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Frankfurt

Bewertungen

Insgesamt 726 Bewertungen
Bewertung vom 29.09.2021
Das Museum der Pilze
Gaya, Ester;Scott, Katie

Das Museum der Pilze


ausgezeichnet

(Fast) unbemerkte Vielfalt

Es ist bereits das achte Buch der Reihe „Eintritt frei: Das Museum …“ und wir lieben auch dieses!!! Diese Buchreihe ist großartig, ich kann es anders nicht sagen. Diesmal erkunden wir die Pilze! Was könnte passender sein im Herbst als sich diesem Gewächs der Wälder zu widmen und zu erforschen.
„Das Museum der Pilze“ ist ein großformatiges Bilderbuch, aber lasst euch davon nicht abschrecken. Kein Bilderbuch im Sinne des Kleinstkind-Format sondern ein Buch für 6-99 Jahre. Denn es ist in der Tat ein Museum zwischen zwei Buchdeckeln.
Es gibt viel zu schauen, da das Buch mit viel Liebe zum Detail illustriert wurde von Katie Scott.
Die Texte stammen alle von renommierten Fachleuten, auch wenn auf dem Cover „nur“ Dr. Ester Gaya, die dieses Buch federführend kuratiert hat.
Aber nun mal zum Inhalt! Was erwartet den Museumsbesucher im Geiste. Es werden Fragen geklärt was ein Pilz überhaupt ist, seine Evolution und wie pflanzt sich so ein Pilz eigentlich fort? Natürlich auch reichlich gattungsspezifische Informationen zu Hutpilzen, Becherpilzen Bauchpilze und viele mehr. Auch werden (wieder) die Lebensräume beleuchtet und die Beziehungen von Pilzen zu seinen spezifischen Umwelten. Klar, natürlich wird auch nicht ausgelassen was es mit den giftigen Pilzen auf sich hat!
Sehr spannend! Eine tolle Erweiterung unserer Familienbibliothek!

Bewertung vom 16.09.2021
Treue Seelen
Raether, Till

Treue Seelen


ausgezeichnet

Das Inselleben West-Berlins

Wir schreiben das Jahr 1986. Die Republik ist weiterhin geteilt. In diesem Frühjahr machen sich Achim und seine Frau Barbara auf nach Berlin. Sie nehmen alle Vorteile mit, die man damals bekam, wenn man nach West-Berlin zog: Beamtenstatus beim Bundesamt für Materialprüfung, Zulagen von 8% (!) und sie erhoffen sich ein wenig mehr Glamour als in Bonn/Bad Godesberg. Tja, aber dann sollte man vielleicht nicht nach Zehlendorf ziehen und bequem bleiben, sondern eher nach Kreuzberg….nur eines der differenziellen Aspekte des Romans!
Aber keine Sorge, es wird anderweitig spannend, denn da gibt es die aus Ostberlin stammende Marion in der Nachbarschaft, die Achim, dem Protagonisten, den Kopf verdreht und damit auch vieles unerwartete ins Rollen bringt, Achim landet sogar in Hohenschönhausen und über allem hängt die dicke Tschernobylwolke – je nach Osten und Westen anders interpretiert.
Till Raether hat mit ‚Treue Seelen‘ aus meiner Sicht einen sehr gelungenen Roman über das Leben auf der Insel West-Berlin geschrieben und auch den Osten aus der Westbrille beleuchtet (soweit ich das beurteilen kann, bin auch eine West-Berliner Kind). Wie ein Krimiplot im Berlin der 80er Jahre geht er hier mit seinem Protagonisten durch die Straßen.
Eingängig, gut und unterhaltsam geschrieben. Es ist für mich auch ein Roman der Perspektiven, sei es die Innenansicht aus Ostberlin oder Westberlin. Auch Marions Perspektive, die als Teenager aus dem Osten kam und dann wurde just die Mauer gebaut, ist eine andere Perspektive als die des Wessis Achim aus Bonn.
Wiedermal ein deutsch/deutscher Roman, aber er ergänzt vorhandene Lektüren gut und natürlich erfreut es einen das selbst erlebte noch einmal Revue passieren zu sehen, auch wenn es damals aus Kinderaugen war. Ich bin gespannt wie meine Eltern den Roman lesen/erleben werden!
Taugt für die „breite Masse“ und ist zugleich aber doch sehr speziell. Gelungen!

