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Frankfurt

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Insgesamt 790 Bewertungen
Bewertung vom 12.05.2022
Die Paradiese von gestern
Schneider, Mario

Die Paradiese von gestern


ausgezeichnet

Frankreich, die Liebe, das Leben – ein gelungener Roman

„Es bleibt eben nichts, wie es ist. Weil sich alles verändert. Weil man nichts festhalten kann. Es gibt keine Beständigkeit. Nirgendwo und für niemanden.“ (S. 109)
DAS perfekte Buch für einen Frankreichurlaub oder einfach nur faul in der Sonne liegend. Mario Schneider hat einen großartigen Roman über die Liebe, die Vergänglichkeit, die Offenheit und das Leben an sich geschrieben. Gebettet in das Frankreich Anfang der 90er Jahre.
Wir begleiten die zwei Ostdeutschen Ella und René, die kurioserweise beide Französisch sprechen und sich mit ihrem Wartburg aufmachten Frankreich zu erkunden. Kaum Francs in der Tasche, aber mit viel Entdeckerlust sind die beiden unterwegs. In der Nähe von Bordeaux suchen sie eine Bleibe für die Nacht und stoßen auf dieses alte Schlosshotel. Eigentlich zu teuer so wie es scheint, aber sie werden für einen lächerlichen Betrag aufgenommen. Es bleibt nicht bei einer Nacht, es bleibt nicht nur beim Schloss. Paris wird der andere Schauplatz dieses Romans, der gebührend mit der Oberschicht in Szene gesetzt wird.
Im Grunde ist die Handlung banal, aber so großartig inszeniert: Ella ist Schauspielerin und fließt über vor Emotionen und Sehnsüchten. Ihr Freund René ist nüchtern, zurückhaltend, eher der ruhige Typ. Sie stellt seine Liebe in Frage.
„Die Sehnsucht des Menschen ist sein Verhängnis“ (S. 407)

Der zweite Strang hat die Familie des Anwesens im Blick, die adeligen de Violet. Auch hier wieder eine Frage der Liebe, auch das Verhältnis zum Sohn ein schwieriges. Obendrauf kommt eine gesellschaftliche Komponente, einerseits die ostdeutsche Perspektive auf das kapitalistische Frankreich und Neuland für die beiden sowie die eigenen französische „Altes-Geld“-Perspektive auf die Neureichen und überhaupt auf die gnadenlosen Bewertungen untereinander. Das schnelle Abrutschen aus den angesehenen Kreisen.
„Das ist eigentlich das Schlimmste am Älterwerden, dass man immer klarer sieht, was man für Fehler in seinem Leben gemacht hat und dass man nichts mehr daran ändern kann. Sinnlose Erkenntnisse, die einen auf dem Weg zum Grab begleiten.“ (S. 523)

Die knapp 550 Seiten waren eine große Freude zu lesen, wirklich gekonnt geschrieben und ein stimmiges Buch. Es passiert einiges und doch so wenig. Die Auseinandersetzungen und wirklich guten Gespräche in diesem Roman machen es so lesenswert. Und ja, am Ende blieben die Augen bei mir nicht trocken. Ach, da muss ich noch anfügen, es ist in keinsterweise kitschig, ganz im Gegenteil, fast nüchtern und intensiv analytisch geschrieben in einer luftigen sommerlichen Prosa.

Ich wünsche diesem tollen Roman viele Leser:innen!!! Grandios - kommt auf jeden Fall in meine Top 10 des Jahres 2022!

