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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 763 Bewertungen
Bewertung vom 07.09.2016
Die Vermessung der Welt
Kehlmann, Daniel

Die Vermessung der Welt


ausgezeichnet

Forschung im Spannungsfeld von Abenteuer und Normalverteilung

Der Roman handelt von den Lebensgeschichten zweier bemerkenswerter deutscher Persönlichkeiten, die auf völlig unterschiedlichen Wegen wissenschaftlich tätig waren und der Menschheit großartige Werke hinterlassen haben. Der eine ist der Mathematiker, Geodät und Astronom Carl Friedrich Gauß und der andere der Abenteurer, Naturforscher und Universalgelehrte Alexander von Humboldt. Beide wurden im 18. Jahrhundert, dem Jahrhundert der Aufklärung, geboren und waren in ihrem rationalen Denken Kinder dieser Zeit.

Daniel Kehlmann beschreibt besondere Stationen im Leben von Gauß und von Humboldt. Reale Ereignisse sowie bedeutende Werke dieser beiden außergewöhnlichen Wissenschaftler fließen ein. Die schriftstellerische Freiheit beginnt bei ihrer Charakterisierung und ihrem persönlichen Umgang mit Erfolg. Kehlmann überzeichnet ihre Charaktere auf humorvolle, manchmal groteske Weise und lässt die Protagonisten mit ihren verschiedenen Weltbildern und ihrer unterschiedlichen Art der Forschung aneinander geraten. Seine Figuren wirken exzentrisch. Kehlmann suggeriert der Leserschaft, dass extreme Leistungen nur vollbringen kann, wer auch einen extremen Charakter besitzt.

Der Autor versteht es, imposante Leistungen der Protagonisten geschickt in den Handlungsablauf einzuflechten. Wenngleich die beschrieben Werke keine Fantasieprodukte sind, werden manche Ideen instrumentalisiert, in dem ihnen eine Bedeutung beigemessen wird, die sie aus historischer Sicht nicht haben konnten. So hat Gauß zweifelsohne die nichteuklidische Geometrie entdeckt, konnte hierin aber kaum mehr als ein alternatives mathematisches Modell sehen. Ein physikalisches Modell eines gekrümmten Raumes, in dem diese Geometrie zur Anwendung kommt, taucht erst viele Jahre später in Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie auf.

Die Kontroversen zwischen Gauß und von Humboldt sind, ebenso wie die sonstigen Gespräche im Roman, nicht sonderlich tiefgehend. Wer Diskussionen erwartet, die auch nur im Ansatz denen zwischen Settembrini und Naphta in Thomas Manns „Der Zauberberg“ gleichen, wird enttäuscht. Es geht Kehlmann offensichtlich nicht so sehr um den Inhalt der Dialoge, sondern um deren Stil und um die Menschen, die sie führen. Die Auseinandersetzungen sind humorvoll und haben einen hohen Unterhaltungswert. Kehlmanns Stärke sind pointierte Dialoge, in denen sich nicht nur Witz und Intelligenz offenbaren, sondern insbesondere die (immanenten) Schattenseiten der Genialität deutlich werden.

Das Buch kann ich sehr empfehlen, auch wenn ich darin nicht, wie im Klappentext beschrieben, einen philosophischen Abenteuerroman sehe. Es ist eher eine Satire. Der Roman handelt von der Vermessenheit zu glauben, die Welt durch Gitternetze, Zahlen und statistische Ergebnisse erfassen zu können. Es handelt sich aber auch um einen psychologischen Roman über das Leben und die Grenzen genialer Menschen – eine Gratwanderung zwischen Ruhm und Lächerlichkeit.

Bewertung vom 06.09.2016
Sehen lassen
Wiesing, Lambert

Sehen lassen


sehr gut

Ein Buch über die Praxis des Zeigens

Innerhalb der Zeige-Forschung haben sich zwei Strömungen herauskristallisiert und zwar die evolutionäre und die phänomenologische Beschreibung des Zeigens. Im ersteren Sinne ist Zeigen etwas Ursprüngliches, ein erster Schritt auf dem evolutionären Weg zur Sprache. Die zweite Form der Beschreibung widerspricht dieser nicht und kann als deren Ergänzung angesehen werden. Danach hat sich das Zeigen als eigenständige Dimension des menschlichen Handelns (weiter)entwickelt, welche nicht auf Sprache reduziert wird, sondern neben anderen Bewusstseinsleistungen existiert.

