Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
kaffeeelse
Wohnort: 
D
Über mich: 
psychologiebegeiste und Ethnographie liebende Vielleserin

Bewertungen

Insgesamt 86 Bewertungen
Bewertung vom 16.02.2025
Wild nach einem wilden Traum / Biographie einer Frau Bd.3
Schoch, Julia

Wild nach einem wilden Traum / Biographie einer Frau Bd.3


ausgezeichnet

Kreuzungen

Die Trilogie Biographie einer Frau von Julia Schoch. Mit „Wild nach einem wilden Traum“ gibt es den langersehnten Abschluss dieser Trilogie. Ein absolut gelungenes Ende.

„Das Vorkommnis“ und „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ waren die Vorgänger, in ihnen schaute die Autorin auf die familiären Bedingungen im Leben der Frau und ihren Ursprung, sowie auf ihr Eheleben. Jetzt in diesem Buch hier geht es um das Schreiben und um weitere Menschen/Männer, die Eindruck auf die Frau gemacht haben, die sie berührt haben. Wobei beide erwähnten Männer auch im Bezug zum Schreiben zu sehen sind.

Wieder gelingt Julia Schoch ein Buch, welches mich tief berührt, nicht ausschließlich, weil ich Berührungspunkte finde. Sondern eher, weil mich die Denke der Schoch inspiriert.

Menschen begegnen uns, berühren uns und inspirieren uns. Wer wären wir ohne diese Kontakte? Andere Menschen. Denn gerade diese Begegnungen, die uns einen Input geben, ermöglichen Veränderung. Der Soldat, der der erzählenden Stimme in jungen Jahren begegnet, weist ihr den Weg, bestärkt sie. So sehr, dass sie sich noch viele Jahre danach erinnert. Der Katalane, ein erfahrener Schriftsteller, der eine Ausstrahlung besitzt, die der erzählenden Stimme ein „Das möchte ich auch“ vermittelt. Mit dem sie Momente der Hingabe und des Rausches erlebt. Doch was war hier wichtiger, der Rausch oder die Begegnung? In der Entscheidung der erzählenden Stimme beim Verlassen des Autorencamps liegt die Antwort auf diese Frage. In der Rückbetrachtung des Geschehens schwingt die Frage nach der richtigen Entscheidung dazu mit, die der erzählenden Stimme dann durch die erneute Begegnung vermittelt wird. Absolut interessante Gedanken. Ihre Betrachtungen zum Jetzt, zur Liebe, zur Familie. Ich liebe das. Ich lese das Buch und bin auch bei meinen Wegkreuzungen, sinniere, denke, zerfließe. Und weiß, es war alles richtig so. Denn das Damals ermöglicht das Heute. Und die eine oder andere Träne?!?! Ja, was solls. Das zeigt, dass man lebendig ist, dass man fühlt und lebt. Letztendlich darf man nie vergessen, man ist immer involviert, entscheidet über das eigene Tun, im Moment und im Danach. Und dies lässt einfacher auf die Vergangenheit schauen.

Doch nicht nur die Gedankenwelt der Schoch fasziniert mich. Ich denke auch unsere ähnliche Sozialisation verbindet. Dieses DDR-Ding. Uns trennt nur ein Jahr. Wir sind in der DDR aufgewachsen, sind von ihr geprägt worden, hatten aber das große Glück das Negative noch nicht völlig zu kennen. Dann kam die Wende, das Bekannte verschwand, das Neue tauchte auf und man musste sich einen neuen Platz suchen. Was uns gelungen ist. Die ein, zwei Jahre nach uns Kommenden waren zu jung für die DDR, wuchsen gleich in den Westen hinein und die ein, zwei Jahre Älteren lernten den Ernst des Lebens in der DDR und wurden dadurch geprägt, fanden ihre Nische, ihren Platz, bevor sie den wieder abgeben mussten und ein neues Plätzchen für sich finden durften. Was vollkommen andere Sichten und Stellungen ergeben kann.