Bewertung vom 12.05.2022
Diebe des Lichts
Blom, Philipp

Diebe des Lichts


sehr gut

Der Alltag des Fußvolkes zu unwirtlichen Zeiten

Kleine Warnung vorab, denn dieser historische Roman ist brutal und beschreibt das Niedermetzeln des gemeinen Volkes nur zu eindringlich. Es ist erschütternd zu lesen, dass ohne Geld, Macht und Ansehen, dass eigene Leben ständig in Gefahr war. Daher die kleine Warnung, dass der Roman stellenweise bei mir Atemnot hervorbrachte, weil die menschlichen Grausamkeiten so genau beschrieben wird.
Genauso startet der Roman im Jahr 1572 in dem eine Krähe einen brutalen Überfall spanischer Soldaten in Flandern auf einem Hof beobachten. Die beiden Söhne des Hofes, Sander und Hugo können sich in den Wäldern verstecken und überleben. Es ist die Zeit in der Fernando Alvarez de Toledo die Calvinisten niedermetzelte in Flandern, die sich gegen die katholische Kirche aufgelehnt hatten.
Die beiden Brüder verschlägt es im Laufe des Romans nach Rom, den Sander hat eine Begabung. Er zeichnet und malt hervorragend Blumen, Gestecke, Stillleben. Er heuert bei einem berühmten Maler in dessen Werkstatt an und wird ein gefragter Maler. Hugo, der verstummte Bruder, weicht nicht von seiner Seite und wird sein Assistenz. Außerdem ist da noch die Tochter des Meisters: Chiara. Das Leben könnte etwas Glück für die beiden bereithalten, aber leider trifft es sie erneut und im zweiten Teil verschlägt es die beiden auf weniger schöne Art nach Neapel. Mittlerweile ist es 1601 und ihr neuer Herr ist ein spanischer Kardinal. Auch er durch Rücksichtslosigkeit, Gier und eigenem Vorteil getrieben.
Philipp Blom hat ein extrem gut recherchiertes Buch geschrieben, ist er doch von Hause aus Historiker und präsentiert hier die Fakten außerordentlich gut. Auch besonders gut an diesem Roman ist die Würdigung des normalen Volkes und die klare Tatsache, dass man ohne Macht, ohne Geld und ohne jeglichen Schutz der Welt und dem Tod täglich ausgesetzt war durch Hunger, Krankheiten, Kriege und Angriffe. Dieser Kontrast ist hervorragend ausgearbeitet. Auch das Malereihandwerk wird vortrefflich beschrieben.
Auf knapp 450 Seiten wird ein Bild vom damaligen Europa als fiktionale Geschichte gestrickt, die einem diese Epoche weit näherbringt als viele trockene historische Sachbücher. Durch die detaillierten Beschreibungen muss man aber ein Faible für historische Stoffe haben, wenn man zu diesem Roman greift.

Bewertung vom 10.05.2022
Ein Lied für Blue
Kelly, Lynne

Ein Lied für Blue


ausgezeichnet

Ein einfühlsam tolles Buch!

Was für ein Buch! Wir sind restlos begeistert. Endlich mal ein Buch, dass nicht nur entweder mir als Elternteil gefällt ODER meinen Kindern. Nein, dieses Buch hat uns alle überzeugt! Warum? Das Buch geht ans Herz.
Der Roman ist aus der Sicht der gehörlosen Iris geschrieben, die sich fortwährend trotz Gebärdendolmetscherin unverstanden fühlt. Dann erfährt die 13 jährige im Bio-Unterricht von einem Wal, der leider auf der falschen Frequent singt und dadurch einsam im Ozean unterwegs ist. Sie hat die Idee ein Lied für diesen Wal zu schreiben und es ihm vorzuspielen. Aus dieser fixen Idee wird ein reales Projekt. Mit ihrer auch gehörlosen Oma tritt sie letztendlich eine Reise zum Wal an.
Hier gibt es eine weitere Handlungsebene, denn Iris wie ihre Großeltern sind gehörlos, ihre Eltern und ihr Bruder sind hörend. Das schweißte sie zusammen bis der Großvater starb und die Oma in ihrer Trauer versank. Dieses Wal-Projekt bringt sie nun der Enkelin und der Lebensfreude wieder näher.
Der Roman greift in einer Geschichte vielschichtige Elemente auf. Zum einen bringt es das Leben eines Gehörlosen Kindes sehr nahe und das äußerst real, ist doch die Autorin schon lange als Gebärdendolmetscherin aktiv und die Szenen daher überzeugend echt gestaltet. Dann das Herzensprojekt selbst, das übrigens auch teilweise real ist, denn diesen Wal gab es wirklich. Hier wird deutlich das Wille, Mut und Kraft viele in Gang setzen kann. Und zu guter Letzt, dass eine familiäre Situation durch Verlust, Trauer und Tod gemeinsam einen Weg finden muss, auch wenn es nur ein Familienmitglied förmlich in den Abgrund reißt.
Der Verlag gibt ein Alter ab 12 Jahren an, das finde ich angemessen und passt. Wobei es auch früher ab 10 Jahren gelesen und vorgelesen werden kann um das ein und andere noch zu erklären.
Toll ist auch das ganz hinten im Buch der Buchtitel in Gebärdensprache gezeigt wird! Nettes Extra.
Eine große große Leseempfehlung! Tolles Buch!

