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Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 09.05.2022
Fünfzig Gramm Paradies
Humaidan, Iman

Fünfzig Gramm Paradies


ausgezeichnet

Alles hängt mit allem zusammen.
Hanâ, Nurâ Sabah und Maja sind die vier weiblichen Figuren in diesem gesellschaftspolitischen Roman mit der Hintergrundkulisse des libanesischen Bürgerkriegs und den archaischen Überlieferungen von Ehre und Rache: die Syrerinnen Hanâ und Nurâ, die kurdische Sabah aus der Türkei und Maja aus dem Libanon: vier starke, konsequente Frauen.
Der Text mäandert zwischen den Biographien dieser vier Frauen im Erzählstil, in Tagebuchtexten und in Briefen. Da mischen sich Länder und Kulturen und Schicksale: kollektive und individuelle. Und natürlich gibt es auch männliche Protagonisten: Sijâd,(Majas verstorbener Mann), Schauki (Hanâs Liebhaber), Ahmed I und Ahmed II ((Kurzzeit-Liebhaber und verschollenener Ehemann von Sabah und Kemal, Nurâs Geliebter.
Die tragende Rolle aber spielt ein alter Lederkoffer. Verschüttet unter Ruinen, gefunden von Maja, die mit geschichtsträchtigem Spürsinn seinem Inhalt nachforscht, ihm Leben gibt. Denn
dieser alte Koffer enthält die Geschichte von Hanâ, die Selbstmord beging und das Tagebuch ihrer Schwester Nurâ, die deren Geschichte veröffentlicht und dadurch selbst zum Opfer wird. Und dann gibt es die Briefe von Kemal, einem türkischen Journalisten und Aktivisten an Nurâ: die beiden verbindet eine innige Liebesbeziehung über alle Grenzen hinweg, Grenzen der Ethnie, der Sprache und Kultur und der Geographie.
Der libanesische Bürgerkrieg ist unterschwellig immer präsent, auch wenn er zur Zeit nicht aktiv ist. Zuviel Akteure waren und sind beteiligt mit den unterschiedlichsten Interessen, um Macht, Geld und Einfluss zu behalten bzw. zu erlangen: die PLO, die maronitische Phalange, die Israelis und Syrer, die Milizen der Hisbollah und der Drusen. Das alles sind Nachwehen der Aufteilung des osmanischen Reiches durch die westlichen Mächte, die den „Kranken Mann am Bosporus“ besiegt hatten. So zieht sich Geschichte von der Vergangenheit in die Gegenwart und in die Zukunft. Um so bewundernswerter wie die Libanesen mit ihren Traumata, trotz immer neuer Krisen, trotz der vielen Grausamkeiten auch ihre Menschlichkeit bewahrt haben.
Dieser Koffer ist nicht nur ein alter abgegriffener verstaubter Lederkoffer. Er ist ein Symbol. Denn er ist ein Bewahrungsort und Träger von Erinnerungen. Er ist kein touristischer Koffer, er enthält keine Souvenirs und doch ist er ein Reise-Relikt. Die biographischen Lebensreisen fanden in ihm ihren letzten Platz. Ein Relikt der Lebensreisen von Hanâ, Nurâ und Kemal. Aus diesem emotionalen Puzzle bildet Maja ein finales Bild, in dem auch sie ihren Platz finden wird. Sabah war Nurâs Vertrauensperson. Sie übermittelt Details, die der Kofferinhalt vorenthält: wo das gemeinsame Kind von Nurâ und Kemal geblieben ist: es wurde nämlich nicht mit der Mutter zusammen Opfer eines Anschlags, sondern von Sabah an eine dubiose Frau weitergegeben. Hier wird das Thema von Menschenhandel angesprochen. Ein Nebenschauplatz vieler Kriege.
Eine anfangs verwirrende Lektüre, die sich aber peu a peu zu einem Ganzen vollendet. Und die Leserschaft hineinzieht in Geschichten von Liebe und Ängsten, von Vertrauen und auch von Feindschaft. Themen, die überall auf der Welt präsent sind, mit landes- und sittenspezifischen Variationen. Aber Essenz des Menschseins sind. Der vorliegende Roman wird angereichert durch die levantinische Essenz. Er spielt nicht an der Peripherie im Nirgendwo, sondern im Zentrum einer ganz eigenen Welt: der Welt des Mittelmeer-Raumes.
„Orte, an denen du wohnst, sind Spiegel für dich. Wohin du auch gehen magst, mach den Ort zu deinem Ort und bewahre dir das Leuchten deiner Seele.“
Und als Quintessenz ein Zitat von Mahmud Darwisch: „Sei wer du bist, wo du auch bist“

Bewertung vom 24.03.2022
Ändere deine Welt
Herrou, Cédric

Ändere deine Welt


ausgezeichnet

Quijote und Galileo reichen sich die Hände.

Cédric Cerrou ist ein moderner Don Quijote, der gegen die Windmühlen von Rassismus und Behörden kämpft. Aber nicht nur ein einzelner Sancho Panza unterstützt ihn, sondern eine ganze Armada engagierter Freiwilliger. Aber vor allem der Glaube an das Credo der französischen Republik: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ liefert ihm Kraft. Diese drei „Slogans“ sind für ihn eben nicht nur bürokratische Papiertiger, sondern wahre Werte. Europäische Werte, die es allerdings nicht verhindern, dass das Mare nostrum zu einer Todesfalle wird und Menschen, die die Sahara und die Meeresfluten bezwungen haben, die Folter, Vergewaltigungen und Erpressungen überlebt haben, zu Ungewollten, zu Überflüssigen werden, zu Nicht-Menschen. Er scheut sich nicht, die Judentransporte im 2. Weltkrieg mit der Abschiebung, Wegschiebung dieser Menschen zu vergleichen. Obwohl er sich selbstredend darüber klar ist, dass dieser Vergleich eigentlich unakzeptabel ist. Dass es sich um zwei nicht vergleichbare Phänomene handelt, obwohl wiederum die Parallelen: Unmenschlichkeit auf europäischem Boden, nicht so leichtfertig abzuwinken sind.

