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sleepwalker

Bewertungen

Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 04.03.2019
Ein zögerndes Blau
Sammer, Claudia

Ein zögerndes Blau


gut

Beim ersten Lesen empfand ich das Buch als ein ziemliches Chaos. Wirklichen Ein- und Durchblick gewann ich dann beim zweiten Lesen. Zwar beschreibt die Geschichte das Leben der beiden Hauptfiguren, aber nicht wirklich chronologisch geordnet und auch die vielen Nebenschauplätze und Neben-Handlungsstränge waren beim ersten Lesen verwirrend.
Aber dadurch wird das Chaos, das in Leons Leben herrscht, verdeutlicht. Mit 9 Jahren findet er sich in einem fremden Land wieder, kennt keinen, kann sich nicht verständigen und muss ständig um sein Leben und Überleben kämpfen. Teres geht es genauso, gemeinsam kommen sie bei einer Familie unter, bekommen neue Namen, neue Identitäten, neue Leben. Aber beiden fehlen die Wurzeln ihrer Herkunft, mit diesem Verlust eines wichtigen Teils ihres Ichs gehen die beiden den Rest ihres Lebens lang sehr unterschiedlich um.
Das Buch ist sehr schlicht und einfach geschrieben. Die verwendeten Metaphern sind zum Teil etwas holprig und nicht immer 100 Prozent stimmig, aber insgesamt ist das Buch enorm anschaulich und bildhaft geschrieben, auch der Titel des Buchs erklärt sich aus einer winzigen Passage (er bezieht sich auf die Morgendämmerung).
Wenn man sich auf den Fluss der Geschichte einlässt und sie einfach auf sich wirken lässt, stört einen die zum Teil fehlende Struktur und der fehlende rote Faden auch weniger, oft hilft es auch, einfach noch einmal zurück zu blättern und einen Teil der Geschichte einfach noch einmal zu lesen. Die (Haupt-)Geschichte der beiden gestrandeten Kinder ist dann einfach nur mitreißend, traurig und aufgrund der momentanen politischen Situation verstörend aktuell. Die Neben-Handlungsstränge waren dann für mich eben das: nebensächlich.
Wegen der vielen schönen Metaphern und teilweise sprachakrobatisch interessanten Finessen wohlwollende 3 Sterne.

Bewertung vom 04.03.2019
Invincible - Ich geb dich niemals auf (eBook, ePUB)
Reardon, Stuart; Harvey-Berrick, Jane

Invincible - Ich geb dich niemals auf (eBook, ePUB)


gut

Invincible - Ich geb dich niemals auf von Stuart Reardon und Jane Harvey-Berrick
Ganz untypisch für mich, einen Liebesroman zu lesen. Aber es war auf jeden Fall nicht die falsche Entscheidung, dass ich mir „Invincible – ich geb dich niemals auf“ ausgesucht habe. Rugby ist für mich allerdings auch nach der Lektüre ein Buch mit sieben Siegeln, trotz meines Studiums in England habe ich die Regeln nie verinnerlichen können und da hat mir das Buch auch nicht weitergeholfen, es ist und bleibt halt eher eine SportROMANZE als ein SportROMAN. Ein Buch, was dann entsteht, wenn sich die Autorin von Liebesromanen mit einem ehemaligen Rugby-Profi, Model und Fitness-Trainer zusammentut.

Kitschig? Zum Teil.

Plakativ? Absolut. Der gutaussehender, durchtrainierter Sportler Nick verliert nach einem Unfall praktisch alles, was sein Leben vorher ausgemacht hat und trifft auf die intelligente (und nicht unattraktive und ebenfalls vom Leben gezeichnete) Psychologin Anna, mit der er alles wiederfindet, was er verloren hat. Außerdem ist da dann noch die gutaussehende, intrigante spätere Ex-Verlobte (wie eine der hübschen Hexen in Kindermärchen). In der heutigen Zeit darf natürlich ein Shitstorm samt Dreckschlacht in allen (nicht nur den sozialen) Medien nicht fehlen.

Vorhersehbar? Natürlich! Eine Intrige hier, Shitstorm da, persönliche Probleme und reichlich Zufälle ziehen sich durch die ganze Geschichte.