Bewertung vom 09.05.2022
Nebenan
Bilkau, Kristine

Nebenan


ausgezeichnet

Nebenan oder nebenher?

Kristine Bilkau ist ein großartiges Portrait zweier durchschnittlicher Frauen gelungen. Der Roman ist ganz gegenwärtig und durch die Normalität der oberflächlichen Betrachtung, erscheint es uns als ob wir die eine oder die andere schon getroffen hätten. Wir arbeiten uns in beiden Figuren voran, tauchen ab und lernen peu á peu was in ihnen vorgeht.
Da ist Astrid, Anfang 60, Landärztin und tief verwurzelt in diesem kleinen Nest am Nordostseekanal. Eine glückliche Ehe mit 3 Kindern, sie steht mit beiden Beinen fest im Leben, resolut und anpackend. Aber mit der Zeit merken wir Leser:innen, dass sich da doch was tut im Inneren, wenn viele verschwinden aus dem Ort, die eigenen Kinder sich nicht mehr melden. Ihre Sorgen keimen auf.
Die andere Protagonistin ist Julia, 38 Jahre alt. Erst kürzlich in den Ort gezogen mit ihrem Partner Chris und mit einem Kinderwunsch, der sich bisher nicht erfüllen ließ. Beide gehören in die achtsame Welt der Umweltretter und wollen ihren Teil dazu beitragen, dass die Welt für die nächsten Generationen ein besserer Ort wird. Sie eröffnet einen Keramikladen im Nachbarort, aber wäre doch gerne mit ihren Sehnsüchten alleine.
Es ist bereits der dritte Roman der Hamburgerin Kristine Bilkau und Schreiben gelingt ihr! Es liest sich wunderbar leicht und hat trotzdem diese Tiefen. Es gibt nicht nur das eine Thema, hier werden Fragen aufgeworfen, hier wird gedacht und die Charaktere reiben sich (meist an sich selbst).
Ich habe den Roman als ausloten von Grenzen empfunden, wann wird kümmern zu einmischen? Wann ist es in einem kleinen Ort aufeinander achten und wann ist es schon Voyeurismus? Vor allem auch das Hinterfragen von Plänen, die für das eigenen Leben gemacht werden, stand im Mittelpunkt des Textes. Hält man strickt an ihnen fest oder sollte man die Zügel auch mal lockern um wieder atmen zu können? Und zu guter Letzt war natürlich ein Kernelement der Strukturwandel auf dem Land in den kleineren Ortschaften spürbar und wirft auch Fragen des gesellschaftlichen Miteinander auf.
Fazit: Vielschichtig, kontrastreiche Lektüre - Absolut lesenswert!

Bewertung vom 09.05.2022
Tiefes, dunkles Blau
Kobler, Seraina

Tiefes, dunkles Blau


ausgezeichnet

Sehr gelungen, da mehr Zürich als Krimi!

Es ist wie bei jedem Krimi mal wieder die Frage, passt er zu mir oder eben nicht. Und da die Bandbreite mittlerweile so groß ist, gibt es bei den Krimilesern oft polarisierende Meinungen. Denn es gibt da das Wohlfühl-Lager der Regionalkrimis und lustigen Krimis, dann die tiefgründigen, fast romanhaften Krimis und natürlich die blutigen, die so manches mal auch als Thriller durchgehen könnten.
‚Tiefes, dunkles Blau‘ gehört aus meiner Sicht zwischen die Schubladen 1 und 2, da es sich um einen Krimi handelt, der ganz stark Zürich im Focus hat. Aus meiner Sicht steht hier nicht die Mordermittlung im Vordergrund, sondern die Stadt Zürich und die Schweizer Mentalität. Mir hat es gut gefallen. Mir schien es eher als brauchte Seraina Kobler einen guten Rahmen um ihre Liebe zu Zürich zwischen zwei Buchdeckel zu bekommen und ich fand es äußerst gelungen. Auch merkt man, dass die Autorin in Zürich lebt und die Stadt kennt wie ihre Westentasche.
Trotz allem ist es ein Buch mit Krimihandlung und hier steht die Seepolizistin Rosa Zambrano im Mittelpunkt. Sie wird zu einem Leichenfund gerufen. Der Tote hatte sich in einem Fischernetz verfangen. Und Rosa erkennt ihn, ist er doch der Arzt, den sie kürzlich aufsuchte wegen ihres Kinderwunsches. Die Ermittlungen beginnen und es wird recht schnell klar, dass der Mann nicht sonderlich viele positive Eindrücke hinterlassen hat. Das Privatleben der Ermittlerin ist immer präsent und nimmt viel Raum ein, was ich sehr mochte.
Fazit: Für alle Fans der sonstigen Krimi-Reihen aus dem Diogenes Verlag. Wieder eine Reihe, die ich zumindest weiterverfolgen werde!