Autor Lambert Wiesing setzt sich mit der Frage auseinander, „wer“ etwas zeigt, wenn davon die Rede ist, dass ein Bild etwas zeigt. Da „Zeigen“ eine Handlung ist, muss ein Subjekt vorausgesetzt werden, welches etwas zeigt. Das Subjekt entscheidet darüber, was das Bild zeigen soll. „Das Bild zeigt Paris“ heißt genau genommen „Jemand zeigt jemandem mit dem Bild Paris“.

Aber ganz so einfach liegen die Dinge nicht. Einerseits gilt als richtig, dass man mit Bildern die realen, sichtbaren Dinge dieser Welt zeigen kann, andererseits ist der Hinweis ebenso überzeugend, dass der Betrachter durch ein Bild keineswegs den realen Gegenstand selbst zu sehen bekommt. Damit stößt man auf eine zentrale Frage der philosophischen Bildtheorie, mit der sich Wiesing im zweiten Teil des Buches beschäftigt..

Der Autor erklärt die Positionen der Illusionstheorie, der Phänomenologie und der neuen Bildmythologie. Bilder und Illusionen haben gemeinsam, dass für den Betrachter etwas sichtbar wird, was im physischen Sinne nicht real gegenwärtig ist. „Für Günther Anders zeigt ein Bild nicht etwas Reales, das nicht-anwesend ist, sondern das Bild zeigt etwas Nicht-Reales, das anwesend ist.“ (69)

Im Zuge der Erläuterungen zur neuen Bildmythologie macht Wiesing auf ein Kategorieproblem aufmerksam. Die Aussage „Ein Bild zeigt das und das“ ist genauso falsch wie die Aussage „Das Gehirn denkt das und das“. (80) In beiden Fällen wird ein physisches Ding vermenschlicht, um einen geistigen Vorgang zu beschreiben.

Wiesing liefert sechs Beschreibungen für das Zeigen. Angefangen mit der pragmatischen Interpretation, wonach das Bild nicht nur, aber auch ein Werkzeug zum Zeigen ist, führt sein Weg zur für alle Kulturen bedeutenden Zentralperspektive.

In einer Zeitschrift werden Bilder in einem eindeutigen Verwendungszusammenhang gezeigt, im Museum ist die Situation eine andere. Das Museum konfrontiert den Besucher mit Bildern, weil sie Bilder sind. Das Bild selbst ist das Objekt der musealen Zeige-Handlung. „Kunstausstellungen zeigen nicht zeigende Bilder, sondern sie zeigen die Möglichkeiten, wie Bilder zeigen können.“ (191)

Wiesing beschäftigt sich mit kausalen Zusammenhängen zwischen Bild und Gegenstand. „Wer mit etwas etwas in der Welt zeigen möchte, muss entweder eine Spur von diesem Etwas zum Zeigen verwenden oder etwas so zum Zeigen verwenden, als wäre es eine Spur.“ (215) Mit „Spur“ ist im weitesten Sinne ein kausaler Zusammenhang gemeint.

„Sehen lassen“ ist ein interdisziplinäres Fachbuch, in dem ein sehr spezielles Thema differenziert analysiert wird. Lambert Wiesing widerspricht darin dem Mythos, Bilder würden allein deshalb etwas zeigen, weil auf ihnen etwas sichtbar ist. Inhaltlich führen die Darstellungen aus unterschiedlichen Perspektiven zu thematischen Überschneidungen. Dem Leser geht es so, wie dem Autor, bevor er sich mit der Thematik beschäftigt hatte: „Der Begriff erschien mir – heute möchte ich sagen: zu lange – unproblematisch und selbstverständlich.“ (7) Ich hätte mir am Ende der Kapitel kurze Zusammenfassungen mit den wesentlichen Aussagen gewünscht.