Seine „Story“ beginnt im Frühjahr 2016, hat aber wie jede Geschichte ein Vorspiel.
Cédric Herrou ist ein Einzelgänger (konkreter: er war ein Einzelgänger), der sich in das grenznahe Royatal zwischen Italien und Frankreich zurückgezogen hat. In Nizza geboren, im Arianeviertel, einem sog. volkstümlichen Viertel, das man auch als Ghetto für die Armen, Schwarzen und Araber bezeichnete. Seine Mutter war ihm Vorbild – sie hat für eine Kinderschutz-Organisation Pflegekinder aufgezogen; Kinder, die niemand haben wollte. Kinder, die ihm und seinem Bruder vertraut und schwesterlich/brüderlich wurden.
Eine Afrika-Reise öffnet ihm die Augen: bei der Rückkehr sieht er, dass für seine Freunde die Zeit stehen geblieben ist, er selbst jedoch seine kleine Welt und die große Welt jetzt mit anderen Augen sieht. Weg von den Gefühllosen und den Gleichgültigen, ein freier Mensch sein. Er kauft ein dschungelähnliches Stück Land mit einer Hütte und einer Olivenplantage. Aber auch im Tal, in dem Einheimische und städtische Aussteiger (oder Einsteiger) leben, bleibt er ein Fremder ohne schwarz oder muslimisch zu sein.

Die große Welt holt die kleine Welt ein und Herrou wird im Laufe der nächsten Jahre zu dem Feindbild für die Hohenpriester des „Frankreich den Franzosen“. Er wird zum schleusenden „Kriminellen", zum Nestbeschmutzer, zum Paria abgestempelt. Er weiß nichts über Asylrecht, er ist kein Aktivist, er liebt die Menschheit nicht genug, um sie zu retten.Und doch wird aus ihm ein „Menschenfischer“. Einer, der von nun an sein Leben mit den Geflüchteten aus dem Sudan, aus Eritrea und aus Libyen teilt, einer, dem sie vertrauen und der ihnen ihre Würde zurückgibt, sie nicht mit Fragen belästigt, aber ihre tragischen Lebensläufe erahnt.

Es ist aufschlussreiche zu lesen, wie er zu einer Persona non grata stilisiert wird, wie er immer wieder verhaftet wird und doch immer wieder siegt. Ganz deutlich beschreibt er, wie „Ausländer und Geflüchtete“ ein Politikum sind, ein Geschäftskapital für gewisse politische Kreise, natürlich immer nur auf die „falschen“ Geflüchteten und Ausländer bezogen.
Cédric Herrou bietet den heimatlosen und traumatisiertenMenschen ein Schlüsselloch für eine neue Zukunft und findet zum Schluss einen neuen Fixpunkt für sie in der Emmaüs-Stiftung Roya, wo sie wieder zu Handelnden werden statt antriebslos im Meer des Nichts zu navigieren.

Die Welt braucht Menschen wie Cédric Herrou, die Welt braucht keine Fahnenschwenker und Worthülsenproduzenten. Sie braucht gelebte Zivilcourage und gelebte Menschlichkeit – wenn wir alle durch diese Lektüre ein Stückchen davon für uns mitnehmen und aktiv umsetzen, dann würde sich die Welt ändern.
Cédric.Herrou ist kein Held. Er ist ein Mensch. Und schon Brechts Galileo erkannte:

„Unglücklich das Land, das keine Helden hat!“
„Nein. Un

Bewertung vom 07.03.2022
Hana
Mornstajnová, Alena

Hana


ausgezeichnet

Es gibt kein richtiges Leben im falschen. (Adorno)

Das Leben von vier Frauen bildet das Gerüst dieses Romans. Der 1. Teil handelt in Ich-Form von der jungen Mira (1954-1963). Der 3. Teil, ebenfalls als Ich-Erzählung, handelt von Hana und ihrem Leben (1942 -1963). Der Teil „Die vor mir“ spielt zwischen 1933-1945 und ist größtenteils in neutraler Erzählform geschrieben.

Die Hauptpersonen sind Elsa, deren Töchter Rosa und Hana und Mira, Rosas Tochter.
Weitere Figuren sind Ivana und ihr Mann Jaroslav Horáček. Deren Kinder Ida und Gustav. Ludmila Karáskova und ihr Sohn Karel. Leo Gross und Jarka sowie Anton Urbánek.
Aus ihnen wird ein komplexes Geflecht aus Schicksalsfäden, die in die Zeit vor Hitlers Einmarsch in die Tschechoslowakei bis in die frühen Nachkriegsjahre reichen.


Der Roman beginnt mit Rosas 30. Geburtstag mit verzierten Spritzkringeln, aus der besten Konditorei der Stadt. Diese Kringel waren Todeskringel, typhusverseucht durch das schlechte städtische Brunnenwasser. Nur Hana und Mira überlebten. Mira war plötzlich allein, die Tante monatelang im Spital. Sie kam zu Ivana, der ehemals besten Freundin ihrer Tante, und deren Mann Jaroslav. Der brachte sie später zu Hana. Mira wusste nichts von deren Leben. Warum diese ihr so fremde Frau so eigenbrötlerisch war. Die nur in einem fest strukturierten Tag überleben konnte. Die Angst hatte vor Berührungen, die kaum sprach, immer ein Stück trockenes Brot in der Rocktasche.

Die Familiengeschichte beinhaltet den Abtransport von Elsa, ihren Eltern und Hana nach Theresienstadt. Rosa fand Unterschlupf bei Elsas Freundin Ludmila. Hana wollte bleiben, um Jaroslav Horáček zu heiraten. Für ihn als Soldat war Hana eine gute Partie, denn Soldaten durften nur Frauen mit einer Mitgift heiraten. Er hätte jedoch Ivana vorgezogen. Als sein Hauptmann ihm sagte, dass eine Ehe mit einer Jüdin verboten sei, zog er sich von Hana zurück, die immer noch bienenfleißig an ihrer Aussteuer nähte, vertröstete sie, ohne ihr die Wahrheit zu gestehen.
Sie entging ihrem Schicksal nicht, Rosa blieb zurück und kümmerte sich um Ludmila, deren Sohn Karel sich bald ein rosaleeres Leben nicht mehr vorstellen konnte.
Ansonsten lebte er für seine Uhren, er tickte und pendelte mit ihnen durch das Leben.