Bewertung vom 06.05.2022
Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1
Schoch, Julia

Das Vorkommnis / Biographie einer Frau Bd.1


ausgezeichnet

„Wir haben übrigens denselben Vater.“

‚Das Vorkommnis‘ ist der Auftakt einer Trilogie, dass der Biografie einer Frau. Es beginnt mit genau dem titelgebenden Vorkommnis. Die Protagonistin ist Autorin und beendet soeben eine Lesung in Lübeck. Es kommt eine Frau auf sie zu und sagt: „Wir haben übrigens denselben Vater.“
Und das ist der Satz der alles ins Wanken bringt. Nicht sofort, denn die Erkenntnis über das Vorkommnis muss noch einsickern. Aber dann setzt es sich fest und bringt das familiäre Gleichgewicht aus Elternhaus und eigener Ehe ins Wanken. Alles wird in Frage gestellt und hinterfragt. Sie nimmt die neue Erkenntnis der Halbschwester mit und trägt sie wie eine Schwangerschaft mit sich herum. Bis nach Detroit wo sie ein Schreibstipendium antritt.
Es ist das was man von Julis Schoch erwartet. Leise mäandert, sezierende Gedanken. Ein entschleunigtes Lesen. Man muss gewillt sein ihr in jeden Winkel der Gedanken folgen zu wollen und das in einer starken Prosa. Ich mag Julia Schochs Schreibstil ungemein, auch wenn ich ihr inhaltlich nicht ganz zuträglich bin. Es mag paradox erscheinen, aber ich lese Julia Schoch fast ausschließlich wegen ihrer Schreibkunst und nicht des Inhalts wegen.
Fazit: Knappe 200 Seiten in Gedankenwühlerei, wenig Substanz, aber sprachgewaltig tolle Prosa.

Bewertung vom 05.05.2022
Vladimir
Jonas, Julia May

Vladimir


sehr gut

Progressiv, aber abgehängt

Genau für solche Fälle sind Buchempfehlungen aus der „Leserszene“ sooo wertvoll! Vladimir hat mich weder vom Titel noch vom Cover angesprochen (es gibt ein englisches Cover, dass mir viel mehr zusagt auf dem eine Frau ihren Kopf an der Wand lehnt, alles in rot) und daher war es erst einmal „raus“. Und dann häuften sich die guten Kommentare und die Leseempfehlungen und was soll ich sagen: Jetzt bin auch ich überzeugt.
Es geht um eine Frau, sie bleibt namenlos, Literaturprofessorin an einem US-amerikanischen Collage an der Ostküste, klein aber fein. Ihre Studenschaft respektiert sie durch ihre guten Vorträge. Sie hat ein Ansehen und genießt ihr Leben und dazu gehört eben auch eine offene Beziehung, die sie mit ihrem Ehemann führt, der auch an dieser Collage unterrichtet. Sie leben WG-artig miteinander und sind unabhängig. Nun, bis zu dem Moment wo ihr Mann John eine Anklage und Suspendierung fürchten muss, da Ex-Studentinnen die Affären mit ihm hatten ein Verfahren einleiten. Das progressive Lebensmodell der beiden gerät ins Wanken und besonders ihre Unabhängigkeit, denn nun wird sie gebeten sich beurlauben zu lassen, die Tochter fordert eine Scheidung. Die Welt und der Blick auf sie verändert sich, weil er eine Anklage fürchtet. Und nun kommt auch noch dieser Vladimir Vladinski an das besagte Collage. Ein 20 Jahre jüngerer Romancier für den sie eine Schwäche entwickelt. Nicht nur eine Schwäche, sie hat eine Obsession. Das Ganze geht natürlich nicht Sang und klanglos zu Ende. Teilweise skurril, aber unterhaltsam alle Male. Ein Ende mit dem ich nicht gerechnet habe!
Mir hat der Roman so außerordentlich gut gefallen, weil er gesellschaftspolitische Spielfelder aufmacht und zugleich das Innenleben einer einzelnen Person seziert. Julia May Jonas schreibt uns hier eine sehr kluge und emanzipierte Frau auf die Seiten. Übrigens auch hervorragend übersetzt aus dem Englischen von der guten Eva Bonné. Dies ist Julia May Jonas Debüt und ich war wirklich sehr angetan von ihren Formulierungen von ihrer Art des Schreibens.
Fazit: Cover vergessen und einfach lesen!

