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lillywunder

Bewertungen

Insgesamt 42 Bewertungen
Bewertung vom 11.07.2021
Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?
Green, John

Wie hat Ihnen das Anthropozän bis jetzt gefallen?


sehr gut

Bei diesem tollen Titel braucht das Buch für mich kein Marketing mehr. Na klar, tausende Jahre Menschheitsgeschichte sind bereits vergangen - da wird es doch langsam einmal Zeit, dass jemand mal ein Resümee zieht.

Ich kann allerdings nicht empfehlen, mit der Erwartung eines klassischen, wissensorientierten Sachbuchs in die Lektüre zu starten, denn diese Erwartung wird von John Green nicht erfüllt. Ich musste mich in das Buch eine Weile einlesen, um ein Gefühl für den Stil des Buchs zu bekommen und bin dann im Nachwort auf einen Satz gestoßen, den ich mir ganz wunderbar prägnant auch für die etwas verschwurbelte Einleitung gewünscht hätte, hier sagt er nämlich: "Ich habe versucht, einige der Orte zu kartografieren, an denen mein kleines Leben an die große Kräfte stößt, die die menschliche Erfahrung gegenwärtig prägen".

Und das beschreibt schon sehr gut das Vorgehen des Beststeller-Autors John Green in seinem ersten Sachbuch. In kurzen Kapitelchen greift er einzelne Aspekte des menschlichen Lebens heraus und beschreibt unter Überschriften wie "Sonnenuntergänge", "Pest", "Mario Kart" oder "Flüstern" seine Gedanken dazu. Am Ende eines jeden Kapitels vergibt er abschließend bis zu fünf Sterne, was an die heute weitverbreiteten Bewertungsskalen anschließt und nebenbei eine nette Spielerei ist. Die einzelnen Kapitel sind dabei sehr unterschiedlich. Mal steht die Wissensvermittlung im Vordergrund wie bei "Piggly Wiggly" oder "Yips", mal sind es neue Gedankenanstöße wie in "Kentucky Bluegrass", manchmal ist es spannend wie ein Krimi wie in "Monopoly" und dann wird es auf einmal sehr berührend wie in "Sonnenuntergänge" oder "Mein Freund Harvey". Trocken liest sich das Buch an keiner Stelle - John Green gelingt es, auch Fakten verständlich und sehr anschaulich zu vermitteln, mit Bildern die hängen bleiben. Mit feinsinnigem Humor treibt er Aussagen auf die Spitze, betrachtet sie aus einem ironischen Blickwinkel und verteilt kleine Seitenhiebe auf die gesellschaftlichen Verhältnisse. Und rührt dann wieder beinahe zu Tränen, wenn er die großen Gefühle in einem Menschenleben einfühlsam beschreibt.

Man erfährt in diesem Buch sehr viel über John Green persönlich - über einzelne Stationen in seinem Leben, prägende Erlebnisse, seine Gedanken und auch über seine psychischen Erkrankungen. Gerade mit seiner Verletzlichkeit geht er sehr offen um, was einiges an Respekt verdient. Was mich etwas gestört hat, ist der sehr amerikanische Blickwinkel. Viele Themen werden anhand von typisch amerikanischen Beispielen behandelt und wenn dann zum Beispiel auch noch der amerikanische Unabhängigkeitstag anhand eines Hotdog-Wettessens abgearbeitet wird, ist mir persönlich das etwas too much. Ich hätte mir außerdem gewünscht, dass transparenter gemacht wird, worum es eigentlich geht. Zum einen was den autobiografischen Anteil des Buchs angeht, zum anderen in Bezug auf die einzelnen Kapitel, denn da er oft eigentlich über die Dinge hinter den Dingen schreibt, musste ich teilweise zur Kapitelüberschrift zurückblättern, da ich zwischenzeitlich vergessen hatte, was eigentlich sein Aufhänger war.

Wer Freude hat an kurzweilig-klugen Spotlights auf Errungenschaften, Begleiterscheinungen, Schrecken und Wunder des menschlichen Lebens und gleichzeitig den Autor John Green besser kennenlernen möchte, dem sei das Buch wärmstens ans Herz gelegt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 11.07.2021
Raumfahrer
Rietzschel, Lukas

Raumfahrer


sehr gut

Nach dem Erfolg seines Debütromans ist auch Lukas Rietzschels zweiter Roman "Raumfahrer" wieder ein Stück ostdeutsche Zeitgeschichte. Über zwei Generationen hinweg erhalten wir Einblick in ostdeutsche Leben zur Zeit der DDR und heute.

Jan, der 1989 im Jahr der Wende geboren wurde, hat die DDR selbst nicht mehr kennengelernt. Er wohnt nun als junger Mann zusammen mit seinem Vater in der sächsischen Provinz, aus der sich zuerst die Bewohner und dann auch die Gewerbegebiete zurückgezogen haben und arbeitet in einem Krankenhaus, das aufgrund von mangelnden Patienten kurz vor der Schließung steht. In diese melancholisch-triste Stimmung ist die Familiengeschichte von Jan eingebettet, über die er zunächst selbst wenig weiß, die aber plötzlich aktuell wird als er von einem älteren Mann einen Karton mit Fotos und Aufzeichnungen erhält. Langsam wird deutlich, dass Jans Familie mit der des Künstlers Georg Baselitz und seinem Bruder Günther schicksalshaft verbunden ist.

Erzählt wird in erster Linie aus der Perspektive von Jan, je weiter das Buch fortschreitet, desto häufiger springt die Erzählung jedoch in die Vergangenheit: mal in die Nachkriegszeit, zum Mauerbau, zur Nachwendezeit, zurück in die Gegenwart. Man könnte das vielschichtig und komplex nennen, für mich waren diese Sprünge allerdings eher fragmentarisch, im Aufbau hätte ich mir mehr Struktur gewünscht. So erfordert das Lesen einiges an Konzentration, eigenes Schließen der Leerstellen und Zusammenfügen der Fäden. Die Trennung durch die Mauer, die Stasi-Bespitzelung, der Wegzug in den Westen und die Verlassenheit der Zurückgebliebenen - all das bekommt einen Stellenwert im Roman. An diesen ostdeutschen Themen hangelt sich die Geschichte entlang und vermittelt auf diese Weise weniger offensichtliche Zusammenhänge als viel mehr ein Einfühlen in diesen verlassenen Landstrich und seine "Raumfahrer", die sich irgendwo in Raum und Zeit verloren haben. Zwischen Sehnsucht und Resignation, zwischen Lachen und Weinen über die Absurdität ihrer Lebensumstände und dessen, was die Politik oder die Medien daraus oft machen. Und hier liegt die besondere Stärke des Roman, denn diese ganz besondere Atmosphäre durchdringt den Text, ist fast greifbar und bleibt auch nach dem Lesen noch lange hängen.