Elsas Eltern bekamen den Befehl zum Transportgen Osten, sie wollte sie nicht allein lassen und begleitete sie. Hana sollte bleiben. „Wenn alles vorbei ist, treffen wir uns zuhause“. Das klingt fast nach dem tschechischen Schelm Schwejk „Nach dem Krieg um halb sechs im „Kelch“.

Im Ghetto war Hana allein, nur Jarka war ihr nah. Angst war ihre ständige Begleiterin. Sie ging eine Beziehung mit Leo Gross ein, einem Koch. Doch die ‚„Kosten-Nutzen“-Rechnung bekam eine menschliche Nuance. Sie träumten von einem Leben in Prag, das gab ihnen Kraft zum Überleben. Hana wurde schwanger und verriet ungewollt, wer der Vater war. Den Winzlingssohn bekam sie nicht zu Gesicht und auch Leo sah sie nicht wieder.

Hana verglich ihre Seele mit einem Zuckerhut, bei jedem Schicksalsschlag sprang ein Stückchen ab, er wurde kleiner und kleiner und bei Leos Abtransport zersprang die Hälfte in 1000 Stückchen.
Sie kam nach Auschwitz. Nach links eingereiht, rechts wäre sie zu Ascheflocken geworden, so wurde sie zu einer Nummer, träumte von der Freiheit des elektrisch geladenen Zaunes.


Hana überlebte und kehrte 1945 in die Heimatstadt zurück. Das Elternhaus stand noch. Herr Urbánek war da, dem die Mutter den Laden pro forma verkauft hatte. Er weinte aus Mitleid und Entsetzen vor dem, was er sah: Weiße Haare mit kahlen Stellen, stark geschwollene Fingergelenke, einen zahnlosen Mund, eingefallene Wangen. Augen, die sich versteckten, weil sie zu viel gesehen hatten.
In der Stadt sagten die Leute „Sie waren im Lager in Sicherheit vor den alliierten Bomben.“ Aber Hana sah sich von einer Welle aus Schuld verschlungen, sie ertrank in einem 20-jährigen Tränenmeer. Verschiedene Wahrnehmungs- und Opferebenen. Wie imm

Bewertung vom 19.02.2022
Im Auge der Pflanzen
Pereira de Almeida, Djaimilia

Im Auge der Pflanzen


ausgezeichnet

Hortus conclusus oder Der alte Mann und das Meer

Die Autorin dieses Büchleins, die in Angola geborene Portugiesin Djaimilia Pereira de Almeida, ist im deutschsprachigen Raum fast unbekannt. Das ändert nun der Schweizer Unionsverlag mit der Publizierung ihres kleinen Romans „Im Auge der Pflanzen“.

Der Garten und seine pflanzlichen Bewohner als Metapher für das chtonische Leben wird hier zu einer poetischen Orgie. Die üppig wuchernde und duftende Natur strömt aus allen Seiten des schmalen Büchleins und verbindet sich wie Schlingpflanzen mit der Lebensgeschichte von Celestino. Dem alten Kapitän, der in seinen Geburtsort zurückkehrt. Dem alten Korsaren, der fast sein ganzes Leben auf dem Meer verbrachte, dem Auf und Ab der Wellen hingegeben, den Winden und Stürmen trotzend. Und der sich schuldig machte. Der Menschen töten ließ und selbst tötete, der gnadenlos in den afrikanischen Dörfern wütete. Warum? Auf Befehl? Aus Lust an der Vernichtung? Als „weißer alter Mann“ sich berufen fühlend, den „Negern“ zu zeigen, wer Herr im Land, wer Herr ihres Schicksals sei?

Seine Geschichte beantwortet genau diese Fragen nicht. Aber sie sind gewiss der Hintergrund für all diese Taten, die von ihm und Tausend anderen begangen worden sind. Überlegenheit, Überheblichkeit, ein fast göttliches Gefühl.
Seine Geschichte mäandert zwischen seiner gärtnerischen Schöpfung und seinen gespenstischen Erinnerungen hin und her. Die Pflanzen in ihrer lebensprallen Farbigkeit werden ihm zu Freunden, verdrängen die Heimsuchungen in seinem Inneren und so lebt er einige Jahre in Frieden, ein einsames geruhsames zurückgezogenes Leben.

Im Ort brodelt die Gerüchteküche, da werden die Vorurteile gedämpft, Gespenster- und Aberglauben gluckern und der Teufel wird zum Satansbraten. Und die mutig Neugierigen, die durch die Hecken lugen, erschauern, sehen ihn mit der Vogelscheuche tanzen, ahnen fast neidisch ein Leben, das sie nicht gelebt haben.
Die Schatten der Vergangenheit holen Celestino ein, manifestieren sich als Dämonen, die Sklaven, die er in de Ladeluke mit Löschkalk überstäuben ließ. Die Schatten sind präsent in der kleinen Holländerin, die er mit verbundenen Augen, an einen Baum gefesselt, dem Dschungel überließ, in der Schwarzen, die er im Ozean versinken ließ. Sie lassen ihn den nahenden Tod ahnen.

Seine innere Uhr verlangsamt sich, wie eine Sanduhr tröpfelt sein Leben. Er begräbt seine weißen Barthaare unter dem Zitronenbaum. Der Verstand verabschiedet sich sacht, er kann seine eigene Schrift nicht mehr entziffern und er kann nicht mehr sprechen, er wandelt somnambul durch seinen Garten.
Sein letzter Wunsch wäre gewesen, in ein Beet zu fallen, von seinen geliebten Blumen umkränzt, vom Regen begossen, vom Wind umbrandet, Hände und Beine wurzelschlagend, er wäre einer der ihren geworden.