Bewertung vom 05.05.2022
Allein auf dem Meer
Vick, Chris

Allein auf dem Meer


ausgezeichnet

Ausweglose Situation

Bill ist ein britischer 15jähriger Junge, der lieber rechnet und knifflige Aufgaben löst als sich im Freien zu bewegen. Seine Eltern machen ihm den Vorschlag einen Segeltörn mit 6 anderen Jungs vor den Kanaren zu unternehmen mit einem erfahrenen Seemann. Das Boot gerät in einen Sturm und auf dramatische Weise ist Bill am Ende alleine in einem Beiboot mitten auf dem Ozean irgendwo zwischen den Kanaren und Marokko. Nach einigen Tagen fischt er ein Mädchen, Aya, aus dem Wasser, die im selben Sturm Schiffbruch erlitt. Die beiden kämpfen gemeinsam ums Überleben, bauen sich gegenseitig auf, geben sich halten, motivieren einander und helfen einander nicht dem Wahnsinn zu verfallen. Eine schiere Ewigkeit sind die beiden dort in ihrem Boot Tanirt unterwegs. Wochenlang und es passiert dramatisches.
Chris Vick erzählt diese Geschichte eindringlich. Es ist so real, dass ich das Gefühl hatte, es könnte sich so ereignet haben. Dieses Zusammenspiel der beiden Jugendlichen und der rauen See mit sengender Sonne, es war selbst beim Lesen manches Mal nicht auszuhalten. Wirklich spannend geschrieben und die Art der Kommunikation zwischen dem Berbermädchen und dem Engländer wurde gut beschrieben, verstanden sie einander zu Beginn nur kaum. Berührend sind die Passagen in denen Aya Bill die Geschichten aus 1001 Nacht erzählt um ihn gedanklich zu beschäftigen.
„Die Welt in dem Boot und die Welt nach dem Boot gehören nicht in dasselbe Universum.“ Dieses Buch zeigt was eine extreme Situation mit einem Menschen macht und ihn auf brutale Weise aus seinem Leben reißen kann. Es bleibt nichts wie es war.
‚Allein auf dem Meer‘ wurde von Wieland Freund und Andrea Wandel aus dem Englischen hervorragend übertragen.
Dieses Buch ist vom Verlag ab 12 Jahren empfohlen, das passt. Ist es doch wirklich ein sehr aufwühlendes Buch, dass zwar fesselt, aber auch diesen erlebten Horror so echt beschreibt.
Fazit: Ein sehr guter Jugendroman, den ich sehr empfehle. Ist es doch manches Mal schwierig die richtige Lektüre zu finden für Kinder ab 12 Jahren.