Lesenswert? Absolut! Als Feierabend- oder Urlaubslektüre unbedingt empfehlenswert. Seicht ist die Unterhaltung nicht, wer sucht, findet vermutlich auch psychologischen Tiefgang. Aber die Liebesgeschichte (es gibt auch ein paar Sex-Szenen) überwiegt doch bei weitem.

Die beiden Hauptcharaktere sind gut und lebendig beschrieben. Vor allem Nick ist ein sehr vielschichtiger Charakter, so viel mehr, als der durchtrainierte Sportler und ehemalige Fabrikarbeiter. Er erweist sich als sensibler, liebevoller, verlässlicher und sehr selbstkritischer Mann. Anna ist einerseits die intellektuelle Ärztin, die trotz ihrer „Verkopftheit“ und Intelligenz, wenn sie verliebt ist, ihre Zurückhaltung verliert und dabei in der Vergangenheit schon einmal beinahe alles verloren hätte.

Der Schreibstil ist flüssig und leicht zu lesen, passend zur leichten Lektüre halt. Die Übersetzung hat einige Schwächen, ich muss aber gestehen, dass ich in der Beziehung sehr kritisch bin. Schon der Untertitel „Ich gebe dich niemals auf“ wird dem englischen „Invincible“ (= unbesiegbar) nicht wirklich gerecht.

Aber trotzdem, es war ein gut zu lesender, teilweise psychologisch interessanter Liebesroman. Für den Roman aus dem für mich untypischen Genre wohlwollende drei Sterne, weil er mich wirklich sehr gut unterhalten hat.

Bewertung vom 04.03.2019
Lazarus / Kommissar Linna Bd.7
Kepler, Lars

Lazarus / Kommissar Linna Bd.7


ausgezeichnet

Zu allererst muss ich sagen, dass „Lazarus“ von Lars Kepler wohl von allen Thrillern, die ich je in meinem Leben gelesen habe (und das sind eine Menge!) der mit den meisten Leichen ist. Und der, in dem die Morde und Tatorte vermutlich am präzisesten beschrieben sind. In jeder grausamen Einzelheit.

Und dennoch (oder deswegen?) fand ich den siebten Fall um den schwedischen Ermittler Joona Linna unglaublich spannend, ich konnte ihn kaum aus der Hand legen. Zwar kannte ich die Vorgänger und die Vorgeschichte, die Linna, seine Familie und Kollegen über die Jahre mit Jurek Walter verbindet, nicht, aber auch ohne diese Vorkenntnisse kam ich mit dem Buch gut zurecht.
Von der ersten bis zur letzten Seite hat mich das Buch unglaublich gefesselt. Denn: Jurek Walter ist doch tot, oder etwa nicht? Linnas Kollegin Saga Berger hatte auf ihn geschossen und er fiel von Kugeln durchsiebt ins Wasser. So was überlebt kein Mensch. Oder?

Fest steht: ein Massenmörder treibt sein Unwesen. Nicht nur in Schweden, nein, es gibt ähnliche Morde in ganz Europa, deren Verbindung nur dem geübtesten Ermittler auffällt. Getrieben zwischen Verfolgungswahn, Verschwörungstheorien und nackten Tatsachen muss Linna handeln: er muss seine Tochter Lumi, seine Lebensgefährtin, seine Kollegen und vor allem sich selbst schützen und retten, vor einem irren Killer, dessen Weg mit Leichen gepflastert ist.
Der Thriller bietet alles: psychologische Finessen, brutalste Mordszenen, Grausamkeiten, aber auch Ermittlergeschick, Intelligenz, Freundschaft, Vertrauen und Liebe.

Das Buch ist so rasant geschrieben, dass ich mich zum Teil mit angehaltenem Atem wiederfand. Aber es ist absolut nichts für schwache Nerven und schwache Mägen.

Kritikpunkte für mich eigentlich nur, dass die Handlung zum Teil etwas sehr konstruiert und unrealistisch ist. Alle Beteiligten haben praktisch unbegrenzte Möglichkeiten. Jeder kommt an Waffen und Geld, zum Teil in extrem kurzer Zeit, es ist kein Problem, irgendwo hin zu fahren, zu fliegen und sich Autos zu mieten.