Es ist die Ironie seines Lebens, dass er nicht im Wasserbett des Ozeans stirbt, sondern dass die Schwerkraft der Erde ihn heimholt.

Pereira de Almeida ist eine wunderbare Allegorie gelungen, verzaubernd, eine Allegorie vom prallen blühenden Leben und dem Tod, dem gewaltsamen wie auch dem friedlichen, dem „Es ist Zeit. Ich bin einverstanden“-Tod.

Sie schreibt in einer blühenden, phantasievollen Sprache „die Nelken würden sich mit den Geranien vermählen, die Kamelien die Blattläuse ehelichen, die Tomaten die Käfer heiraten“. Und sie setzt ein Denkmal: dem Garten, der zum Sinnbild des Lebens wird und den Pflanzen. Dem Tod als ein gleichmachendes Ende für alle Wesen auf dieser Welt. Den einen ist seine Präsenz bewusst und sie erwarten ihn, die anderen fürchten ihn, die anderen wissen nichts von ihm und verlöschen.

Ich kann nur sagen und schreiben: dieses kleine Juwel lesen, lesen, lesen.
Sich verzaubern lassen.

Bewertung vom 19.02.2022
In der Fremde sprechen die Bäume arabisch
Al Shahmani, Usama

In der Fremde sprechen die Bäume arabisch


ausgezeichnet

Der mit den Bäumen spricht
Bäume sind Gedichte, die die Erde in den Himmel schreibt (Khalil Gibran)

Der Autor stammt aus dem Irak, ist Literaturwissenschaftler, lebt seit 2002 in der Schweiz. Fliehen oder sterben: einen anderen Weg gab es für ihn nicht. Die Schweiz ist Endstation seiner Flucht und nach vielen befremdlichen Jahren auch seine neue Heimat. Doch die Nabelschnur der arabischen Sprache verbindet ihn mit der alten.

In diesem Buch lotet er Heimat aus, als Ort, als Heimat der Sprache. Als Gefühl einer inneren und einer äußeren Heimat.
Dieser zwar nicht autobiographische, aber mit der eigenen Biographie verflochtene Roman ist in
7 den Bäumen gewidmete Kapitel unterteilt. Baum der Liebe. Baum der Hoffnung. Baum der Ungewissheit. Baum des Todes. Baum der Heimat. Baum des Traums. Baum der Geduld.
Denn die Entdeckung des europäischen Waldes bringt ihm neue Erfahrungshorizonte.

Es sind Widerspiegelungen seiner Erfahrungswelten: die analphabetische Großmutter, die die erste Quelle an Märchen, Liedern, Witzen, Sprichwörtern, Weisheiten war. Das Studentenleben: die Straße Al Mutanabbi, wo die Menschen ihre Bücher verkauften, sich bei Shakespeare, Tolstoi, Dostojevski bedankten, da man nun Geld für Lebensmittel und Medikamente hatte. Die Jahre der Golfkriege: brennende kuwaitische Ölquellen, verbrannte Dattelpalmen wie in schwarze Hijabs gehüllte Frauen. Die Brutalität aller drei Kriege. Massengräber, eine religiös gespaltene, immer noch „saddamisierte“ Gesellschaft.

Das neue Leben in einem neuen Land. Er fühlt sich angekommen. Aber alles wird davon überschattet, dass sein Bruder Ali vermisst wird. Die vergebliche Suche. Das letzte Foto seines Bruders: von einem him-melblauen Schal umschlungen. Erst sehr spät erkennt die Mutter Alis Tod an, so dass ihre Tochter den noch ungeborenen Sohn Ali nennen darf. So schließt sich ein Kreis.

Durch die Tante eines irakischen Freundes hört er vom Wandern. Im Irak geht, läuft, spaziert, bummelt, schlendert man, für Wandern gibt es nicht mal ein Wort. Und einen Wald auch nicht. Es gibt menschenhändig gepflanzte Bäume: Dattel-, Oliven- und Obstbäume. Aber „freie" Bäume? Es gibt jedoch die Fichte, den Baum der Rückkehr. Viele Mütter binden die Nabelschnur der neugeborenen Söhne an einen Ast…

Die Enge des Asylantenheims bringt den Erzähler zum Wandern. Ein Baum mit gebrochenem Stamm. Stehen bleiben, sich neu verästeln: symbolisch für sein neues Leben? Immer wieder taucht er ab in den Wald: ein Tauchgang, ein Waldbaden. Dort kann er neuen Anfang denken, die Vergangenheit zurücklassen. Er liest, dass Bäume ein Gedächtnis haben, dass sie sich gegenseitig helfen, die Verbundenheit der Wurzeln. Gibt es ein geheimes Leben der Bäume?

„Nun ist ein alter Baum ein Stück Leben. Er beruhigt, er erinnert…“ (Tucholsky)
Im Wald ist die arabische Sprache seine Begleiterin: er streut Worte über die Äste und Blätter. Was für ein schönes Bild. Ins Laub geschriebene Poesie!! Aber auch Worte des Krieges, der Gewalt, der Lüge. Das Janus-Gesicht einer Sprache.

Es ist ein erschütterndes Buch, das die Fremdheit feingliedrig aufzeichnet, aber auch die Stärke und Resilienz eines Mannes, der sich zu seinem neuen Leben bekennt, ohne die Wurzeln der Heimat zu kappen. Es zeigt zudem den Morast und das Dickicht des Krieges, der schmutzigen politischen Machtspiele.