Hier finde ich für mich Berührungspunkte bei Julia Schoch und bei ihrem Sinnieren, was sie in ihren Romanen betreibt. Was wäre wenn? Wo wäre ich wenn? Wichtige Gedanken. Gedanken, die helfen können. Wenn man ihre Gewichtung genau überdenkt.

In der Trilogie Biographie einer Frau, in „Das Vorkommnis“, in „Das Liebespaar des Jahrhunderts“ und in „Wild nach einem wilden Traum“ entführt Julia Schoch in die Welt ihrer Denke, in die Welt ihres Fühlens und ich muss gestehen, ich habe diese Reise geliebt!

Bewertung vom 14.02.2025
Love Me Tender
Debré, Constance

Love Me Tender


ausgezeichnet

Krieg

Ein bewegendes Buch. Ein intensives Buch! Ein trauriges Buch!

„Love me tender“ ist ein ungemein berührender Blick auf eine Mutter-Sohn-Beziehung, die vom Vater seit dem Coming-Out der Mutter torpediert wird. Und so etwas passiert heute, in unserer ach so fortschrittlichen Zeit. Tja, das Patriarchat möchte nicht die Macht verlieren, möchte nicht, dass es Neuerungen gibt und die Gesellschaft sich öffnet. Denn das würde ein Verlust für diese kleingeistigen Männer bedeuten. Und so was geht ja nun mal gar nicht.

Constance Debré hat alles, ist renommierte Anwältin, stammt aus einer angesehenen Familie, hat Mann und Kind. Sie schwimmt oben im Patriarchat, hat Geld und Macht. Doch etwas in ihr lässt sie handeln. Sie lässt sich scheiden, möchte nur noch schriftstellerisch arbeiten, denkt an sich, hat viele Affären mit Frauen. Das ist etwas, was viele tun. Vor allem Männer. Nur möchte Constance Debré nicht den Kontakt zum Kind abbrechen. Was viele Männer ja tun und im Patriarchat auch damit durchkommen. Doch eine Frau, die die ultimative Freiheit für sich verlangt, das geht natürlich zu weit. Homosexualität und die Ablehnung des Mammons, der uns alle beherrscht! Also nein. Never. Nada. Njet. Denn Debré hat keine feste Arbeit und dadurch auch keine Wohnung, tingelt einfach durchs Leben von Frau zu Frau und hat nach Versuchen in kleinen Wohnungen nun ein WG-Zimmer. Dies geht nun wirklich nicht.

Der Ehemann klagt und bekommt in unserem Patriarchat Recht. Der Mutter wird das Kind entzogen! Sie bekommt Besuchsrecht und muss sich allerdings auch dieses erstreiten. Denn der Ehemann stellt sich quer, kann nicht verkraften, dass seine Männlichkeit abgelehnt wird von Debré, seine so gepriesene Männlichkeit abgelehnt wird und dagegen Frauen von Debré bevorzugt werden. Unerhört!

Streitereien von Erwachsenen, die auf dem Rücken von Kindern ausgetragen werden. Schrecklich. Ich habe mich schon gefragt, wie Debrés Sohn dies wohl verkraften wird, was dies aus ihm macht.

Und Debrés Ehemann. Den verachte ich abgrundtief! Wie ich auch diejenigen verachte, die so etwas ermöglichen.

Eine schlimme Geschichte aus unserer Welt. Auch wenn immer gepredigt wird, dass es den Frauen woanders so schlecht geht. Nun. Manch einer unter uns geht es im Patriarchat auch nicht gut, wie Debrés Schicksal eindrucksvoll und beklemmend zeigt. Ich finde es sehr gut, dass die ehemalige Anwältin mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit gegangen ist. Denn das sollte gelesen werden, damit wir wissen, was wir wert sind. Also diejenigen unter uns, die das noch nicht mitbekommen haben!

Lesen!