Und auf dem Weg nach Weert, wo Linna bei seinem ehemaligen Militär-Ausbilder Rinus Unterschlupf findet, fährt er durch Waldfeucht. Gut gemeint, aber schlecht gemacht: das ist keine Stadt, sondern eine Gemeinde mit nicht mal 9000 Einwohnern, verteilt auf 11 Ortschaften. Die Stadt in der Gegend ist Heinsberg.

Dennoch: extrem spannend, extrem gut zu lesen, extrem brutal und anschaulich geschildert. Klare 5 Sterne und ich habe mir einen der Vorgänger gekauft.

Bewertung vom 31.01.2019
Der Apfelbaum
Berkel, Christian

Der Apfelbaum


ausgezeichnet

Bewegende und bewegte Familiengeschichte

Er fühlte sich als Kind wohl als nichts Ganzes und nichts Halbes, so kommt es einem vor, wenn man in die Lebens- und Familiengeschichte des Schauspielers Christian Berkel einsteigt. Und er nimmt den Leser mit auf eine Reise in seine Vergangenheit, die Vergangenheit seiner Eltern, auf die Suche nach seinen Wurzeln und seiner Identität.

Akribisch und analytisch, neutral und nie wertend springt der Autor durch die Jahre vor seiner Geburt, dokumentiert die Erinnerungen seiner Mutter, der einzigen, die sich daran noch erinnern kann. Aber dabei ist es auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Seine Mutter ist zu dem Zeitpunkt, als er anfängt zu schreiben schon hochbetagt und zunehmend dement.
Aber mit ihrer Hilfe (und der Recherche in Archiven und Schriftwechseln) schafft Christian Berkel ein großes Werk. Keine Biographie und keine Autobiographie. Sondern ein Familien-Epos, zusammengestrickt wie ein Flickenteppich aus bruchstückhaften Erinnerungen der Mutter (die sich an vieles gar nicht mehr erinnern will, an vieles aber nicht erinnern kann) zu einem stimmigen Ganzen und dann auch noch in einer äußerst ansprechende Form formuliert.
Natürlich kennt der Leser den Schluss. Denn es ist die Geschichte des Autoren, Jahrgang 1957 - also müssen die beiden Hauptfiguren Sala und Otto irgendwann irgendwie zusammenkommen. Aber der Weg ist ein bewegter und bewegender.

Seine Mutter Sala lernt 1932 mit 13 Jahren, den vier Jahre älteren Otto kennen, als dieser in ihr Elternhaus einbricht. Später kreuzen sich ihre Wege, als ihr Vater den mittellosen Otto unter seine Fittiche nimmt und ihm eine Welt aus Büchern und Bildung eröffnet, die der wissbegierige junge Mann nur zu gerne betritt. Schließlich bringt Otto, der Junge aus dem Berliner Hinterhaus, es sogar zum Arzt.

Danach trennten sich ihre Wege. Die Halbjüdin Sala verlässt 1938 Deutschland, Otto zieht als Arzt in den Krieg und endet in russischer Kriegsgefangenschaft. Sala ist jahrelang auf der Flucht. Über Spanien und Frankreich endet sie im Internierungslager Camp de Gurs. Aber in der ganzen Zeit können Sala und Otto einander nicht vergessen. Fast unglaublich, dass sie sich nach vielen Jahren wiederfinden (Sala, inzwischen Mutter der gemeinsamen Tochter, lebte nach dem Krieg einige Zeit in Argentinien, Otto kehrte nach der Gefangenschaft nach Berlin zurück) und ihren Lebensweg danach bis zu Ottos Tod gemeinsam gehen.

Interessant fand ich auch, welchen illustren Umgang die Familie über die Jahrzehnte so pflegte. Eine Tante Salas war Modedesignerin in Paris und Ausstatterin der Duchess of Windsor, ihr Vater gehörte zum Dunstkreis von Erich Mühsam, Sigmund Freud und Hermann Hesse.
Das Buch ist keine leichte Kost. Inhaltlich nicht und sprachlich ganz sicher auch nicht. Berkel wechelt die verschiedenen Zeitebenen flüssig und schon allein dadurch ist das Buch nichts für „nebenher“, sondern bedarf Konzentration und man muss sich auf die Geschichte einlassen. Aber wenn einem das gelingt, dann lebt man das im Buch geschilderte Leben der Personen ein Stück weit mit, die Charaktere werden so authentisch, lebensnah, liebenswert und dreidimensional geschildert. Und die Geschichte ist auch heute, in Zeiten, in denen die Gesellschaft sich wieder nach rechts bewegt, erschreckend aktuell. Es ist eine Geschichte über wahre und unendliche Liebe gegen alle Widrigkeiten, Standes- und Landesgrenzen hinweg, über Glück und Zufälle, erzählt mit einem Augenzwinkern und oft einer Träne im Knopfloch.