Bewertung vom 05.09.2016
Geh@ckt (eBook, ePUB)
George, Michael

Geh@ckt (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Blackout - Gefahren aus dem Netz

Dass im Internet Gefahren lauern, ist mittlerweile eine Binsenweisheit. Gefälschte Rechnungen, unberechtigte Abmahnungen, gestohlene Identitäten u.v.a.m. sprechen eine deutliche Sprache. Nicht zuletzt durch die NSA- Affäre ist jedem Bürger klar geworden, dass sämtliche digitale Kommunikation überwacht wird und dass das persönliche Profil ein offenes Buch ist.

Computer und Internet haben sich in einem solch rasanten Tempo entwickelt, dass für Sicherheitsfragen keine Zeit mehr blieb. „Facebook, Twitter und E-Mails zu verbieten ist eine ebenso gute wie sinnvolle Empfehlung wie die, das Atmen einzustellen, weil die Luft verschmutzt sein könnte.“ (10) Autor Michael George bringt das Dilemma auf den Punkt.

Die Vernetzung elektronischer Steuerungstechnik von Versorgungseinrichtungen mit dem Internet führt zu einer Potenzierung der Gefahren. Was passieren könnte, wenn Hacker das Stromnetz lahmlegen, hat jüngst Marc Elsberg in seinem Roman „Blackout“ beschrieben. Wir würden im Chaos versinken.

In manchen Unternehmen sind gewachsene Systeme in ihren Abhängigkeiten nicht mehr vollständig zu durchschauen. „Wir können das betroffene System nicht vom Netz nehmen, weil wir nicht wissen, welche Auswirkungen das auf unser Gesamtnetz hätte. Es ist zu komplex.“ (46)

Michael George unterscheidet zwischen Angriffen von einzelnen Personen, Gruppierungen und von staatlichen Stellen. Deutsche staatliche Stellen betreiben lt. George keine Wirtschaftsspionage. (80) George erklärt die Unterschiede zwischen Nachrichtendiensten und Geheimdiensten. Erstere unterliegen einer Kontrolle.

Die Veröffentlichungen von Snowden haben die Tätigkeiten der Geheimdienste in den Fokus gerückt. George macht deutlich, dass Terrorabwehr kein vorgeschobener Grund für Wirtschaftsspionage sein darf. Auch dürfen Daten nicht willkürlich abgehört werden. Aber wer kontrolliert das?

Warum ist die Abwehr von Hackerangriffen so schwierig? George geht ausführlich auf diese Problematik ein. Erstens sind viele Systeme zu komplex, zweitens erhält Sicherheit auch aus Kostengründen nicht die Priorität, die ihr zustehen müsste, drittens spielt der Faktor Zeit eine große Rolle und viertens berichten Unternehmen nur selten über Angriffe, um ihrem Image nicht zu schaden.

George gibt Tipps für private Nutzer und für Firmen im Umgang mit Sicherheit. So sollten z.B. die 5% besonders wichtigen Firmendaten besonders gesichert und einzelne Netze wenn möglich getrennt werden. IT-Sicherheit muss als Unternehmensziel definiert werden. Für private Nutzer gibt es neben den Mainstream-Produkten zahlreiche Alternativen.

In „Die Numerati“ thematisiert Stephen Baker, wie Datenhaie Profile auswerten und den Menschen quasi digital nachbilden. Ein Beispiel für die digitale Datensammelwut liefert auch Gerald Reischl in „Die Google Falle“. Diese Szenarien sind wirtschaftlich motiviert und zumindest nicht lebensgefährlich. Was Michael George aufzeigt geht einen Schritt weiter. Er beschreibt die Folgen von Angriffen auf unsere Infrastruktur - aber auch Möglichkeiten der Gefahrenabwehr.

Hinsichtlich der Struktur des Werkes sehe ich Möglichkeiten zur Verbesserung, denn die Kapitel wirken beliebig aneinandergereiht. Das Buch richtet sich nicht an IT-Experten, sondern an Interessierte, die sich einen allgemeinen Überblick über das Thema Datensicherheit verschaffen wollen. Diese werden sensibilisiert, sich mit dem Thema intensiver zu beschäftigen.

Bewertung vom 04.09.2016
Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit
Searle, John R.

Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit


sehr gut

Konstruktion einer objektiven gesellschaftlichen Wirklichkeit

John R. Searle, Professor für Philosophie an der University of California in Berkeley, beschäftigt sich mit Grundlagen der Sozialwissenschaften aus philosophischer Sicht. Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist die Feststellung, dass einerseits die reale Welt so funktioniert, wie sie von den Naturwissenschaften beschrieben wird, es andererseits aber geistige bzw. gesellschaftliche Wirklichkeiten gibt, die nicht naturwissenschaftlich erklärbar sind. „Wie passt eine geistige Wirklichkeit, eine Welt des Bewusstseins, der Intentionalität und anderer geistiger Phänomene in eine Welt, die vollkommen aus physischen Teilchen in Kraftfeldern besteht?“ (7)

Das Buch lässt sich, unabhängig von den Kapiteln, in vier Teile gliedern. Im ersten Teil geht es um die Frage, wie eine objektive gesellschaftliche Wirklichkeit konstruiert wird. Searle entwickelt eine allgemeine Theorie der Ontologie gesellschaftlicher Tatsachen und gesellschaftlicher Institutionen. Der Sprache kommt dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Struktur menschlicher Institutionen ist eine Struktur konstitutiver Regeln. Kurioserweise sind uns diese Regeln nicht bewusst. Folgen wir den Regeln unbewusst? Die Antwort ist kompliziert, wie Searle im zweiten Teil des Buches deutlich macht, sie erinnert an eine evolutive Anpassung.

Autor Searle verteidigt im dritten Teil des Buches die Hypothese des externen Realismus. Darunter versteht er eine Wirklichkeit, die unabhängig von unseren Repräsentationen von ihr ist. Mit dieser Auffassung steht er prinzipiell im Einklang mit der Evolutionären Erkenntnistheorie und in Opposition zum Konstruktivismus. Er spricht von Konstruktion nur im Zusammenhang mit (beobachterabhängigen) sozialen Realitäten. Das Thema behandelt er auf ca. 50 Seiten, wohl wissend, dass eine ausführliche Diskussion Bücher füllen würde. Seine Theorie über das Soziale beruht auf dem externen Realismus. „Ich habe nicht bewiesen, dass der externe Realismus wahr ist. Ich habe versucht zu zeigen, dass er durch die Verwendung von sehr großen Teilen einer öffentlichen Sprache vorausgesetzt wird.“ (203)

Im vierten Teil des Buches rechtfertigt Searle eine bestimmte Version der Korrespondenztheorie als methodologisches Hilfsmittel für die Untersuchung gesellschaftlicher Tatsachen. Nach der Korrespondenztheorie der Wahrheit sind subjektive Aussagen genau dann wahr, wenn sie mit den Tatsachen in der objektiven Welt übereinstimmen. Searle diskutiert ausführlich Einwände gegen die Korrespondenztheorie und begründet seinen Standpunkt.

„Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ ist ein Buch für Fachleute. Es enthält keine populärwissenschaftliche Aufbereitung von Searles Theorie. Die Kenntnis von Fachbegriffen wird vorausgesetzt, sie werden nicht erklärt. Es handelt sich um ein Grundlagenwerk über Searles Theorien.

Bewertung vom 01.09.2016
Wie wir sterben lernen
Schüle, Christian

Wie wir sterben lernen


sehr gut

Ein Tabu-Thema rückt in den Fokus

Gleich zu Beginn des Buches gibt Christian Schüle einen Sicherheitshinweis: „...nicht alles, was verhandelt wird, lässt sich empirisch beweisen“ und „An keiner Stelle wird es eine Handlungsanleitung geben“. Er will nicht belehren, sondern dazu ermutigen, sich individuell mit einem schwierigen Thema auseinanderzusetzen.

Es gibt wenige sichere Ereignisse, der Tod gehört zweifelsohne dazu. Und so hat Autor Schüle recht, wenn er sinniert, dass „der Kampf gegen den Tod schon bei der Geburt verloren ist“. Trotz dieser trivialen Erkenntnis ist ein Wandel im Denken erkennbar. Der Mensch sucht Trost im Diesseits, nimmt sein Leben selbstbestimmt in die eigene Hand. Die Technik ermöglicht und verführt zu einem schmerzfreien, leidlosen, nicht ewigem, aber langem Leben. Eine Ethik ohne Gott ist Folge dieser Diesseitsbejahung.