Bewertung vom 14.02.2025
Die Nacht des Blutadlers
Voltenauer, Marc

Die Nacht des Blutadlers


ausgezeichnet

Blick in die Vergangenheit

Der dritte Fall für den Kommissar Andreas Auer. Er reist in seine ursprüngliche Heimat, vom schweizerischen Gryon nach Gotland und stößt dort auf einen Ritualmord an einer sechsköpfigen Familie in den Siebzigern, nach einem alten Wikingerritual zelebriert. Nach Gotland bringt ihn die Enthüllung eines Familiengeheimnisses, welches seine bisher gekannte Welt einstürzen lässt. Er möchte nachforschen und stößt dabei auf den grausamen Ritualmord. Es folgen weitere Morde im Jetzt und die Mörderhatz beginnt.

„Die Nacht des Blutadlers“ ist ein toller und komplexer Krimi, der absolut spannend daherkommt. Ich flog förmlich durch die Zeilen. 480 Seiten ist ja auch eine Ansage. Der Ritualmord ist geschickt in Szene gesetzt, es folgen daraus resultierende interessante Aspekte, die den Blick auf die alten Germanen richten.

Dazu kommt das wunderschöne Gotland, eine Insel, die mir bisher wenig begegnete und von daher das Buch durch die Informationen zu Gotland noch einmal immens aufwertet.

Mit dem Kommissar Andreas Auer ist Marc Voltenauer auch ein interessanter Charakter gelungen, der mir bisher noch nicht begegnete, der mir aber diesen Krimi hier ungemein versüßte, soweit man vom Versüßen reden kann bei grausamen Ritualmorden.

Eine Empfehlung geht raus an die Krimifans unter uns. Hab dieses Buch hier wirklich geliebt! Lesen!

Bewertung vom 14.02.2025
Nightbitch
Yoder, Rachel

Nightbitch


sehr gut

Verwandlung

Rachel Yoder betrachtet in „Nightbitch“ Mutterschaft und Weiblichkeit einmal völlig anders, das Buch ist absolut skurril und im letzten Drittel kommt dann noch eine recht kritische Denke zum Vorschein, die das Buch sehr aufwertet. Denn mit dieser skurrilen Geschichte kam ich nicht so gut klar, als aber dann dieser kritische Blick auf das weibliche Tun dazu stieß, war ich wieder mit dem Buch ausgesöhnt und der vierte Stern tauchte wieder im Spiel auf.

Eine Künstlerin wird Mutter, versucht erst Job und Mutterschaft zu vereinen, scheitert aber darüber. Daraus resultiert, der Ehemann geht natürlich weiter arbeiten, während die ehemalige Künstlerin nun in der Mutterrolle verschwindet. Wie oft es das wohl gibt. … ?!?!

In diese Gemengelage lässt Rachel Yoder nun eine recht kafkaesk wirkende Thematik einfließen, die Figur Nightbitch entstand und nahm in dem Roman viel Platz ein. Ich kam mit dieser Nightbitch nicht so recht klar. Was wird das hier nur, waren meine Gedanken, einerseits fand ich das Geschilderte interessant, andererseits war ich auch irgendwie angewidert und abgestoßen.

Wo frau sich natürlich fragen kann, warum sie so empfindet. Denn was hat dieses Empfinden wohl mit gewissen Rollenmustern zu tun, die in uns wohnen, die in uns fest verankert wurden?!?!

Als dann die Kritik an der weiblichen Rolle bei der Kindererziehung immer lauter im Buch wurde, war ich wieder ganz bei Rachel Yoder und dieses anfänglich Angewiderte verschwand, denn der Sinn, der Grund hinter dieser Art der Gestaltung tauchte auf und damit wurde das Geschilderte wieder für mich greifbarer.

Was macht es wohl mit einer Frau, wenn sie das verliert, wofür sie brennt. Könnte man da nicht zur Nightbitch werden?!?!

Ein wirklich interessanter Blick auf weibliches Tun. Dennoch sollte man auch offen für kafkaeske Geschichten sein, denn sonst steht man vielleicht vor einer Geschichte für die man einfach (noch) nicht bereit ist.

Bewertung vom 14.02.2025
So gehn wir denn hinab
Ward, Jesmyn

So gehn wir denn hinab


ausgezeichnet

Annis`s Weg

Jesmyn Ward ist mir schon mit ihrem Vorgänger „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ sehr positiv aufgefallen. Von daher freute ich mich auf diesen Roman hier natürlich sehr. Und das Freuen war begründet. Denn „So gehn wir denn hinab“ hat mir sehr gefallen.

