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Bewertungen

Insgesamt 68 Bewertungen
Bewertung vom 12.05.2023
Das Café ohne Namen
Seethaler, Robert

Das Café ohne Namen


ausgezeichnet

Bezaubernder Roman a la Seethaler
Wien, 1966. Am Karmelitermarkt eröffnet der Gelegenheitsarbeiter Robert Simon in einem leerstehenden Ladenlokal ein Café mit einfachen Speisen und Getränken wie Kaffee, Bier, Wein, Schmalzbrote und Gurken. Seine Gäste sind die einfachen Leute aus dem Viertel, arm und weniger arm, Arbeiter:innen vom Markt und aus der Umgebung, Paare und Einsame. Sie alle haben ihre kleinen und großen Geschichten, Erlebnisse und Begegnungen. Hier im Café finden sie ein wenig Geborgenheit, Trost, Ablenkung oder auch nur die Möglichkeit, für einen Moment zu vergessen. So vergehen die Jahre und mit ihnen entwickelt sich auch Robert weiter.

Stille Charaktere, einfache Leben, kleine und große Schicksale. Mit „Das Café ohne Namen“ hat Robert Seethaler erneut einen seiner wunderbaren Romane geschaffen. Seine Geschichten bezaubern durch die leisen Töne, und er schafft es immer wieder, den kleinen Dingen des Alltags diesen besonderen Glanz zu verleihen.

Alle, die diese stillen, ruhigen, bezaubernden Romane mögen, werden diesen neuen Seethaler lieben.

Bewertung vom 02.05.2023
Das Schloss der Schriftsteller
Neumahr, Uwe

Das Schloss der Schriftsteller


ausgezeichnet

Spannender Blick auf den Nürnberger Prozess - 1946 wurde während des Nürnberger Prozesses gegen 21 Vertreter des Nazi-Regimes Anklage erhoben. Weltweit wurde über diesen Jahrhundertprozess berichtet, unter anderem von Willy Brandt, Martha Gellhorn, Erika Mann, John Dos Passos oder auch Markus Wolf. Untergebracht wurden die Journalist:innen, Schriftsteller:innen und Starreporter:innen in dieser Zeit im Schloss Faber-Castell. Hier wurde geschrieben, gefeiert, geliebt und versucht, das gehörte zu verarbeiten.
Uwe Neumahr dokumentiert die Zeit in Nürnberg anhand von 12 Biographien. Sehr gut und detailliert recherchiert schildert er den Verlauf des Prozesses selbst, die zum Teil zähen Verhandlungstage, stellt die Richter und Angeklagten dar und lässt die Kälte, die Gleichgültigkeit und Überheblichkeit dieses menschgewordenen Bösen im Saal „aufleben“.
Dabei setzt er seine Akzente nicht nur auf die Inhalte des Geschehens sondern bringt die Rolle der einzelnen Akteure in einen größeren Kontext. So beleuchtet er die unterschiedliche politische Gesinnung der Berichterstatter:innen, ihre persönlichen, gesellschaftlichen und sozialen Hintergründe, ihren Blick auf Nazi-Deutschland und die besiegten Deutschen. Er lässt uns teilhaben an ihren Meinungen zur Frage der individuellen und Kollektivschuld, zur Frage der fehlenden deutschen Richter, zur Kritik an diesem „Männerprozess“.
Einmal angefangen konnte ich dieses Buch nur schwer zur Seite legen. Uwe Neumahr hat mir persönlich so viele Perspektiven und Fragestellungen aufgezeigt, mit denen ich mich so noch nicht auseinandergesetzt hatte. Und auch die Rollen und Meinungen der Berichterstatter:innen im geschichtlichen und literarischen Kontext waren spannend zu lesen und zu lernen. Ganz große Empfehlung für alle, die gern gut recherchierte Geschichtsbücher lesen.