Was ist Sterben? Oder anders gefragt: Wann ist der Mensch tot?. Diese Frage ist aus medizinischer Sicht nicht leicht zu beantworten. Schüle macht an einem fiktiven Beispiel deutlich, dass der Hirntod ein unscharfes Kriterium ist, da das Kleinhirn, welches aus verschiedenen Gründen meist nicht untersucht wird, noch aktiv sein kann, wenn Großhirn und Stammhirn keine Reaktionen mehr zeigen. Auch machen Untersuchungen deutlich, dass die Organentnahme bei Hirntoten zu messbaren Stressreaktionen führen kann.

Schüle beschreibt einen Wandel beim Umgang mit dem Sterben, ausgelöst durch Randgruppen der Gesellschaft, die reichlich Erfahrungen mit einem würdelosen Tod gesammelt haben. Auch die Kirchen folgen mehr der Seelsorge des Sterbenden und weniger dem Dogma der Erbsünde, wonach sich der Mensch nicht selbst erlösen kann. Ist der Tod der größte Gleichmacher einer Welt ungleicher Individuen? „Der Tod ebnet [zweifelsohne] soziale, kulturelle, ökonomische Unterschiede und Hierarchien ein“.

Nach der Enttabuisierung der Sexualität Ende der 1960er Jahre steht eine Generation später der Tod im Brennpunkt der Öffentlichkeit. Lady Di, Papst Johannes Paul II und Michael Jackson sind Beispiele für die totale Medialisierung des Todes und für öffentliche Trauer. Die mediale Vernetzung beeinflusst das Verhältnis zur Trauer, rückt das Private in die Öffentlichkeit; Grenzen werden verschoben.

Die psychischen Nachfolgeerkrankungen eines unbewältigten Todes verursachen volkswirtschaftlich gesehen gewaltige Schäden; Krebserkrankungen auf nicht verarbeitete Traumata zurückzuführen bleibt aber spekulativ. Trauer lässt sich nicht kulturell, religiös oder staatlich verordnen, gefragt ist Individualität. Und so beschreibt Schüle in „Die allerletzten Dinge“ vier Erkenntnisse, die er im Hinblick auf das Sterben für bedeutend hält.

Autor Schüle gibt in fünf Introspektionen Einblick in das, was er selbst glaubt und dazu gehört u.a. die Unbestechlichkeit der Natur. Das Leben sieht er nicht als Geschenk an, da er gegen seinen Willen ins Leben geworfen wurde. Er legt Wert auf ein selbstbestimmtes Leben, auch dann, wenn es sich dem Ende zuneigt. „Ich will den Tod, wenn er eines Tages kommen wird, als notwendigen Teil meines Lebens begriffen haben“.

Es handelt sich bei diesem Buch nicht um leichte Lektüre. Dies gilt hinsichtlich des Themas und auch hinsichtlich der Sprache (eher „Spiegel“-Niveau als „Bild“-Niveau). Trotz Untergliederung in fünf Teile und vierzig Kapitel, vermisse ich einen stringenten Aufbau. Dennoch ist es Christian Schüle gelungen, sich mit diesem sensiblen Thema angemessen auseinanderzusetzen, ohne belehrend zu wirken oder ins Religiöse abzugleiten. Wenn ein Gedanke in seinen Ausführungen prägnant ist, dann die Aufforderung zum selbst Denken bzw. zum selbstbestimmten Leben.

Bewertung vom 31.08.2016
Psychologie für Dummies
Cash, Adam

Psychologie für Dummies


sehr gut

Ein verständlicher Überblick über die Grundlagen der Psychologie

Das Buch „Psychologie für Dummies“ ist eine wohl strukturierte, für eine breite Leserschaft angelegte, verständliche Einführung in die Grundlagen der Psychologie. Es ist aufgebaut wie ein Fachbuch, inhaltlich aber nicht überfrachtet und damit für Laien geeignet. Es gliedert sich in 8 Teile und 26 Kapitel. Besondere Symbole kennzeichnen wichtige Informationen. Der Einstieg ist in jedem Kapitel möglich. Durch Querverweise sind die Kapitel untereinander vernetzt.