Bewertung vom 04.05.2022
Die Molche
Widmann, Volker

Die Molche


sehr gut

Im Stich lassen

Es sind die 60er Jahre im tiefsten Bayern. Die Gesellschaft ist immer noch dabei sich zu finden, taumelte sie doch erst aus einem Weltkrieg heraus und befindet sich nun mitten in einem wirtschaftlichen Boom. Diese Diskrepanz von mentaler Verarbeitung und offensichtlich materiellem Fortschritt klafft weit auseinander. In dieser Gemengelage lebt der 11jährige Max, der mit seiner Familie als Zugezogene hier leben muss. Sein Bruder und er haben fortlaufend großen Ärger mit der Bande um Tschernik und das Unglück geschieht: Max Bruder wird von den angreifenden Steinen der Bande erschlagen. Im Dorf wird es als Unfall gewertet und Max bleibt mit seiner Schuld alleine, denn er machte sich vom Acker aus Selbstschutz.
Der Roman wird aus Max Perspektive erzählt und nur zum Ende betrachten wir die Welt aus den Augen eines Mädchens. Max versucht mit seinem Schmerz und dem einhergehenden Schuldgefühl zu leben und kämpft mit sich. Hat er doch Wenige, denen er sich öffnen kann. Die Eltern waren physisch anwesend, aber mental nicht für ihn erreichbar.
Überhaupt für einen 11jährigen ist Max sprachlich und geistig extrem reflektiert. Natürlich, es ist eine fiktive Geschichte, die uns hier erzählt wird und dadurch Spielraum ermöglich. Ich denke aber auch, dass Kinder der 60er Jahre, sprich kurz nach Kriegsende geboren leider sehr schnell erwachsen werden mussten. Und A propos Erwachsen werden, Max hat sehr frühreife sexuelle Erlebnisse mit Ellie. Diese werden recht deutlich ausgebreitet. Aus meiner Sicht hätte es in diesem Roman nicht sein müssen, gibt aber durchaus Diskussionsraum. Könnte einige abstoßen, bedenke man die expliziten Szenen und das Alter.
Volker Widmann hat mit ‚Die Molche‘ debütiert. Der Schreibstil ist verschachtelt, aber äußerst gut. Vor allem die Naturbeschreibungen und wie er das Leben in und mit der Natur beschreibt macht Volker Widmann grandios. Auch hat der Roman die große Stärke, das Leid und Freud nah beieinander liegen und keine einseitige Sicht auf die Dinge transportiert wird. Hoch reflektiert, wenig Handlung, aber es arbeitet in einem.
Diesen Roman lohnt es sprachlich zu lesen und vor allem die titelgebenden Seiten wie Max die Molche trifft, sind äußerst gut gelungen.
Fazit: Nicht für jede:n Leser:in. Komplex und doch in vielerlei Hinsicht ist das Leben einfach und undurchdringlich zugleich.

Bewertung vom 04.05.2022
Gipfelrausch
Laage, Philipp;Reisedepeschen

Gipfelrausch


ausgezeichnet

Hoch hinaus!

Was haben Österreich, Kirgistan, Peru, Japan, Tansania gemeinsam? Sie alle einen, dass sie unglaubliche Berge haben! Und die Besteigung der höchsten Gipfel der Welt löste bei vielen schon sehr viel Faszination und Motivation aus sich hier emporzuschlagen. Ich gehöre in der Tat nicht zu dieser Brut, aber allen die solch ambitionierte Ziele verfolgen, soll es gegönnt sein. Und nun hat Philipp Lange mit ‚Gipfelrausch‘ im Reisedepeschen Verlag uns ein Buch beschert, dass uns diese Faszination sehr nahebringt.
Philipp Lange reflektiert sein Klettern auf die höchsten Gipfel der Erde gekonnt und nimmt uns mit auf seine persönliche Entwicklungsreise. Auch die schwierigen Momente und Gedanken werden geteilt. Gegliedert ist das Buch in 10 Kapitel. Wie alles in der Kindheit in den Alpen begann, er sich durch die Welt gewandert hat, seine Ziele größer wurden um dann wieder in den Alpen abzuschließen.
Da ich keine Kletterin oder ausgeprägte Tourenwanderin bin, fand ich besonders den Einblick in die doch so fremde Welt interessant. Wie er sich seinen Herausforderungen stellt, seine Wahrnehmung der Natur und der lokalen Bevölkerung. Wie er sich als Teil eines ganzen Unterfangens sieht. Auch die Beschreibungen der Abläufe und wie so was überhaupt von statten geht, fand ich spannend.
Dies ist daher ein Buch für ausgeprägte Kletter- und Wanderfans, die mit dem Gedanken spielen selbst mal den Kilimandscharo oder den Fuji zu besteigen. Aber auch, und vielleicht für diese Leser:innen noch viel mehr, für Leser:innen, denen diese Welt bisher sehr fremd ist und sich mal gedanklich auf solche Aufstiege machen möchten, aber eben von der Couch aus. Und für die ganz unbewanderten unter uns gibt es hinten im Buch ein gutes Glossar.
Das Buch selbst ist wie alle Bücher aus dem großartigen Reisedepeschen Verlag wunderbar gestaltet. Jedem Kapitel geht ein Foto vom besagten Gipfel voran und ganz vorne ist eine Weltkarte enthalten. Es liegt wunderbar in der Hand und hat ein Lesebändchen (was ja leider immer seltener wird).
Fazit: Lesend die höchsten Gipfel erklimmen ohne selbst aktiv zu werden – nur mit den Augen und dem Kopf! ;0)