Bewertung vom 14.03.2023
Sibir
Janesch, Sabrina

Sibir


ausgezeichnet

Wunderschöne und ergreifende Geschichte - Der 10-jährige Josef wird 1945 gemeinsam mit Mutter, Tante und den Großeltern von der Sowjetarmee nach Kasachstan, genauer nach Nowa Karlowka verschleppt. Ihr dortiges Leben ist gezeichnet von Anpassung, Furcht und dem Willen, trotz widrigster Lebensbedingungen irgendwie zu (über)leben. Und dabei die Erinnerungen und das Deutsche nicht ganz zu vergessen.
1990 lebt Josef als Rückkehrer mit seiner Frau, der Tante und seiner Tochter Leila am Rande der Lüneburger Heide, inmitten anderer Rückkehrer. Sein Leben ist geprägt von den Erlebnissen und Erfahrungen der Kindheit, die ihn wie ein unsichtbarer Geist verfolgen. Und es ist seine Tochter Leila, die uns dieses Leben zwischen zwei Welten näherbringt.
Sabrina Janesch schreibt über so viel: Über die Liebe – zu Mutter und Vater, zu Enkel, Freund und Mitmenschen, zu Wurzeln und Traditionen. Über Heimat und wie sie ein ganzes Leben prägen und beeinflussen kann, was es bedeutet, die Heimat zu verlieren und stetig auf der Suche nach der verlorenen Heimat zu sein. Über Menschlichkeit und Zuversicht und Vergebung und Freundschaft. Ihre Sprache ist fesselnd und einnehmend und dann wieder einfühlsam und ruhig -je nach Situation und Erzählstrang. Und genau das passt stilistisch ganz wunderbar zu diesem Roman aus zwei Welten.
Sabrina Janeschs Roman ist ein großer Lesegenuss! Und es gibt eine ganz große Leseempfehlung an alle, die diese „kleinen, leisen, stillen“ Geschichten lieben!

Bewertung vom 30.01.2023
Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?
Weber, Sara

Die Welt geht unter, und ich muss trotzdem arbeiten?


ausgezeichnet

Großartiges Plädoyer für eine neue Arbeitswelt -„Während ich dieses Buch schreibe, stapelt sich Krise auf Krise. 2022: Corona ist noch immer nicht verschwunden. Es ist Krieg in Europa. Die Klimakrise zeigt sich immer deutlicher…“ 4 Sätze und Sara Weber hatte mich in ihren Bann gezogen. Denn eins ist klar: „Die Arbeitswelt ist kaputt.“ Und da helfen Yoga, Diskutieren über New Work und ein Bonus für überarbeitete Mitarbeiter:innen auch nur noch bedingt.
Sara Weber schreibt über die großen und dringenden Herausforderungen unserer Gesellschaft: den Fachkräftemangel, faire, gerechte, gleichberechtigte und gleiche Arbeitsbedingungen für alle, die große Resignation vieler Arbeitnehmer:innen, die objektive Bewertung von Care Arbeit, den Klimawandel, der massiv in unsere Arbeitswelt einwirkt. Und sie zeigt realistische wie radikale Wege und Lösungen aus der Krise, von der 4-Tage-Woche bis zur Macht von organisierten Protesten.
Perfekt recherchiert, hervorragend strukturiert und mit sehr viel Hintergrundwissen und Blicken über den Tellerrand hat Weber ein sehr beeindruckendes Plädoyer für eine radikale Veränderung unserer Art, Arbeit zu denken, zu planen und zu bewerten verfasst. Große Ansätze, die politisches Umdenken benötigen kommen ebenso zum Tragen wie kleine Ideen, die Arbeitgeber:innen relativ individuell umsetzen können – wenn der nötige Wille zu konstruktiver Veränderung da ist.
Jede Person, die irgendwie im Job das Gefühl hat, dass das doch besser gehen muss, dass das Arbeiten, wie wir es heute kennen, einfach überholt ist, nicht mehr funktioniert, nicht mehr erfüllend ist und so keine Zukunft hat, hat hier die perfekte Lektüre in der Hand!

Bewertung vom 25.09.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Wow! Ergreifende Familiengeschichte

Dieser Roman hat mich emotional sehr berührt und gefesselt von der ersten bis zur letzten Seite.

Erzählt wird auf drei Zeitebenen: Im Hier und Jetzt spürt Alex eine ständige Wut in sich, die er sich nicht erklären kann und die zunehmend für seine Familie zur Zerreißprobe wird. Nach einer aufschlussreichen Familienaufstellung begibt er sich auf Spurensuche.

1988 ist der kleine Alex zu Besuch bei seinen Großeltern Karin und Sven. Die Oma umsorgt ihn zärtlich zurückhaltend und mit viel Liebe und Fürsorge, der Opa ist eher kühl und sachlich. Immer wieder wird der Junge Zeuge von verbalen Entgleisungen des Großvaters, die er – damals - nicht einzuordnen weiß.

1932 ist die junge Karin mit dem erfolgreichen und bekannten Schriftsteller Sven Stolpe verheiratet als sie sich während eines Stipendiats in den jungen Olof Lagercrantz verliebt und eine gemeinsame Zukunft mit ihm plant.