Sollte Christian Berkel, ebenso wie seine Ehefrau Andrea Sawatzki, Gefallen an der Schriftstellerei gefunden haben, hat er sich selbst die Messlatte mit diesem Buch extrem hochgelegt. An dieses Werk heranzukommen wird schwierig.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 31.01.2019
Tiefe Stille
Rößner, Susanne

Tiefe Stille


gut

Nach dem Tod ihres Mannes blüht Maria auf. Sie stellt fest, dass es ein Leben außerhalb des biederen, von Geiz und Routine geprägten Alltags gibt und noch dazu, dass sie ziemlich wohlhabend ist. Und jetzt gewinnt sie auch noch den Hauptpreis des Krimi-Klubs: eine Reise zur Krimi-Rallye an den Schliersee. Aufgabe dort: sie muss mir zwei Mitstreitern einen fiktiven Mordfall lösen.
Aber die Reise gestaltet sich von Anfang an anders als geplant. Die gebuchte Unterkunft ist unbewohnbar und sie und der 17jährige Leon müssen sich anderweitig orientieren. Nach einigen Schwierigkeiten stößt dann noch mit Christof der Dritte im Bunde hinzu. Und schon ist das Trio mitten in den (vermeintlich gestellten) Ermittlungen, die sich natürlich sehr schnell als echter Mordfall herausstellen. Nur gut, dass zufällig Marias einziger Neffe Lukas ausgerechnet in den Ort des Verbrechens versetzt wurde.

Und dann wird die Geschichte zwar spannend aber auch irgendwie chaotisch, wirkt durcheinander und mit den vielen Zufällen komplett an den Haaren herbeigezogen. Eine marode Saftfabrik, verschwundene Frauen UND ein Drogenkartell, dazu Bergwerksstollen, Kerker und Höhlen und ein von Flashbacks gepeinigter Kommissar – eigentlich Zutaten für mindestens zwei, wenn nicht drei Krimis. Aber in diesem einen zu einer Suppe verkocht ist etwas schwer verdaulich und kein 100 prozentiger Genuss. Dazu ist die Sprache manchmal sehr holprig und die verwendeten Bilder muten manchmal etwas seltsam an. Wieso sieht auf einer Landkarte ein See im Gebirge denn aus wie eine in einer Suppe ertrinkende Fliege? Und es sind vermutlich nicht „die gemeinsamen Kräfte“ der Männer, sondern die vereinten oder die gebündelten. Aber wenn man sich an die Sprache gewöhnt hat (ab und zu sind auch bayrische Sätze drin, was das Buch für mich sehr charmant macht), man hinnimmt, dass die Handlung etwas überladen ist, ist das Buch ein guter Unterhaltungs-Krimi, nicht zuletzt wegen der sympathischen Hauptdarsteller, die durchaus Lust auf eine Fortsetzung machen. Für mich ist das Buch durchaus seine drei Sterne wert.