Kernpunkt des Romans ist das Leben in Ungewissheit. Das Ungewisse des eigenen Schicksals und das des Bruders. Wie ein Weberschiffchen dringt der Autor in das soziale Gewebe der irakischen und der Schweizerischen Gesellschaft mit dem Schlussfaden der Hoffnung.Und vielleicht verbindet ihn ein imaginierter seidener Faden mit der alten Frau unter dem Maulbeerbaum, die damals vor 20 Jahren Steine für die Zukunft legte. „Du hast einen langen Weg vor Dir, der nicht gefahrlos ist, Dir dann aber Sicherheit bietet. Schau nicht zurück. Dein Traum wird Früchte tragen, aber die Früchte fallen nicht hier.“ Ob der Baum wohl noch steht?
Wir

Bewertung vom 21.01.2022
Die Reise (eBook, ePUB)
Doulatabadi, Mahmud

Die Reise (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Tragische Hoffnungslosigkeit

Doulatabadi ist Schriftsteller, Schauspieler, Bibliothekar. Aufgewachsen in einer einfachen Familie, aber mit den Poemen von Ferdausi, Saadi und Hafez. Und zu Schahs Zeiten im Gefängnis.
Alle diese Erfahrungen fließen in sein Werk: er ist der größte zeitgenössische Epiker seines Landes.
Das Leben abseits der Metropolen und der Wallfahrtsorte zeigt der Roman als düstere Welt der einfachen Menschen, Ausweglosigkeit und Trostlosigkeit. Marhab, der dem immer wieder aufs Neue entfliehen will. Bis er Chatun sieht, die mit Mutter und Tochter in einem abgelegenen Haus bei den Bahngleisen lebt. Ihr Mann Mochtar ist nach Kuweit gegangen, um Geld zu verdienen, nachdem er seine Arbeit als Schmied verloren hatte.
Eines Tages kam der Gendarm mit der traurigen Nachricht, dass Mochtar ertrunken sei. Trauer und Wehklagen, aber das Leben ging weiter.

Und das Leben bescherte ihr Marhab. Sie kamen ins Gespräch, er begleitete sie heim. Sie fühlte sich geschmeichelt, obwohl sie doch eine ehrbare Frau war. Chatun blühte auf, alles andere zählte nicht. Bis er eines Tages nicht mehr auftauchte. Aber Marhab fühlte die Frauen wie einen Klotz an seinem Bein. Die Verantwortung bis an sein Lebensende machte ihm angst.
Es gab noch einen anderen Beobachter des Hauses, einen mit Krücken. Jeden Abend stand er seit Tagen bei den Schienen und beobachtete das Haus.

Mochtar traf Marhab im Teehaus, er erzählte von Kuweit, seinem Unfall, seinem Unglück. Sie waren zu 70 auf einem Boot, als dieses beschossen wurde. Er selbst wachte erst im Krankenhaus wieder auf, einbeinig.
Was sollte er noch dort, was konnte er dort noch arbeiten? Da gab es nur Schwarzarbeit und Erniedrigungen.
Aber wie sollte er zu Frau und Kind zurückkehren? Als untauglicher Invalide? „Bei uns hängen Freundlichkeit und Liebe vom Geldbeutel ab.“


Marhab wollte nichts als fort, ein Kreischen der Bremsen. Zwischen den Gleisen eine zerquetschte Leiche und die Krücke. Er blieb allein in Einsamkeit und Schweigen. Er nahm die Krücke auf und lehnte sich in sie, blicke auf das dunkle einsame Haus.

Der Autor schreibt über gesellschaftliche Zwänge, die Frauen, über die Armut, die Menschen zu Emigranten macht, über Sehnsüchte und Träume „Ich möchte wegfliegen wie ein Kondor. Immer bin ich auf der Suche.“ Was sucht Marhab? Was ist Freiheit? Ist es das ständige Unterwegssein, ohne feste Bindungen?

Der Buchtitel „Safar“ bedeutet „Reise“. Aber so gar nicht in Einklang zu bringen mit dem eingedeutschten „Safari“, was wir oft mit Jagd nach Glück verbinden: Jagd-, Entdecker- und Abenteuerglück. Vielleicht ist es auch hier eine Jagd nach Glück. Dem des Ankommens, des Zuhauseseins, der Geborgenheit?

Für mich beschreibt Doulatabadi diese „Safari“ kurz und knapp, ohne Effekthascherei, trocken, wie unbeteiligt. Und doch fühle ich tiefes Mitfühlen mit seinen Figuren. Die gewiss nicht einfach nur aus dem Hirn eines Romanciers entsprungen sind, sondern lebensnahe Pendants haben.
Für diese Lebensnähe ist Doulatabadi zu danken