Alex Schulman beschreibt in seiner bereits 2018 in Schweden erschienenen autofiktionalen Familiengeschichte sehr eindrucksvoll, wie Wut und Enttäuschung über Generationen hinweg Beziehungen und Familien belasten kann. Seine Sprache ist unglaublich intensiv, dicht und schonungslos.

Im Fokus steht dabei Karin, die über Jahrzehnte im Schatten ihres Mannes stand, von ihm malträtiert, gegängelt und „klein und still“ gehalten wurde. Ihr gibt Schulman hier nun eine Stimme und lässt ihre Geschichte und ihre Emotionen lebendig werden. Eine liebevolle, ruhige und zurückhaltende Frau, die vielleicht von ihrem Ehemann „gebrochen“ wurde, dennoch gleichzeitig stark und auf ihre Art irgendwie „unbesiegt“ wirkt. Dem gegenüber die aggressive und dominante Figur des Sven Stolpe. Erschreckend, wie selbst die Sprache Schulmans dies umsetzt. „Für Sven Stolpe ist alles ein Krieg“. Und so sieht er sich als Opfer eines sexuellen Attentats, der Kämpfe gegen seine Feinde führt und von Hass, Narzissmus und Wahnvorstellungen zerfressen ist. Diese Sprache tut weh, entsetzt und erschüttert, wenn sie sich zu oft gegen Karin richtet.

Wäre da nicht die Liebe zu Olof, ich hätte das Buch u.U. nicht beenden können. Olof aber ist „ausgeknockt vor Liebe“ zu Karin, und auch dies ist sprachlich so wunderschön und gegensätzlich zu aller Wut in diesem Roman umgesetzt, dass man nur weiterlesen kann und will.

Bewertung vom 23.09.2022
Isidor (eBook, ePUB)
Kupferberg, Shelly

Isidor (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Eine bewegende Familiengeschichte - „Vertreibung und Ermordung sind der Grund, warum sie [Erbstücke] fehlen. Umso wichtiger sind die Geschichten, die überlebt haben. Und weitererzählt werden.“

1908 wandert der damals 22-jährige jüdisch-orthodoxe Israel Geller aus dem ostgalizischen Tlumacz nach Wien aus. Aus Israel wird Isidor. Er studiert, legt eine beachtliche Karriere in der Lederindustrie hin, wird zum Kommerzialrat und Wirtschaftsweisen benannt, kommt durch klugen Wertpapierhandel zu einem großen Vermögen. Er ist ein moderner, assimilierter, emanzipierter und „deutscher“ Jude. Er verehrt das Theater und die große Bühne, ist ein Lebemann, der die Zerstreuung und das Wiener Gesellschafts- und Kulturleben liebt.

Dem allgegenwärtigen Antisemitismus begegnet Isidor eher mit Gleichgültigkeit, „vorübergehende Erscheinungen“, mit denen man sich „arrangieren“ müsse. Bis sich Österreich im März 1938 dem Deutschen Reich anschließt.

Shelly Kupferberg schildert auf eindrucksvolle Weise das Leben ihres Urgroßonkels aber auch weiterer Mitglieder ihrer jüdischen Familie im Wien der 30er Jahre. Anhand von Tagebüchern, Briefen, Archiven und umfassenden Recherchen hat sie ihm und seinen Geschwistern wieder „Leben eingehaucht“ und Erinnerungen, ein Andenken gesetzt.

In einem kurzen Anhang erzählt die Autorin u.a., wie sie bei der Recherche zum Buch vorgegangen ist. Als besonders bedrückend und perfide empfand ich persönlich dabei die Tatsache, dass gerade die akribische Bürokratie der Nazis bei der systematischen Vernichtung der Juden dazu führte, dass Shelly Kupferberg einige Lücken in ihrer Recherche schließen konnte.

Bewertung vom 04.09.2022
Das neunte Gemälde / Lennard Lomberg Bd.1
Storm, Andreas