Psychologie lässt sich definieren als wissenschaftlich begründete Erforschung von menschlichem Verhalten und von Denkvorgängen. Es ist eine empirische Wissenschaft, wenngleich laut Autor Adam Cash auch zahlreiche Erkenntnisse auf Autoritäten beruhen, auf klinische Forschungen (ohne systematische Untersuchungen) zurückgehen oder Ergebnis theoretischer Überlegungen sind. Damit gibt es Überschneidungen, aber auch signifikante Unterschiede zu den Naturwissenschaften.

Autor Cash erklärt die Bedeutung der Biologie für psychologische Erkenntnisse, hierzu gehören insbesondere Gehirn und Nervensystem. Dem Reduktionismus (Reduktion der Psychologie auf die Biologie) steht er kritisch gegenüber. „Sie scheint unseren Wunsch nach einem freien Willen, nach Selbstbestimmtheit und Bewusstsein zu beleidigen.“ (44) Dem Bewusstsein widmet er ein eigenes Kapitel.

Die Grundregeln des Denkens ähneln den Grundregeln von Computern. Es gibt einen Input, einen Speicher, Regeln für die Verarbeitung und einen Output. Ich hätte es begrüßt, wenn der Autor auch die Unterschiede zwischen Gehirn und Computer herausgearbeitet hätte. Diese werden u.a. deutlich, wenn es um Motivation und Emotionen geht. Motivation und Gefühle sind eng miteinander verzahnt.

Lässt sich Verhalten in Reiz und Reaktion zerlegen, wie Vertreter des Behaviorismus glauben? Cash erläutert klassische Experimente zur Untermauerung dieser Thesen (Klassische Konditionierung nach Pawlow, Thorndikes Katzen, Skinners Ratten). Diese Lehre hatte zum Ziel, die Psychologie zu einer exakten Naturwissenschaft hin zu entwickeln. Cash versäumt es, die Grenzen des Behaviorismus aufzuzeigen.

Auf 100 Seiten führt der Autor die Leser in die Grundlagen der Sozialpsychologie ein. Die Arbeiten von Sigmund Freud und die seiner Nachfolger werden erläutert. Hierzu gehören Einführungen in das Unbewusste und in den Machtkampf zwischen Es, Ich und Über-Ich. Cash erläutert kurz die späteren Theorien von Heinz Hartmann, Robert White, Alfred Adler und Erik Erikson.

In weiteren Ausführungen geht es um wichtige psychische Störungen wie Angststörungen, Depression, Schizophrenie und das Posttraumatische Stress-Syndrom. Dabei ist die Frage, was normales Verhalten ist, gar nicht einfach zu beantworten. Paul Watzlawick machte in „Vom Unsinn des Sinns oder Vom Sinn des Unsinns“ (58) mangels klarer Definition der Normalität deutlich, dass es in der Psychiatrie unmöglich ist, Pathologien zu definieren.

Das Buch ist mit über 400 Seiten recht umfangreich. Es vermittelt einen guten Überblick über Grundlagen und Methoden der Psychologie, ersetzt aber nicht den Rat von Experten. Das Buch ist für Leser geeignet, die ein überdurchschnittliches Interesse für den Menschen und sein Verhalten aufbringen, aber kein Fachbuch lesen wollen. Autor Adam Cash ist Dozent für Psychologie und Fachmann für forensische Psychologie.

Bewertung vom 31.08.2016
Leben ohne Brot
Lutz, Wolfgang

Leben ohne Brot


ausgezeichnet

Grundlagen der kohlenhydratarmen Ernährung

Der Mediziner Wolfgang Lutz (1913 – 2010) hat sich über 50 Jahre seines Lebens auf mehreren Ebenen mit dem Einfluss von Kohlenhydraten auf Zivilisationskrankheiten beschäftigt. Er begann 1958 in einem Selbstversuch mit der Reduktion von Kohlenhydraten auf seinem Speiseplan. Diese Form der Ernährung behielt er bis zu seinem Lebensende bei. Da persönliche Erfahrungen nicht zu wissenschaftlicher Anerkennung führen, ließ er seine Erkenntnisse in seinen Berufsalltag als Arzt einfließen und setzte sich wissenschaftlich mit dem Thema auseinander. Zahlreichen Patienten konnte er helfen.