Wieder ist dieses Magische da. Und wieder entsteht dieser Zauber. Nur fühle ich mich diesmal direkt angesprochen und bin Feuer und Flamme für die Geschichte.

Um was geht es also. Annis, eine junge Frau, eine Sklavin in den Südstaaten ist die Protagonistin dieses Buchs. Ihr Leben steht zentral. Anfänglich spielt sich ihr Leben auf den Reisplantagen South Carolinas ab, dann gelangt sie nach New Orleans auf eine Zuckerrohrplantage. Und das Grauen geht weiter. Doch auch in die Familie von Annis lässt die Autorin schauen. In South Carolina ist Annis noch mit ihrer Mutter zusammen, wird von ihr erzogen, erhält Einblicke in das Leben davor, denn ihre Großmutter Aza war eine afrikanische Kriegerin, bevor sie die Fallstricke des Lebens aus ihrem Leben reißen. Und diese Kriegertradition wird weitergegeben, von Aza an ihre Tochter und diese wiederrum gibt ihr Wissen an Annis weiter. Bis sie auseinandergerissen werden. Vom Plantagenbesitzer in South Carolina, der auch Annis Vater ist, wird die Mutter verkauft und damit die Mutter-Tochter-Bande getrennt, bevor auch Annis einige Zeit später dieses Schicksal ereilt. Sie hat es gewagt zu leben, zu lieben, trotz ihres schrecklichen Ists. Darauf reagiert der Plantagenbesitzer und die Reise nach New Orleans geht los. Eine zusammengekettete Sklavenkarawane wird brutal durch die nordamerikanische Wildnis von South Carolina nach New Orleans getrieben. Doch in Annis wohnt ein kriegerischer Geist, unterstützt wird diese Stärke noch durch die Geisterwelt der afrikanischen Sklaven, wobei in dieser Geisterwelt auch noch Einflüsse des indigenen Amerika zu finden sind.

Eine wirklich wunderschöne und spannende Geschichte um die Kraft, die in uns wohnt, in uns wohnen kann. Trotz schrecklicher Situationen. Man muss diese Kraft nur in sich finden, wobei dieses nur recht einfach klingt. Denn einfach ist das Entdecken dieser mentalen Stärke natürlich nicht. Annis findet sie und gibt damit der Leserschaft ein positives, wie auch elektrisierendes Beispiel.

Gepaart mit dieser gehörigen Portion Magischer Realismus ist dieses Buch eine wahre Augenweide für mich gewesen. Denn dieses Magische, dieses Mystische war und ist für mich ein fester Bestandteil in meinem Leben, schon seit einer langen Zeit interessiert mich die Ethnographie, interessiert mich das Ursprüngliche. Dass es in den alten Kulturen gab und teilweise noch gibt, siehe diese alten Götter in den neuen Religionen des amerikanischen Kontinents, die auf den Glauben der einstigen Sklaven beruhen. Siehe diese heidnischen Kulte, die es auch bei uns in Europa noch gibt, ich sage nur Pagan und Wicca. Dieses Alte und Ursprüngliche war nie weg, es hat sich nur zurückgezogen vor der Allmacht der großen Kirchen, der großen Glauben. Bei jedem zurückgezogen lebenden Volk findet man diese uralten Götter und Geister und auch bei uns finden sich Feste, die auf die alten Götter zurückgehen. Ich sage nur Ostern, das Hexenbrennen und Halloween.

Dieses Buch hier, Annis Reise und Annis Weg ist spannend und eindringlich, beschäftigt sich mit dem Alten, dem Verdrängten und bietet in der Geschichte eine Ablenkung vom Jetzt wie auch eine Kraftquelle durch Annis Stärke. Der geschichtliche Aspekt kommt dann auch noch hinzu und der wichtige Blick auf die Schrecken der Sklaverei. Gegen das Vergessen möchte man schreien, besonders jetzt, wo man sieht was die Reaktionären gerade in den USA betreiben. So dass ich schlussendlich wirklich nur rufen kann: Bitte unbedingt Lesen!