Das neunte Gemälde / Lennard Lomberg Bd.1


sehr gut

Spannende Zeit- und Kunstreise
Nahezu verschlungen habe ich diesen Krimiauftakt rund um den Kunstexperten Lennard Lomberg. Andreas Storm hat hier eine spannende Kombination aus Krimi, Historie und Kunstgeschichte geschrieben. Fortsetzung geplant.
Der Kunstexperte Lennard Lomberg wird über einen mysteriösen Anruf auf ein verschollenes Kunstwerk angesetzt. Kurz darauf ist der Anrufer tot und Lomberg begibt sich auf Spurensuche. Diese führt ihn in die Vergangenheit, zu Picasso und seinen Werken, zum Raub unzähliger Kunstschätze durch die Nazis, zum politischen „Wiederaufbau“ der jungen BRD; immer tiefer auch in die eigene Familiengeschichte.
Knackig geschrieben konnte man die fesselnde Story mit viel Spannung und den unterschiedlichsten Wendungen klasse verfolgen. Besonders gut gefiel mir dabei, dass neben der Story auch so viele Facetten aus Kunst und Geschichte in den Plot eingebaut wurden – und der Autor im Nachgang eingeordnet hat, was Tatsache und was Fiktion war. So konnte ich nebenbei auch noch so einiges lernen.
Kleiner Wermutstropfen: Mir persönlich waren einfach zu viele Hinweise auf schnelle Autos, gute Weine, teure Hotels drin. Das empfand ich als störend und irgendwie überzogen. Nichts desto trotz freue ich mich bereits auf den Nachfolger, „die Triade von Madrid“.

Bewertung vom 28.08.2022
Schlangen im Garten
vor Schulte, Stefanie

Schlangen im Garten


sehr gut

Vom Umgang mit Trauer und Verlust

„Zum Abendbrot isst er jetzt immer eine Seite aus dem Tagebuch seiner verstorbenen Frau. Er isst sie roh, und er tut es aus Liebe.“ Adam Mohn und seine Kinder Steve, Linne und Micha haben ihre Ehefrau und Mutter Johanne verloren. Jede und jeder von ihnen geht mit der Trauer anders um; beobachtet vom Trauerbeamten Ginster, dessen Behörde offensichtlich am besten weiß, wie man mit Trauer umzugehen hat. Und in diese Vorstellungen passen die Mohns in ihrem Schmerz und ihrem Verhalten nun so gar nicht rein. Begleitet werden sie von Bille, Brassert und Marlene, die leise und unerwartet in ihr Leben treten.

Stefanie vor Schulte ist ihrem Stil und ihrer Art des Geschichtenerzählens treu geblieben. Auch mit „Schlangen im Garten“ nimmt sie die Leserin mit auf eine leise, stille Reise, mit in das Leben von Menschen, die auf ihre ganz persönliche Art mit Verlust und Trauer umgehen. Es sind eher kleine Geschichten und Momentaufnahmen; jede anders und jede mit einer anderen Note. Wie werden wir fertig mit dieser Leere? Es gibt kein Richtig und kein Falsch, keine Regeln und auch niemand, der den Schmerz aufheben kann. Aber es gibt Wegbegleiter, die manches erträglicher werden lassen, kleinste Momente, Begebenheiten, die helfen können, zu heilen.

Was mich im ersten Roman von Stefanie vor Schulte so bezaubert und gefangen genommen hat, das Märchen eines Jungen auf seinem schweren Weg, konnte mich dieses Mal leider nicht überzeugen. Zu surreal, zu abstrus kamen die Geschichten daher. Zu den Figuren konnte ich leider überhaupt keinen Zugang finden. Auch sprachlich erschienen mir einige Passagen recht wirr. Schade! Vielleicht war es einfach nicht das richtige Timing für uns.

Bewertung vom 27.08.2022
Der Weg zur Grenze
Weil, Grete

Der Weg zur Grenze


ausgezeichnet

Grandioses Werk mit stark autobiographischen Zügen

Grete Weil hat diesen Roman bereits 1944/45 geschrieben; veröffentlicht wurde er erst jetzt. Ein grandioses Werk, das stark autobiographische Züge trägt. Und das umso wichtiger und bedeutender wird, wenn man es im Kontext seiner zeitlichen Einordnung liest. Ich habe das Buch „chronologisch gelesen; es mag aber auch sehr aufschlussreich sein, zunächst das sehr gute und umfassende Nachwort zu lesen.

1936 ist die Jüdin Monika Merton auf der Flucht vor der Gestapo und auf dem Weg zur Österreichischen Grenze. Eher zufällig wird sie auf dem beschwerlichen Weg begleitet von dem jungen Dichter Andreas von Cornides. Ihm erzählt sie ihre Lebensgeschichte. Von ihrem Leben in der Weimarer Republik bis zur Machtergreifung Hitlers. Von ihrer Liebe zu und der Ehe mit ihrem Cousin Klaus. Von glücklichen gemeinsamen Monaten, die bereits überschattet sind vom rasanten „Aufstieg“ der Nazis. Bis hin zu Klaus‘ Verhaftung 1934 und seiner späteren Ermordung im KZ Dachau.