Bewertung vom 20.12.2021
Feig, faul und frauenfeindlich
Alanam, Omar Khir

Feig, faul und frauenfeindlich


ausgezeichnet

Hürdenläufer in der Schönen Neuen Welt

Wie hat „der Westen“ erstaunt gejubelt beim Arabischen Frühling, nicht die wehrhaften Reaktionen repressiver Regimes, mit denen sie übrigens einträgliche Verbindungen unterhielten, einkalkulierend: eine Folge war der Flüchtlingsstrom mit seinen Tragödien und Verwicklungen.
Davon berichtet der Autor, aus ganz subjektiver, auf Österreich bezogener Sicht, die aber ein Äquivalent zur deutschen Situation ist.
Der Autor selbst ist Damaszener, der sein Heimatland verließ, um nicht zu töten und nicht getötet zu werden. Der in Österreich eine neue Heimat fand, eine Frau und einen Sohn und eine Laufbahn als Dichter und Schriftsteller. Und der nun in klaren und deutlichen Worten versucht, diese zwei Welten miteinander zu verbinden und der Leserschaft, die an orientalischen Hintergründen und orientalischer Seelenlandschaft interessiert ist, nahe zu bringen.
Er behandelt Themen wie Freiheit und Liebe, Familie und Tradition, Selbstfindung und Verpflichtung, Mut und Feigheit, Scheinheiligkeit und Ehre, Sexismus, Integration und Religion, Arbeit und Geld, Geschichte und Politik.
Er nimmt Aspekte des muslimischen Glaubens, verknüpft mit den dadurch entstandenen Traditionen ins Visier und betont die tiefen familiären Verbindungen, die es den Kindern oft unmöglich machen, ihren eigenen Weg in der sich ändernden Welt zu finden und mutig zu gehen. Sie werden gebunden durch Regeln und Pflichten und dem vielfältigen Begriff von Ehre.
Doch schon Khalil Gibran, ein libanesischer Schriftsteller und Philosoph wusste:
„Eure Kinder sind nicht eure Kinder. Sie sind die Söhne und die Töchter der Sehnsucht des Lebens nach sich selber. Sie kommen durch euch, aber nicht von euch,Und obwohl sie mit euch sind, gehören sie euch doch nicht.“
Omar Khir Alanam betont auch immer wieder, dass das neue Leben der Flüchtlinge in der „Schönen Neuen Welt“ wie ein Hürdenlauf sei, man müsse Mut zur Veränderung haben, man dürfe es sich nicht in der gebotenen sozialen Hängematte bequem machen, man müsse Herausforderungen erkennen und annehmen. Nur so kann ein neues Leben, ein „integriertes Leben“ gelingen. Aber die sog. Integration wird oft nicht nur durch die Flüchtlinge selbst verhindert, sondern die staatlichen Stellen scheinen oft kein wirkliches Interesse daran zu haben: Deutschkurse werden gekürzt oder gestrichen. Dabei ist doch die Sprache das wichtigste Instrument für ein Miteinander, für das Verständnis des Anderen, der in vielen Facetten so anders gar nicht ist: denn auch er ist nur ein Mensch, mit seinen Stärken und mit seinen Schwächen.
Und er prangert an, dass viele Flüchtlinge jahrelang im Ungewissen leben müssen, nicht arbeiten dürfen, sich im bürokratischen Dschungel verlaufen.

Verfehlt ist auch die Ablehnung des Islam im Allgemeinen. Es müssten Initiativen entstehen,

um die wachsende Politisierung des Islam zu stoppen. Der Autor bricht eine Lanze für einen europäischen Islam, der Demokratie, Freiheit und Gleichheit beinhaltet und wundert sich, dass z.B. in Deutschland die Imame der DITIB aus der Türkei gesandte Beamte seien. Er bemängelt auch die dunklen Hinterhof-Moscheen, in denen radikale Kräfte eine ideale Brutstätte finden, durch die wahabitische Glaubensauslegung der Saudis gefördert.
Er fordert zudem eine kritische und reflektierte Geschichtsvermittlung für die Flüchtlinge über Rassismus, Antisemitismus, Homophobie ohne erhobenen Gutmenschenzeigefinger, aber auch über die westlichen Grundsteine zu den nahöstlichen Konflikten: der Aufteilung der osmanischen Gebiete ohne Rücksicht auf Religionen und Ethnien. Als Beispiel diene das Sykes-Picot-Abkommen zwischen Frankreich und England. Und nicht zu vergessen der Exportschlager der Waffenlieferungen.

Eine komplexe Lektüre, und doch fast beschwingt geschrieben, mit für viele gewiss neuen Eck- und Wissenspunkten. Die nicht nur die einen als Opfer und die anderen als Täter sieht. Die das Verbindende

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 08.12.2021
Flügel in der Ferne
Hilal, Jadd

Flügel in der Ferne


sehr gut

Living in one land, dreaming in another

Dieser Titel einer Ausstellung von Shirin Neshat könnte das Motto dieses frauenbewegten Romans sein, der in alternierenden Puzzleteilen das Leben von vier Frauen beschreibt. Von Naïma und ihrer Tochter Ema, ihrer Enkelin Dara und ihrer Ur-Enkelin Lila. Frauenschicksale eines zerrissenen Lebens, in einem zerrissenen Land. Wie eine Patchworkdecke sind Geburten, Trennungen und Todesfälle miteinander vernäht.
Jadd Hilal ist selbst libanesisch-palästinensischer Abstammung, also prädestiniert dazu, diese generationsübergreifenden Familienbande plastisch zu schildern.

Die Zuordnung der mosaikartig angeordneten Textfragmente – mal ausführlicher, mal kurz – finde ich etwas verwirrend, werfen mich immer wieder zurück: Who is who? Und wer war wann wo?


Im Hintergrund spielen zwei weltgeschichtliche Akteure mit und sind letztendlich ausschlag-gebend für die zerrissenen Biographien der vier Frauen: die Nakba, die Vertreibung der Pa-lästinenser aus ihrem angestammten Gebiet durch die Israelis und der libanesische Bürgerkrieg, auch er indirekt durch die Nakba beeinflusst, denn die Vertreibung der PLO aus dem Libanon, die wiederum zuvor nach dem sog. Schwarzen September aus Jordanien vertrieben worden war, war der Auslöser. Und das Land ist bis heute - 2021 - nicht zur Ruhe gekommen. Immer wieder flackern Kleinkriege und Kämpfe auf in diesem mediterranen Land, in dem Christen maronitischer Prägung und sunnitische und schiitische Muslime um die Macht ringen und kämpfen.

Die Frauenschicksale aber sind natürlich eng mit den Charakteren ihrer Männer verbunden, die zwar nur in Nebenrollen auftreten, die alle in irgendeiner Form zu Gewalt neigen und Anpassung und Unterwerfung erzwingen und somit ein Spiegelbild der gesellschaftlichen und politischen Realität sind. Zerrissene Seelen, die vertrieben werden und die flüchten. In andere Länder, aber auch in Alb- und Tagträume.

Deutlich werden die kriegerischen Rivalitäten der diversen Milizen und Militärs geschildert, die Instabilität eines Landes „mittendrin“. Aber auch die Privilegien gewisser Schichten, zu denen die UNO-Mitarbeiter und die anderer internationaler Organisationen zählen. Sie leben in „Gated Communities“, mit Privatchauffeur, Spesen für dies und jenes und früher Pensionierung. Weit entfernt von der Realität der Landesbewohner, ob Einheimische oder „Zugewanderte“. Die Beamten werden evakuiert, der Rest, die gewöhnlichen Libanesen, müssen bleiben. Warum? Sie sind keine Auserwählten, sie sind nur Statisten im „Big Game“. Und es wird offen dafür plädiert, die UNO abzuschaffen. Wozu einen Sicherheitsrat, in dem 5 Staaten (von denen keiner ein sog. Entwicklungsland ist) über 187 Staaten entscheiden.

