheiten, politischen Ereignissen und Affären der 1980er Jahre. Dazu gehören auch Volkszählung, Aids, Ozonloch und die Öffnung der Mauer sowie Ausflüge in den Schulalltag und in das Freizeitverhalten. Auffallend sind die fehlenden Sicherheitsstandards gegenüber der heutigen Zeit. Kinder wurden zwar schon "von einem gut organisierten Netz aus Mama-Taxis flächendeckend zu Musikschulen, Ballettklassen oder Sportvereinen gekarrt" (76), jedoch befanden sie sich noch nicht in einem Kokon wie unsere heutigen Kinder.

Die Besonderheiten der 1980er Jahre werden anschaulich vermittelt. Wer diese Zeit erlebt hat, wird vieles wiedererkennen, wer die Zeit nur vom Hörensagen kennt, bekommt einen guten Überblick. Dennoch sind einem Sachbuch bei der Behandlung eines solchen Themas Grenzen gesetzt. Es überwiegen die rationalen Beschreibungen. Das Lebensgefühl lässt sich prägnanter in einem Roman verarbeiten, selbst wenn dabei auf manches Detailwissen verzichtet wird.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.10.2016
Ich und die Menschen
Haig, Matt

Ich und die Menschen


gut

Mensch werden, Mensch sein

Im Vorwort bringt Autor Matt Haig auf den Punkt, worum es in dem Buch geht: „Es handelt vom Sinn des Lebens … davon, was passieren muss, damit man auf die Ewigkeit verzichtet und sich der Sterblichkeit überlässt.“ (11) Damit wird die Messlatte sehr hoch gelegt. Die Leser erwarten einen anspruchsvollen tiefsinnigen Roman. Im Nachwort wird deutlich, dass die Geschichte auf einer symbolischen Ebene sehr persönlich ist. (350)

Ein Vonnadorianer materialisiert auf der Erde in Gestalt von Andrew Martin, einem Professor für Mathematik, um den technischen Fortschritt auszubremsen. Die erste Untat der Außerirdischen besteht darin, den echten Andrew Martin zu beseitigen, der die „Riemannsche Vermutung“ bewiesen hat und damit den Weg bereiten kann für technische Entwicklungen, für die die Menschheit aus Sicht der Vonnadorianer nicht reif genug ist.

Riemann hat die Eigenschaften der sogenannten Zeta- Funktion, einer komplexwertigen Funktion, untersucht und einen Zusammenhang mit den Primzahlen und damit zwischen Analysis und Arithmetik erkannt. Es gibt eine Beziehung zwischen der Anzahl der Primzahlen und den Nullstellen der Zeta- Funktion. Riemann vermutete, dass alle nichttrivialen Nullstellen dieser Funktion auf einer Geraden liegen. Der Beweis dieser „Riemannschen Vermutung“ wird als Heiliger Gral der Mathematik bezeichnet. [1]

Inwiefern dieser mathematische Beweis den Fortschritt beflügeln soll, wird nicht erläutert und bleibt damit der Fantasie der Leser überlassen. Sind es nicht eher die Fortschritte in Physik, Chemie und Biologie, die die Menschen technisch weiterbringen? Jedenfalls wurde die Infinitesimalrechnung bereits eingesetzt, als die logischen Fundamente noch nicht abschließend geklärt waren. Denn sie funktionierte trotz dieser Schwächen. [2]

Die Außerirdischen haben trotz ihrer hohen Intelligenz Vorurteile über die Menschheit. „Ich hatte außerdem gehört, dass die Menschen eine Lebensform von bestenfalls mittelmäßiger Intelligenz waren, die zu Gewalttätigkeit, sexueller Schamhaftigkeit und schlechter Lyrik neigten und die Angewohnheit hatten, sich ständig im Kreis zu bewegen.“ (32) Wo bleibt da die Weisheit? Wechselt man die Perspektive, so erscheinen die Vonnadorianer (aus Sicht der Menschen) als gefühllose Logiker, die vor Mord nicht zurückschrecken.

Im Kern geht es in dem Buch darum, Vorurteile aufzuarbeiten. Das geschieht dadurch, dass der Vonnadorianer im Zuge seines Aufenthalts auf der Erde seine Perspektive wechselt. Im Körper eines Menschen und in Gesellschaft von Menschen entwickelt er sich hin zum Menschen. „Ich war einer von Ihnen geworden. Gefangen in der menschlichen Gestalt, unfähig, dem unausweichlichen Schicksal, das sie erwartete, zu entrinnen.“ (122) Seine Argumentation „... wenn man etwas retten will, muss man manchmal einen kleinen Teil davon töten“ (135), wird im Zuge der Entwicklung ad absurdum geführt.

Das Buch ist lehrreich und phasenweise auch humorvoll. Lehrreich ist der Entwicklungsprozess des neuen Andrew Martin und das Zusammenspiel mit „seiner“ Familie. Humorvoll ist insbesondere der Einstieg in die Handlungen bis Andrew Martin in der Psychiatrie landet. Die „97 Ratschläge für einen Menschen“ (324) wirken aufgesetzt und belehrend. Sollten diese sich nicht aus den Handlungen selbst ergeben und nur in den Köpfen der Leser entstehen?

Trotz der Kritik habe ich das Buch gern gelesen, weil es mich neugierig gemacht hat. Es ist eine Hommage auf das menschliche Leben mit all seinen Schwächen. Wir sind keine Vonnadorianer, und das ist auch gut so. Ich glaube der im Nachwort angedeutete Selbstbezug des Autors kommt insbesondere im Entwicklungsprozess von Andrew Martin zum Ausdruck.

[1] Marcus du Sautoy: „Die Musik der Primzahlen“
[2] Ian Stewart: „Weltformeln“

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.09.2016
Die Emanzipation - ein Irrtum! (eBook, ePUB)
Mersch, Peter

Die Emanzipation - ein Irrtum! (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Neukonzeption der Gleichberechtigung

Peter Mersch beschreibt die Auswirkungen der Angleichung der Geschlechter auf die Gesellschaft und greift dabei auf die Evolutionstheorie zurück. „Einige Anthropologen sind der Ansicht, die spezifische menschliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern habe einen entscheidenden evolutionären Vorteil dargestellt, da es dem Homo Sapiens auf diese Weise gelungen ist, mehr Nachwuchs durchzubringen.“ (23/24)

„In patriarchalischen Gesellschaften besteht ein positiver Zusammenhang zwischen gesellschaftlichem Erfolg und der Zahl an Nachkommen.“ (32) In modernen Gesellschaften mit Gleichberechtigung ist das umgekehrt. Mersch analysiert, warum das so ist und schlägt vor, dass die Strategie geändert werden muss. Dazu gehört, die Nachwuchsarbeit als gesellschaftliche Kollektivaufgabe zu verstehen. Auch ist es erforderlich, reproduktive und produktive Aufgaben gleichzustellen.

Mersch liefert anschauliche Beispiele für seine Thesen. Er stellt das gesellschaftliche Weltbild der letzten Jahrzehnte infrage. Seine Ausführungen wirken erfrischend und verständlich. Selten findet man in Büchern ein so umfangreiches Literaturverzeichnis, was deutlich macht, dass sich der Autor intensiv mit der Materie vertraut gemacht hat. Das Buch ist empfehlenswert, weil Thesen aufbereitet und fundiert begründet werden, die gegenläufig zum Mainstream sind.