Bewertung vom 26.01.2025
Ungleich vereint
Mau, Steffen

Ungleich vereint


ausgezeichnet

Die BRD und die DDR

Ungleich vereint. Ja. Klarer Fall. Dies ist genau das Empfinden, das man als ehemalige DDR-Bürgerin hat. Wir DDR-Bürger sind die ewigen Nörgler, die chronisch Unzufriedenen und eigentlich sollte man am besten die Mauer wieder aufbauen. Das klingt schlimm. Leider oft genug gehört und gelesen. Da wird sofort die AfD-Keule geschwungen und man wird kollektiv in eine Schublade gesteckt. Das nervt mich ungemein. Denn der ehemalige DDR-Bürger ist nicht einheitlich. Jede politische Richtung ist vertreten, jedwede Eigenschaft ist da, jeder denkbare Charakter. Doch die Meisten von uns empfinden die deutsche Einheit nicht als Vereinigung, sondern eher als Übernahme, als eine Art feindliche Übernahme. Klingt schlimm. Ich weiß. Es ist aber auch nicht schön immer noch ein Bürger zweiter Klasse zu sein. Schließlich sind sehr viele Jahre vergangen. Und dieses Denken über die ehemaligen DDR-Bürger ist meiner Meinung nach auch ein Grund für das Erstarken der AfD in unseren fünf neuen Bundesländern, eigentlich 5,5, denn Ost-Berlin kommt ja auch noch dazu.

Steffen Mau, ein 1968 geborener Soziologe und Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt-Uni von Berlin. Gleichzeitig sitzt er im Sachverständigenrat für Integration und Migration. Er kennt sich also aus.

Integration. Ja, genau dies hatte mit uns zu passieren. Und jetzt ist man erstaunt darüber, dass genau das eben nicht passiert. Logischerweise sind natürlich nur wir selbst da schuld. Klar, wenn man anders darüber urteilen sollte, müsste man ja ans Eingemachte. Ist unbequem, weil anstrengend und deswegen immer schön mit dem Finger auf Andere zeigen.

Nun, Steffen Mau macht genau dies nicht. Er recherchiert genau, warum der Osten ist, was er ist. Dieses Buch macht Spaß, es ist irre interessant und es zeigt recht differenziert das Warum!

Mein Fazit: Ein sehr gutes Buch, welches jeder in Deutschland lesen sollte, jeder im Osten und jeder im Westen. Denn es wird wirklich langsam Zeit, dass dieses Ost- und Westding langsam verschwindet. Das schließt allerdings ein, dass Ost- und Westdeutsche endlich gleichberechtigt sind. 1990 war die Wiedervereinigung, jetzt haben wir 2025, 35 Jahre sind vergangen, es wird langsam Zeit denke ich.

Und noch was, die AfD ist ein gesamtdeutsches Problem. Bei uns rennen denen nur etwas mehr hinterher. Doch die Polemik hat eindeutig ein leichteres Spiel bei Menschen, die sich als Menschen zweiter Klasse empfinden. Wenn dies nicht so wäre. …