Faszinierend für mich als Leserin ist die Liebe zum Land, zum Libanon, zur „unerträglichen Leichtigkeit des Seins“. So ist das Hin und Her z.B. für Dara ein Tauziehen zwischen liba-nesischer Lust am Leben und dem europäischen Verantwortungsbewusstsein und der geregelten Ordnung. In Ländern wie dem Libanon herrschen Unordnung und Großzügigkeit, man besitzt wenig und gibt gerne.

Bezeichnend die Szene auf dem Schiff, das Evakuierte nach Zypern bringen soll.
Eine Sängerin stimmte das Lied „Al Busta“ der über die Grenzen Libanons hinaus berühmten und verehrten Fairuz an, die Passagiere jubeln, weinen, stampfen, applaudieren, als ob ein Ozean menschlichen Leids zu einer Stimme wird.

Das Buch schließt mit Lilas Traum vom „durch die Lüfte fliegen“ wie die Vögel. „Als ich die Augen wieder öffnete, war ich wie ein Vogel, hatte Flügel, die die anderen nicht besaßen“.

„Füße, wofür brauche ich Euch, wenn ich Flügel zum Fliegen habe.“ Frida Kahlo

Die Träume, die Sehnsucht, Heimat, aber auch die frauenfamiliäre Verbundenheit - das ist die Quintessenz dieses Romans, der durch diese vier Frauen das Schicksal der Frauen in Krisen- und Kriegsgebieten verdeutlicht. Und gerade in der heutigen Zeit ist Heimat ein Zustand, nach dem wir

Bewertung vom 26.11.2021
Die Narayama-Lieder
Fukazawa, Shichiro

Die Narayama-Lieder


ausgezeichnet

Dieses Büchlein ist eine Preziose: der Einband und natürlich der eigentümliche, außergewöhnliche Text selbst mit den Liedern, die mit spöttischem Unterton, das Dorfleben illustrierend, in den Text hineingewebt sind. Eigentümlich, weil er eine ungewöhnliche Schilderung ist, aus einer archaischen Zeit, aus einer archaischen Landschaft. Eine archaische „Triage“. Und doch atmet der Text Lebensfreude, denn Orin hat es akzeptiert, dass sie mit 70 „auf den Berg geht“, nicht dumpf oder aufbegehrend gegen die Tradition, sondern freudig als Lauf des Lebens, als unausweichliches Schicksal. Für uns moderne Menschen ist Orin eine Geisel archaischer Traditionen und die Triage gerade in den aktuellen pandemischen Zeiten ein Stich in das Wespennest unseres modernen Egos. Die verwitwete Orin lebt mit ihrem Sohn Tatsuhei und Enkeln in der „Wurzelhütte“. Das Dorf besteht aus 22 Hütten, alle „getauft“. Das karge Hochland bietet den Dörflern kaum Abwechslung, bis auf das Bon-Fest, bei dem die Ahnen für 3 Tage im Diesseits mit Tanz empfangen werden, Neujahr und das Narayama-Fest. Es gibt nur wenig Anbauflächen. Das bedeutet knappe Ressourcen, und Nahrungsmittel-Diebstahl ist ein großes Tabu im sozialen Gefüge. Beim Narayama-Fest, das nur einmal im Jahr gefeiert wird, wird jedoch üppig getafelt: die Früchte der frühen herbstlichen Ernte und die kostbarste Delikatesse überhaupt, weißer Reis. Orin freut sich auf das Fest, kann sie doch endlich wie alle Alten „auf den Berg gehen“, die wichtigste Reise ihres Lebens antreten, hinauf zum Göttlichen Berg. Sie ist bereit, denn sie hat für ihren Sohn eine neue Frau gefunden, Tamayan. Aber auch ihr Enkel Kesakichi hat sich schon verfrüht eine Frau gesucht, Matsuyan von der „Teichhütte“. Man heiratet spät, jedes neue Familienmitglied ist ein Esser mehr im essenknappen Dorfleben. Der Winter nähert sich. Mehr denn je eine Herausforderung, denn nun gibt es 2 Personen mehr, die essen wollen, zumal Matsuyan wie ein Bär futtert (sie ist im 5. Monat schwanger). Orin fühlt sich überflüssig mit den 2 neuen Frauen im Haus und sehnt sich nach der Reise zum Göttlichen Berg. Endlich gibt ihr Sohn schweren Herzens sein Einverständnis, obwohl die Schwiegertochter meint, man solle das kommende Baby von Matsuyan opfern. Orin lädt zum Abschiedstrunk. 7 Männer und 1 Frau erscheinen, geben Abweisungen und Erklärungen, nehmen Gelübde ab. So ist es Brauch. Es gibt drei Regeln: No. 1: unterwegs nicht sprechen. No. 2: niemand darf sie beim Aufbruch sehen, No. 3: der Begleiter darf bei der Rückkehr vom Berg nicht zurück blicken ( Reminiszenzen an Lots Frau und Orpheus?). Einer gibt Tatsuhei den Tipp: es reiche schon bis zu den 7 Tälern, ein Rat, den er erst auf dem Rückweg versteht. Orin will fort, ermahnt den Sohn, der sie über die 7 Täler, wo es nur einen und doch keinen Weg gebe, (die Symbolik des Unterwegsseins und des finalen Ankommens?) bis auf den Berg, wo der Gott wohnt, trägt. Auf dem Berg legt Orin ihre gewebte Matte zurecht und legt ein Bällchen weißen Reis darauf. Sie schiebt den Sohn in Richtung Abstieg und drückt fest seine Hände. Tatsuhei torkelt weinend abwärts. Er dreht sich nicht um. Doch dann beginnt es zu schneien, und er will dieses Glück mit seiner Mutter teilen, denn sie glaubte fest, dass es schneien würde, wenn sie auf den Berg, wo der Gott wohnt, geht. Er sieht sie beten, die Matte um sich gelegt, vom Schnee umhüllt. Er begegnet bei den 7 Tälern dem Sohn des Nachbarn, der seine Trage abschnallt und den Vater hinabstürzt. Das Schlussbild als „Das Leben geht weiter“-Sinnbild: der Enkel sitzt betrunken in Orins ge-füttertem Wattemantel, seine Frau trägt Orins Stoffgürtel. Und er sagt: Oma hat Glück: es schneit.In diesem kleinen Buch ist alles enthalten, was das menschliche Leben ausmacht: Liebe, Zuneigung, Trauer, Sorge, Neid, Schicksalsergebenheit, Auflehnung, existenzielle Not, Rituale, Würde, Erbarmen. Und der Tod. Der präsent ist als Teil des Lebens. Der in unseren Zeiten verdrängt wird, nur durch Schlagzeil