Grete Weil hat diesen Roman in ihrem Amsterdamer Versteck verfasst, auf einer Treppe kauernd. Sie schreibt, während um sie herum das Unfassbare geschieht und sie jeden Tag mit der Angst leben muss, entdeckt und ermordet zu werden. Sie blickt zurück auf vergangene Tage. Auf eine Realität, die viel zu lange geschwiegen hat. Auf ein Leben, das viel zu lange „so schlimm wird es schon nicht werden“ gedacht hat. Auf einen Kreis lebenshungriger, intellektueller, junger Menschen, die das kulturelle und gesellschaftliche Leben der 20er und frühen 30er Jahre genießen wollten.

Grete Weils Sprache ist feinfühlig und poetisch. Ihre Sätze haben viel Tiefe und Tiefgang, viele Gedankengänge sind nahezu philosophisch. Und dann, mit steigender Bedrohung, verändert sich diese Sprache. Sätze, scharf wie Messer, präzise Schilderungen unfassbarer Situationen und Momente. Mit grausamer, eindrücklicher Klarheit schildert Grete Weil Monikas, ihre innere Ohnmacht, die Angst der Ungewissheit und Hilflosigkeit. Die Emotionen und Gefühle kommen mit so viel Schmerz und Pathos daher, dass man selbst erschüttert zurückbleibt.

Für mich persönlich ist dieser Roman von Grete Weil eines der wichtigsten Bücher, die ich bislang gelesen habe. Und er ist ein ganz bedeutsamer Beitrag zum Verständnis des Holocaust. Selten findet man so tiefe Einblicke und Emotionen in diese unfassbaren gesellschaftlichen und politischen Umbrüche. Das gut 40 Seiten umfassende Nachwort von Ingvild Richardsen ist dabei unglaublich hilfreich für die Einordnung des Romans in Weils Leben und die damalige Zeit, aber auch in ihre Werke und ihre Rolle als jüdische Autorin und Zeitzeugin im Nachkriegsdeutschland.

Bewertung vom 22.08.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


ausgezeichnet

Ein sprachlich grandioser Roman - Vollkommen eingesogen – anders kann ich nicht beschreiben, wie mich dieser neue Roman von Katie Kitamura (Ü: Kathrin Razum) überwältigt hat. Kein großer Spannungsbogen, keine emotionalen Achterbahnfahrten, dafür eine so feinfühlige, tiefgründige und subtile Sprache, dass ich noch immer ganz gefangen bin.

Die Ich-Erzählerin, eine namenlose Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof in Den Haag übersetzt im Rahmen des Prozesses gegen einen Afrikanischen Ex-Präsidenten und kommt diesem im Laufe der Zeit sehr nah. Zeitgleich reist ihr Partner Adriaan zu seiner noch-Ehefrau nach Lissabon und lässt sie allein in seiner Wohnung zurück.

„…wie seltsam es war, ihre Worte für sie zu sprechen, wie verkehrt, dieses ich zu benutzen, das ihr gehörte und nicht mir, dieses Wort, das nicht geräumig genug war.“

Für mich persönlich machte dieses Ich der Erzählerin die Sogwirkung des Romans aus. Ich durfte an ihren persönlichsten Gedanken teilhaben, ihren Mutmaßungen, Ängsten, Interpretationen. Ihrer Suche nach Liebe und Freundschaft, nach Heimat und Zugehörigkeit, nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Alles heruntergebrochen auf Sequenzen und episodenartige Begegnungen. Die Protagonistin nimmt uns mit auf ihre Suche nach Antworten wo es keine klaren Lösungen gibt.

Grandios die Rolle der Dolmetscherin, die eher unscheinbar und beobachtend im Hintergrund agiert und der doch eine so tragende und bedeutungsschwere Rolle zukommt. „Meine Aufgabe besteht darin, den Abstand zwischen den Sprachen so klein wie möglich zu halten.“ Und dazu zählt neben der Sprache selbst auch jede noch so kleine Nuance, das Timbre der Stimme, die Gratwanderung zwischen Ironie und Wahrheit. Und eben dieses Gespür der Protagonistin für ihre Aufgabe wird durch Kitamura im Roman sehr subtil aufgegriffen. Es hat etwas sehr Intimes, wenn nicht gar „Heimlichtuerisches“, die Beobachtungen und „interpretations“ der Ich-Erzählerin zu teilen, die kleinsten Nuancen ihre Abwägungen in Gedanken mitzulesen, die Gratwanderungen des Gehörten, Beobachtenden, Gesagten.

Für mich ist „Intimitäten“ definitiv eins der Jahreshighlights, ein kleines, „stilles“ Buch, das dann sprachlich ganz gewaltig daherkommt.