Bewertung vom 26.01.2025
Das verschwundene Meer
Franz, Carlos

Das verschwundene Meer


ausgezeichnet

Chile - das Gestern und das Jetzt

Zwanzig Jahre nachdem die Richterin Laura Larco aus ihrem Heimatland Chile geflohen war, kehrt sie nun nach Chile zurück. Sie reist in das kleine und abgelegene Pampa Hundida in der Atacama-Wüste. Claudia, Lauras Tochter, hat sie mehr oder weniger genötigt sich der Vergangenheit zu stellen, der Tochter endlich zu erzählen, was damals passierte. Damals, vor 20 Jahren, als Allende dem Putsch zum Opfer fiel und schlussendlich das ganze Land ein Trauma erlebte. Das Gestern und das Jetzt also. Ebenso in Pampa Hundida befindet sich Mario, Lauras Ex-Mann und Claudias Vater. Er ist damals vor zwanzig Jahren nicht mit der schwangeren Laura mitgekommen, er ist in Chile geblieben, in seiner Heimat. Nur Laura konnte dies nicht. Sie musste weg und sie hatte ihre Gründe dafür. Gründe, die nur sie kennt, weder der Ex-Mann Mario noch die Tochter Claudia wissen von ihnen. Doch Claudia ist neugierig, sie möchte endlich alles wissen, und sie lässt ihre Mutter wissen, dass sie nicht nachgeben wird, ehe sie nicht die ganze Geschichte kennt. Nachdem die Tochter Claudia aus dem von Laura gewähltem Exil Berlin verschwunden ist, hatte Laura ihre Geschichte aufgeschrieben, diese Blätter wollte sie Claudia eigentlich bei ihrem Zusammentreffen in Chile überreichen. Aber sie konnte dies dann doch nicht tun. Ebenso nach Pampa Hundida aufgebrochen ist auch Major Cáceres. Damals der Kommandant eines Lagers von politischen Gefangenen neben der Stadt und auch der Kommandant der Stadt. Nur Laura stellte sich damals gegen ihn. Sonst hat dies in Pampa Hundida niemand getan. In der Stadt Pampa Hundida findet gerade der heidnische Karneval statt als Cáceres und Laura in der Stadt eintreffen, die Stadt ist voller Fremder, voller Feiernder, als sich die einstigen Kontrahenten wieder gegenüberstehen. Der damals zwischen Laura und Cáceres getroffene Pakt, der damals passierte Betrug ließ Laura aus Chile verschwinden. Aber Laura findet auch jetzt noch mehr heraus, noch mehr Schockierendes, noch mehr egoistisches menschliches Tun. Doch auch in Laura schlummert noch mehr.

Der 1958 geborene Autor Carlos Franz schaut in seinem Roman „Das verschwundene Meer“ auf das Geschehen in Chile, auf das Damals und auf das Jetzt. Ein wunderbares Buch! Sehr spannend und absolut intensiv!

Bewertung vom 26.01.2025
Ein Einzelfall
Maguire, Emily

Ein Einzelfall


ausgezeichnet

Ein Mord – ein Einzelfall?!?!

Die 25-jährige Bella Michaels wird in der australischen Kleinstadt Strathdee brutal ermordet. Ein Schock für die Stadt. Ein Schock für ihre Schwester Chris. Die Polizei ermittelt und ebenso interessiert sich die Polizei auch für Chris. Ihr Lebenswandel wird kritisch beäugt. Und nicht nur die Polizei interessiert sich für Chris. Auch die Medien beginnen diesen Mord auszuschlachten und ihren Fokus auf die Schwester zu richten.

Wem kommt dies bekannt vor? Ja, das ist zwar ein Buch. Aber eigentlich ist dies eine interessante und sehr treffende Gesellschaftskritik.

Und ja, obwohl es ein Mord ist, wird dieser Mord auch irgendwie bagatellisiert. Ein Mord an einer jungen Frau. Ja, hätte sie mal nicht!?!? Schuldzuweisungen an das Opfer aus männlicher Perspektive. Was soll das? Ein bedauerlicher Einzelfall, ein bedauerlicher Mord. Ja, ja. Bla, bla.

Denn so ist es nicht. Morde an Frauen sind keine Einzelfälle. Gewalt an Frauen nimmt wieder zu. Doch warum ist das so? Ich sage nur dieses wunderbare Patriarchat. Aus der Rippe vom Adam wurde die Eva erschaffen. Ach ne. Also ist die Eva ein Anhängsel des geheiligten Adams. Und genau so wird sie in unseren patriarchal geprägten Gesellschaften auch behandelt. Frauen sind mitnichten gleichberechtigt. Und wenn eine Frau ermordet wird, hat sie wohl Fehler begangen. Sie hat sich mit dem Falschen eingelassen. Sie hat die falsche Kleidung angehabt. Sie hätte nicht allein unterwegs sein dürfen. In einer Burka und mit männlicher Begleitung wäre das also nicht passiert. Afghanistan lässt grüßen.