In dem Buch verarbeitet Lutz seine persönlichen Erfahrungen und beschreibt, wie eine kohlenhydratarme Diät wirkt. Dieser allgemeine (und auch allgemein verständliche Teil) in den Anfangs- und Schlusskapiteln ist der Rahmen für den medizinisch-wissenschaftlichen Hauptteil des Buches. In diesem Hauptteil analysiert Lutz zahlreiche Krankheitsbilder und beschreibt Zusammenhänge zur Ernährung. Dabei wird manch eine althergebrachte Erkenntnis auf den Kopf gestellt. Aufschlussreich sind die Zusammenhänge zur Evolution, denen er ein eigenes umfangreiches Kapitel widmet. Auch wenn der Ackerbau 10000 Jahre zurückliegt, ist dieser Zeitraum verschwindend klein im Verhältnis zu den Jahrmillionen, die der Mensch bzw. seine nahen Verwandten durch die Evolution an die Umwelt angepasst wurden. 10000 Jahre reichen einfach nicht aus für eine vollständige genetische Anpassung des Menschen an das Getreide.

Zu Ernährungsfragen gibt es viele und insbesondere auch viele widersprechende Thesen. Die Leser müssen das, was Lutz schreibt nicht glauben, sie können es durch Umstellung der Ernährung selbst überprüfen. Das Buch ist ein Klassiker, auf das sich andere Autoren stützen, wenn sie sich mit Ernährungsfragen beschäftigen. Auf den letzten Seiten befinden sich Kohlenhydrattabellen sowie einige Rezepte.

4 von 4 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 30.08.2016
Bruno Latour zur Einführung
Schmidgen, Henning

Bruno Latour zur Einführung


sehr gut

Ein kreativer Erneuerer der Sozialwissenschaften

Der französische Philosoph und Sozialwissenschaftler Bruno Latour zählt zu den weltweit am häufigsten zitierten Buchautoren in den Sozial- und Geisteswissenschaften. Grund genug, sich mit ihm auseinander zu setzen. Autor Henning Schmidgen, Professor für Medienästhetik an der Uni Regensburg, entwickelt in diesem Buch ein Portrait dieses vielseitigen Wissenschaftlers. Dabei liegt der Fokus auf dessen Werken, Entwicklung und Beziehungsgeflecht und nicht auf der Person.

Die Zeittafel auf den letzten Seiten des Buches gibt Aufschluss über wichtige Stationen und Theorien von Bruno Latour, auf die Schmidgen im Rahmen seiner Ausführungen eingeht. Hierzu zählen u.a. seine Doktorarbeit über „Exegese und Ontologie in Bezug auf die Wiederauferstehung“, seine Forschungen am Salk Institute for Biological Studies in La Jolla (Kalifornien) und seine Arbeiten über Pasteur und die französische Medizin, um nur Beispiele zu nennen. Schmidgen beschäftigt sich insbesondere mit Werken Latours, die bis dato nicht in deutscher Übersetzung vorliegen.

Schmidgen geht es in dem Buch um den „empirischen Philosophen“ Latour. Primär dreht sich alles um die Frage: „Wie verhalten sich Wissen, Zeit, und Gesellschaft zueinander?“ (13) Latour kritisiert den Reduktionismus („Nichts reduziert sich auf etwas anderes, nichts leitet sich von etwas anderem ab, alles kann sich mit allem verbinden.“) (110) und ist mit Comtes der Meinung, dass sich langfristig gesehen weder die Biologie in der Physik und Chemie, noch die Soziologie in der Biologie auflösen wird. (112) Er thematisiert die Frage, ob nicht-menschlichen Akteuren eine Eigendynamik und vielleicht sogar Handlungsfähigkeit zugesprochen werden kann. (138) Sein erfolgreichstes Buch „Wir sind nie modern gewesen“ wirkt bereits vom Titel her provokant und ist ein Ausflug in das Reich philosophischer Essays.