Bewertung vom 31.10.2021
Minarett
Aboulela, Leila

Minarett


ausgezeichnet

Leila Aboulela konfrontiert uns mit Nadschwa, der Ich-Erzählerin dieses Romans. Er ist in sechs Kapitel gegliedert: zeitlich von 1984-2004 hin und her springend, was ich verwirrend finde. Er ist Schilderung einer Lebenssuche nach Geborgenheit, Zuneigung und Sicherheit mit vielen Irrungen und Wirrungen.
Wir werden Zeuge dieser Auf und Abs, dieses Herausgeworfenseins aus einer afrikanischen Welt in eine graue und kühl-britische, aus einer Kindheit und Jugend einer verwestlichten Oberschicht in die Unsicherheit des Exils, ohne Eltern und Freunde, ohne Ressourcen. Ein Leben wie in einer Zwangsjacke.
Nadschwas Leben in einer wohlhabenden einflussreichen Familie mit der zwillingssymbiotischen Beziehung zu ihrem Bruder Omar,„Und trotzdem lauerte in mir manchmal ein Schmerz wie von einer verheilten Wunde und Traurigkeit wie von einem vergessenen Traum“. Auf dem Campus der Uni sah sie betende Frauen, bewunderte die Choreographie ihrer Bewegungen.
Sie fühlte eine starke Anziehungskraft zu dem politisch engagierten Anwar, obwohl er sie wegen ihrer Herkunft verspottete, ihren Lebensstil verachtete.
Ein Putsch zwang Nadschwa, Omar und die Mutter überstürzt nach London abzureisen. Der Vater wurde verhaftet, ihre Ländereien und Häuser konfisziert, der Vater wegen Korruption angeklagt und gehängt.
In London „…klaffte die Erde auseinander und wir stürzten in die Tiefe, entfremdeten uns voneinander, weil wir einander noch nie hatten fallen sehen.“

Die Mutter starb, Omar verbüßte eine sehr lange Haftstrafe, weil er fast einen Polizisten erstochen hatte. Nadschwa blieb allein, musste arbeiten.

Ein Wiedersehen mit Anwar, der jetzt als politischer Flüchtling in London lebte. Sie wurden ein Paar trotz der unüberbrückbaren Unterschiede. In ihr wuchsen Schuldgefühle über die verlorene Jungfräulichkeit. Durch Wafâa erste Kontakte zur Moschee, wo sich Frauen regelmäßig zum Unterricht trafen. Diese Besuche wurden zu einer festen Konstante ihres Lebens. Sie begann den Hidschab zu tragen, die ramadanische Fastenzeit einzuhalten und Hoffnung zu nähren, dass Allah ihr ihr früheres Glück zurück geben bzw. ein anderes, neues Glück schenken würde. Anwar bezeichnete ihren Weg zum Glauben als Gehirnwäsche, er verstand nicht, dass Nadschwa in sich geborgen sein wollte und sich den „großen Dingen“ wie Meinungsfreiheit, Menschenrecht, Terrorismus entzog. Für sie war ihr Weg ein Peeling der Seele.

Sie lernte den sehr religiösen Tamer kennen, viele Jahre jünger, es entwickelten sich zarte Gefühlsbande. Als sie sich küssten, wurden sie von seiner Schwester und ihrer Arbeitgeberin entdeckt.

Aboulela gelingt es, die Seelennöte einer in die Fremdheit gestoßenen, lebensfremden jungen Frau nachvollziehbar zu schildern. Die aus der Wohlbehütetheit ihres bisherigen farbigen Lebens in ein glanzloses geworfen wird ohne jeglichen Kontakt zu Einheimischen. Die in ihren Liebes-beziehungen zu Anwar und Tamer scheiterte. Anwar, der sie nicht heiraten wollte. Dessen biologisch-rassistisch-reaktionäres Argument mich frösteln macht: er wollte Nadschwas geneti-sches Erbe, das Blut ihres Vaters, nicht in den Adern seiner Kinder fließen sehen. Also auch nur ein Lebenslügner, kein aufgeklärt-rationaler Systemveränderer, als den er sich selbst so gern sah.
Und doch bleibt die weibliche Hauptfigur irgendwie blass und blutleer, mir fehlt kämpferischer Geist. Ein Auflehnen gegen ihr Schicksal, statt es passiv-depressiv zu akzeptieren.


Wir als Leserinnen und Leser mögen diesen Lebensweg nicht nachvollziehen können: wir leben selbst meist ein rationales, areligiöses, angeblich zeitgemäßes Leben und uns erscheint der Islam als eine Religion der Unterwerfung. Was das arabische Wort ja auch explizit bedeutet. Sich ergeben in den Willen Gottes. Eine sich unterwerfende Unzeitmäßigkeit. Wobei wir vergessen, dass bei uns in früheren Zeiten Nonnen Jesus als ihren Bräutigam sahen und heute die evangelikalen Sekten und die esoterischen New Age-Gruppen, die Hinwendung zum buddh