Mit den ganzen Medienvertretern kommt auch May nach Strathdee, eine Reporterin einer Boulevard-Website. Sie wittert in dem Mord an Bella ihre Möglichkeit zur angesehenen Kriminalreporterin. Doch von so einer Bezeichnung ist so noch weit weg. Doch sie zeigt Standhaftigkeit. Denn als des Medieninteresse erlischt, keine Einschaltquoten = kein Medieninteresse, ganz egal ob der Fall gelöst ist oder nicht, die Medienvertreter sich also aus Strathdee zurückziehen, bleibt May da, obwohl ihr Chef dagegen ist. May bekommt auch ihren sehnlichst gewünschten Kontakt zu Chris, der bisher leider nicht stattfand, diese Nähe zur Tat lässt dann Veränderungen in May passieren.

Und dieser Einzelfall wird dann doch noch zu etwas Anderem. In der erzählten Geschichte, aber auch in der Art des Erzählten.

Ein tolles Buch! Lesen! Ein Krimi, aber auch viel viel mehr!

Bewertung vom 26.01.2025
Zitronen
Fritsch, Valerie

Zitronen


ausgezeichnet

Zitronen und Limonade

Eine dysfunktionale Familie in einem kleinen und beschaulichen Dorf in Österreich. Darum dreht sich das Buch „Zitronen“ von Valerie Fritsch.

August Drach ist der Sohn in dieser Familie, ein körperlich, wie auch verbal gewalttätiger Vater, August Drach sen., und eine inaktive und ebenso angsterfüllte Mutter, Lilly Drach, sind die weiteren Bestandteile dieser Familie. Nach den Gewaltexzessen holt sich der Sohn bei der Mutter die existenzielle Liebe, sie heilt ihn vom entsetzlichen Geschehen, dennoch fehlt in dieser Liebe auch etwas. Denn als liebender Mensch, als liebende Mutter beschützt man das eigene Kind vor der Gewalt. Wenn man dies nicht macht, gibt es Gründe dafür. Bis der Vater verschwindet. Dann verändert sich die Gemengelage. Jetzt entdeckt die Mutter eine erneute Angst, die Angst vorm erneuten Verlassenwerden, und so verfällt sie in eine ebenso vorhandene Gewalttätigkeit. Allerdings keine offensichtliche. Sie mischt dem Sohn Medikamente ins Essen, um ihn an sich zu binden, um sich ewig kümmern zu können, um ihn danach wieder heilen zu können und um dadurch auch dem drohenden Alleinsein zu entfliehen. Der Sohn braucht sehr lange, um sich aus dieser furchtbaren Spirale zu befreien. Doch kann man sich jemals aus so einem düsteren Traum befreien? Das Kind wurde traumatisiert und hat Störungen in seiner Bindungsfähigkeit erlitten. Kann man so etwas durchbrechen? Ja. Kann man. Aber es ist sehr sehr schwer. Man kann aber auch für immer traumatisiert durchs Leben stolpern.

Man könnte sich fragen, wie so etwas in einem Dorf passieren kann, in einer anzahlmäßig kleinen Zahl an Menschen, die eigentlich mehr Einblick in das Leben der Anderen haben. Doch was sieht dein Gegenüber von dir? Das, was du bereit bist zu zeigen und noch etwas mehr. Doch wie schnell stülpt man dem Gegenüber über, eigenartig zu sein, ohne weiter hinzuschauen, ohne weiter zu suchen. Man ist ja mit dem eigenen Tun völlig beschäftigt, hat vielleicht noch ein gewisses Umfeld, wo man mehr hinsieht. Aber mehr tun glaub ich die Wenigsten. Außer natürlich mit Gegenübern über die Anderen herziehen, über sie herfallen, dann hat man zu tun und muss nicht den eigenen Vorgarten bearbeiten.

Was für ein Drama. Die Lektüre ist schon etwas her, doch beim Schreiben dieser Zeilen überfällt mich wieder ein Schaudern, denn „Zitronen“ ist sehr intensiv.