„Bruno Latour zur Einführung“ ist keine (allgemein verständliche) Biographie, wie z.B. „Einstein“ von Johannes Wickert, in dem insbesondere auch der Mensch Einstein beschrieben wird und auch kein (lebhafter) persönlicher Bericht, wie z.B. „Die Doppel-Helix“ von Watson, sondern ein Buch über die wissenschaftlichen Stationen und Theorien von Bruno Latour für Fachleute. Auch wenn es phasenweise ein wenig trocken wirkt, wird das Netzwerk von Bruno Latour einschließlich seiner Theorien in der Breite nachvollziehbar beschrieben. Wer einzelne Texte von Latour kennt, erhält mit dieser Einführung einen Überblick auch über seine weniger bekannten Bücher.

Bewertung vom 29.08.2016
Tradition in der Wissenschaft
Heisenberg, Werner

Tradition in der Wissenschaft


sehr gut

Wegbereiter der modernen Physik

Werner Heisenberg (1901-1976) gehört neben Erwin Schrödinger, Nils Bohr, Paul Dirac, um nur einige Protagonisten aufzuführen, zu den Vätern der Quantentheorie. Die Texte zum Buch wurden noch mit dem Autor besprochen, wenngleich er die Veröffentlichung 1977 nicht mehr erlebt hat. Es handelt sich um Reden und Aufsätze, die u.a. die Anfänge der Quantenmechanik behandeln und damit eine historische Bedeutung haben.

Heisenberg analysiert in „Tradition in der Wissenschaft“ den Einfluss der Tradition bei der Auswahl der Probleme, in der wissenschaftlichen Methodik und in der Verwendung von Begriffen. Es sind insbesondere die durch Tradition geprägten Begriffe, die den Fortschritt lähmen. Ob Physik, wie zurzeit von Galilei, als Widerspiegelung göttlicher Schöpfungsideen betrachtet wird, dürfte nebensächlich sein, solange wissenschaftliche Methoden angewendet werden.

Die Entwicklung und das Verständnis der Quantentheorie ist eng verknüpft mit einem Wandel in der Welt physikalischer Begriffe. Fundamentale Symmetrien rücken als Ersatz für fundamentale Teilchen in den Fokus. Das Thema ist so bedeutend, das Heisenberg ihm mit „Die Begriffswelt in der Geschichte der Quantenmechanik“ ein eigenes Kapitel widmet.

In „Die Anfänge der Quantenmechanik in Göttingen“ gibt Heisenberg einen subjektiven Abriss über die Anfangsjahre bis 1927. Deutlich wird, dass eine präzise mathematische Beschreibung für eine physikalische Theorie eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung ist. Es bedarf einer begrifflichen Klärung.

In den folgenden Kapiteln thematisiert Heisenberg die Erforschung kosmischer Strahlen, die Rolle der Elementarteilchenphysik und den Begriff des Elementarteilchens. Da es sich nicht um ein Lehrbuch handelt, sondern um eine Sammlung von Aufsätzen, die zudem ungekürzt wiedergegeben werden, sind Redundanzen vorhanden.

Aufschlussreich sind die Begegnungen und Diskussionen mit dem Querdenker Albert Einstein. Heisenberg war in jungen Jahren fasziniert von der speziellen Relativitätstheorie. Einsteins unkonventionelle Denkweise lieferte reichlich Stoff für Diskussionen. Er machte deutlich, dass sich das Prinzip, nur beobachtbare Größen in einer Theorie zu verwenden, nicht durchhalten lasse und das erst die Theorie bestimmt, was beobachtet werden kann.

In „Die Richtigkeitskriterien der abgeschlossenen Theorien in der Physik“ stellt Heisenberg die Bedeutung der Intuition für den Wissenschaftler heraus. Der Physiker spürt, dass einzelne Phänomene des Erfahrungsbereichs eng zusammenhängen, auch wenn diese sich mathematisch noch nicht beschreiben lassen. Die zugehörige Mathematik ist häufig recht komplex.

„Tradition in der Wissenschaft“ ist kein Lehrbuch, sondern eine lesenswerte Sammlung über die Anfänge und Grundlagen der Quantenphysik. „Dabei kann und will ich nicht die Rolle des Historikers übernehmen … sondern ich möchte ein subjektives Bild entwerfen, möchte Einzelheiten schildern, die nicht in den Geschichtsbüchern stehen ...“ (43)