Bewertung vom 31.01.2019
Finsternis im Herzen
Neumann, Julia

Finsternis im Herzen


sehr gut

Ein spannender Thriller zu einem erschütternden Thema.
„Finsternis im Herzen“ von Julia Neumann vereint viele schwierige Themen. Beginnend mit dem Mord am afrikanischen Adoptivsohn eines Düsseldorfer Industriellenpärchens, gerät Kommissarin Eva Langenberg in einen Strudel aus Korruption und Profitgier. Auf der Suche nach dem Mörder des kleinen Abasi, der zusammen mit seiner Schwester Rahima erst seit wenigen Tagen in Düsseldorf ist, lernt die Kommissarin eine dunkle Seite der Gesellschaft kennen, von der sie zum Teil nicht einmal ahnte, dass sie existiert.
Plötzlich gibt es nämlich nicht nur zahlreiche Mordverdächtige, sondern auch mehrere Motive. Schließlich waren die beiden Kinder bevor sie nach Deutschland kamen in der Hand kongolesischer Rebellen. Der junge Mann, der die Adoption vermittelt hat, gerät ebenso ins Visier der Ermittlerin wie der Adoptivvater, der Manager eines Technologiekonzerns mit Geschäftsverbindungen in den Kongo ist. Und nicht zuletzt die Adoptivmutter, die als Ärztin häufig in einem kongolesischen Flüchtlingscamp tätig war, das ihre Eltern über eine Stiftung finanzieren.
Der Bürgerkrieg im Jemen, Flucht, Vertreibung, Mord, Menschenhandel, Sklaverei, Folter – alles Themen dieser Zeit. Bedrückend realitätsnah zeigt die Autorin, wie schnell das Schlechteste im Menschen ans Tageslicht kommen kann und das macht den Thriller zu einem spannenden und verstörend aktuellen Werk, abgesehen von ein paar Längen durchaus lesenswert, fesselnd und packend geschrieben bist zu seinem (für mich) überraschenden Ende. Und ich habe einiges über Coltan und den Bürgerkrieg im Kongo gelernt, was ich vorher noch nicht wusste. Vier Sterne.

Bewertung vom 06.01.2019
Der Junge, der zu viel fühlte
Wagner, Lorenz

Der Junge, der zu viel fühlte


gut

Henry Markrams Welt gerät aus den Fugen. Der eigentlich tief in der Objektivität der Wissenschaft verwurzelte Hirnforscher wird mit dem Autismus seines Sohnes Kai konfrontiert und gerät dabei immer wieder an seine Grenzen – persönlich, emotional und auch wissenschaftlich.
Sehr früh bemerken die Eltern, dass ihr Sohn anders ist, als andere Kinder. Besonders. Aber als sie nach einer Odyssee über ADS-Diagnosen bei der Diagnose „Autismus“ landen, sind sie doch mehr als schockiert. Denn was heißt das denn überhaupt?
Der Autor erklärt am Beispiel von Kai und seiner Familie, was Autismus in dessen Fall bedeutet (denn: kennst du einen Autisten, dann kennst du genau EINEN Autisten). Der Leser erfährt (wenn er das nicht schon vorher wusste), dass Autisten keinen Mangel an Gefühl, Sensibilität oder Aufmerksamkeit haben, sondern vielmehr auf eine extreme Reizüberflutung mit sehr hoher Sensitivität reagieren, der Rückzug ist daher keine Störung, sondern eine Art Selbstschutz, bevor es zu Overloads oder Meltdowns kommt.
Das Buch ist eine Aufforderung an die Leser (aber irgendwie an alle Menschen), Anderssein zu akzeptieren und die jeweiligen Stärken und Schwächen zu sehen und zu verstehen.
Aber insgesamt liest sich das Buch etwas holprig. Es ist zwar eine sehr nette „human touch“ Geschichte aber es sind auch relativ große Zeitsprünge drin und alles in allem fand ich es zum Teil etwas verwirrend. Es ist irgendwie nichts Ganzes und nichts Halbes – keine wissenschaftliche Abhandlung und kein Roman/Biografie und auch keine Reportage.
Medizinisch fand ich die Ansätze von Henry Markram teilweise sehr interessant. Psychologisch fand ich sie zum Teil aber befremdlich. Vor allem die Aussage, dass Autismus durch die bewusste reizarme Umgebung in den ersten sechs Lebensjahren vermieden (also bestehender Autismus dadurch geheilt) werden kann, halte ich für fragwürdig. Dafür ist Autismus zu komplex und die ersten Lebensjahre prägen den Menschen zu sehr (Sprachentwicklung, Sozialisierung usw), als dass er ihn in einer völlig reizarmen Umgebung zubringen sollte. Mal ganz abgesehen davon, dass diese Möglichkeit wohl den wenigsten Familien mit einem Kind im autistischen Spektrum gegeben ist.
Da ist ein differenzierterer Ansatz eher angebracht.
Insgesamt finde ich es aber ein sehr wichtiges Buch für alle, die mit Autisten zu tun haben oder sich mit dem Thema fundiert auseinandersetzen wollen. Ein wichtiges, schwieriges Thema populärwissenschaftlich aufgearbeitet und entlang der Familiengeschichte eines bekannten Wissenschaftlers erzählt. Ursprünglich war das Buch eine Reportage in der Süddeutschen Zeitung, jetzt wurde sie zum Buch aufgeblasen. Wohlwollende 3 Sterne.