Was dieses Buch in meinen Augen zu einem 5-Sterne-Roman macht, ist nicht die Thematik. Diese ist wirklich grauenvoll.

Valerie Fritsch verfasst dieses Grauen in so einer sprachgewaltigen Art, dass das Lesen dieses Grauens dennoch wunderschön ist, was ich der Autorin sehr hoch anrechne. Eigentlich verschließe ich mich innerlich, wenn es zu viel wird. Hier aber kann man immer wieder über das Gelesene sinnieren, die Sätze/Worte bewundern, staunen, begeistert sein. Dabei ist das Geschriebene aber nicht immer die wunderschöne Prosa. Denn Valerie Fritsch möchte durch die sprachliche Wahl auch den Zustand des traumatisierten Sohnes, den Zustand der dysfunktionalen Familie, den Stand der Beziehungen in dem engen dörflichen Geflecht darstellen und auch das schafft sie sprachlich sehr gut.

Ein sprachlich rundum gelungenes Buch! Ein interessantes Buch! Und wieder ein Buch, wo ich nur begeistert rufen kann, unbedingt lesen! Aber auch dieses Buch hat die Kraft zum Triggern, deswegen bitte auch Vorsicht!

Bewertung vom 26.01.2025
PUNKED
Sibai, Yasmin

PUNKED


ausgezeichnet

Die einst hehren Ziele und die Realität

Der Punk und dieses Lebensgefühl. In meinen Zwanzigern begeisterte mich die Gothic-Szene und für mich und meinen Musikgeschmack im Dunkelmunkel-Bereich ist der Punk nicht sehr weit weg. Ob ich den Punk völlig verinnerlicht habe, bezweifele ich etwas, denn in mir ist auch eine große Sammelleidenschaft zu finden. Genauso wie das Thema Konsum eine große Bedeutung besaß, teilweise immer noch ab und zu zu spüren ist. Aber hier bin ich beim Arbeiten. Denn glücklich wird man vom Anhäufen leider nicht. Eigentlich schafft man sich und der Umwelt nur mehr Probleme.

Mit dem Punk haben wir schon mal einen Grund, weswegen es mich magisch zu diesem Buch zog. Dann wären da noch die Handlungsorte, Hannover, Berlin und Amsterdam. Alles interessante Städte, die in den 80ern/90ern sicher viel Interessantes zu bieten hatten, auch immer noch höchst amüsante Großstädte sind, also Amsterdam und Berlin, bei Hannover bin ich mir da nicht so sicher.

Also thematisch und örtlich reizte mich das Buch schon sehr.

Was das Buch „PUNKED“ aber schließlich bietet ist für mich sehr überraschend. Denn es gibt nicht so die Verherrlichung von etwas Altem und Vergangenen, die ich mir vielleicht erhofft hatte. Nein, Yasmin Sibai lässt in ihrem Buch „PUNKED“ dieses Hehre verglühen, lässt den Punk am menschlichen Tun zerschellen. Dieses Buch beschäftigt sich mit dem Grauenvollesten, wozu manch menschliche Geister in der Lage sind und dieses Grauen streckt seine Fühler in die Punk-Clique von Bey. Früher war sie die Bassistin einer Avantgarde-Punkband, heute bewohnt sie ein Haus in einem der besseren Wohnviertel von Amsterdam. Das Gestern und Das Heute. Ein Brief erreicht sie in Amsterdam und mit diesem Brief klopft die Vergangenheit an, ihr Ex-Freund Iggy ist gestorben. So fährt sie zur Beerdigung nach Berlin und stößt auf Unstimmigkeiten, die sie an das Gestern denken lassen und auch sehr misstrauisch werden lassen.

„PUNKED“ ist ein absolut fesselndes Buch, welches mich einerseits an mein Gestern denken ließ, andererseits aber auch ein absolut spannender Lesegenuss ist, der äußerst intelligent und wendungsreich auf ein existierendes Grauen blickt. Unbedingt lesen, ich habs absolut geliebt!