Bewertung vom 06.01.2019
Zusammen sind wir Könige
Lau, Frederick;Ramadan, Kida Khodr

Zusammen sind wir Könige


sehr gut

Frederick Lau war mir schon seit „Das Fliegende Klassenzimmer“ und „Wer küsst schon einen Leguan“ bekannt und daher habe ich mich sehr gefreut, als ich von NetGalley das Buch „Zusammen sind wir Könige“ bekommen habe. Kida Ramadan kannte ich, ehrlich gesagt, nicht mal dem Namen nach. Aber im Verlauf des Buchs habe ich so viel über ihn erfahren, dass er mir sehr nahe gekommen ist.
Die Beziehung der beiden so unterschiedlichen und doch so ähnlichen Männer ist in dem Buch durch die parallel zueinander geführten Interviews sehr gekonnt geschildert und obwohl die Geschichte nacheinander aus zwei verschiedenen Perspektiven geschildert ist, läuft sie nahtlos ineinander und bildet ein stimmiges Ganzes.
Geschrieben ist das Buch wohl so, wie die beiden Herren reden. Mit viel Umgangssprache (praktisch jeder Satz beginnt oder endet mit „Dicker“) und dem einen oder anderen Kraftausdruck. Aber auch mit viel Wortwitz und locker aus der Hüfte erzählen die beiden, wie sie sich kennengelernt haben und wie sie Freunde wurden. Der Leser erfährt sehr viel über den Hintergrund der beiden und wie sie so leben und arbeiten. Beide kommen sympathisch und menschlich rüber, ich habe beim Lesen sehr viel gelacht, manchmal aber auch den Kopf geschüttelt ob des Chaos in beider Leben. Sprachlich sehr flüssig zu lesen, inhaltlich auch eher ohne tiefere Message – geschmeidige 4 Punkte.

Bewertung vom 06.01.2019
Die Blutfinca
La Piscina, Jorge de

Die Blutfinca


sehr gut

Mallorca mystisch und magisch
Hach, man kennt es aus dem Trash-TV: deutscher Mallorca-Auswanderer wird Gastronom.
Aber bei dem ehemaligen Kriminalbeamten Marc Renner ist das anders: er hat nicht nur einen Plan, sondern setzt diesen auch um. So eröffnet er in dem Küstenort Cala Pi ein Restaurant mit einheimischer und deutscher Küche, wobei er die Schnitzel selbst brät, die mallorquinische Küche von dem alten Koch Santos bestritten wird.
Aber so ganz lässt Marc die Vergangenheit bei der Polizei nicht los. Vor allem, als um ihn herum plötzlich seltsame Dinge geschehen: ein aztekischer Prinz aus lang vergangener Zeit wird auf einer Klippe gesichtet, Menschen verschwinden und sterben – alles in allem sehr mystisch und mythologisch. Und da kann der aufbrausende, manchmal unbeherrschte, laktose-intolerante Deutsche gar nicht anders, als der mallorquinischen Polizei unter die Arme zu greifen.
Die Geschichte braucht ein paar Seiten, um in Fahrt zu kommen und ich hatte ein paar Seiten gebraucht, um mich in der Geschichte zuhause zu fühlen. Dann aber hatte mich die Spannung gepackt und bis zu dem vielleicht etwas abrupten Ende nicht mehr losgelassen.
Laut Beschreibung ist der Thriller als Urlaubslektüre gedacht, vielleicht ist es deshalb auch ein wenig kurz. Und das ist es auch. Keine große Literatur, dafür sind auch zu viele Fehler drin (egal, wie platt man ein Schnitzel klopft, es hat nie einen Durchmesser, höchstens eine Dicke). Aber ich fand das Buch sehr spannend, die Gräueltaten vielleicht ein bisschen zu anschaulich in den blutigen Einzelheiten geschildert; Unterhaltungsliteratur, nicht mehr und nicht weniger. Vielleicht hätte ich mir von einem journalistisch tätigen Autor mehr Stilsicherheit und weniger Fehler erwartet. Aber dennoch: ich freue mich auf die im Laufe des Jahres geplante Fortsetzung.
Vier Sterne.