Bewertung vom 13.09.2021
Der Libanese / Frank Bosman Bd.1
Murath, Clemens

Der Libanese / Frank Bosman Bd.1


weniger gut

Wenn man weiß, dass Clemens Murath eigentlich Drehbuchautor ist und sonst sehr seichte 20 Uhr-Krimis schreibt für den Massenmarkt, dann wundert man sich ein wenig über diese 180 Gradwendung zum Hardboiled Thriller, aber könnte sich auch freuen. So weit so gut.
In ‚ Der Libanese‘ dem Debüt in Romanform von Clemens Murath geht es zu wie in einem anachronistischen 80er Jahre Ballerfilm. Da ist der harte Polizist, viel Gewalt, Sex, Drogen und die Welt ist einfach schlecht und dreckig in allerlei Hinsichten. Seufzt. Mich haben diese Klischees mächtig genervt und auch wenn man mal ein Retrobuch dieser Kategorie lesen möchte, dann doch bitte echte 80er Jahre und nicht ein überfälliges Szenario in der Gegenwart - was mächtig out of date ist! Sprich, dann gleich James Ellroy oder Elmore Leonard. Das spricht übrigens auch für die Sprache, recht abgedroschen und wenig innovativ. Nur ab und an kommt gelungener makabrer Humor zu Tage, das hat dann doch an der ein und anderen Stelle Spaß gemacht!
Das Ganze spielt in Berlin und der LKA-Kommissar Frank Bosmann will die Clanbrüder Arslan und Tarik Aziz einbuchten, denn die haben alles in der Hauptstadt in der Hand mit dem sich gut Kohle machen lässt: wieder mal Drogen, Gambling und Prostituierte. Aber auch er kommt in Bedrängnis.
Ich hatte insgesamt mehr Raffinesse erhofft und war daher recht enttäuscht vom Buch. Es kann gut sein, dass Murath mit diesem doch sehr eindeutigen LKA-Ermittler mit seiner Art eine Fangemeinde aufbaut, ich gehöre (leider) nicht dazu.

Bewertung vom 10.09.2021
Der Verdacht
Audrain, Ashley

Der Verdacht


sehr gut

Unbequeme Ansichten auf ein Mutterdasein

Wenn euch die beiden Bücher: ‚We need to talk about Kevin‘ (Wir müssen über Kevin sprechen) von Lionel Shriver und Leila Slimanis ‚Dann schlaf auch du‘ begeistern konnte, dann lasst euch auch auf ‚Der Verdacht‘ von Ashley Audrain ein! Für mich fallen alle 3 Bücher in eine Kategorie von Büchern, die das Glück Kinder zu haben in ein anderes Licht rückt, wenn es manches Mal weh tun kann und bitter ehrliche Gedanken zutage fördert!
Zunächst eine kleine Familie – Mutter, Vater & Wunschkind. Das ist die Ausgangsbasis. Aber Mutter Blythe ist nach der Geburt ihrer Tochter Violet nicht überflutet mit positiven Glücksgefühlen, nein, sie spürt regelrecht eine Abneigung gegen das Kind. Der Vater Fox wacht mit Argusaugen über den Beiden und ihr Leben nimmt seinen Lauf. Es passiert Jahre später etwas und die Tragödie ist da und es gibt noch viel mehr zu erzählen und das tut Blythe. Sie erzählt Fox retroperspektivisch was passiert ist und arbeitet dabei das ‚Warum‘ auch für sich auf.
Das Buch behandelt diese Tochter-Mutter-Beziehung auf eine brutal ehrliche Weise und leuchtet schamlos aus was Blythe empfindet und wie es im Kontext ihrer Mutter-Tochter-Beziehung steht und den davor liegenden. Wie man unbewusst Dinge von Generation zu Generation voranschleppt und den Nachkommen in die Gefühlswelt kippt.
Großartig geschrieben von Ashley Audrain, die es gut versteht sich in diese Situation hineinzudenken. Ich stelle mir das sehr schwer vor und musste beim Lesen auch ab und an Schlucken. Der Stil ist fast unterkühlt, hart, im Stakkato gehen wir durch die Geschichte, aber es passt.
Erstaunt hat mich als ich nach der Lektüre erfahren habe, dass dies ihr Erstlingswerk ist und freue mich, dass wieder einmal eine neue tolle Autorin das internationale literarische Parkett betreten hat!
Dieses Buch wühlt auf und lässt einen auch Tage später noch sinnieren über so viele Beziehungen, die von außen perfekt wirken, vor allem wenn es um die Eltern und deren selbstverständliche Liebe zu ihren Kindern geht. Aber sollten wir als Gesellschaft nicht auch Ehrlichkeit schätzen und zulassen, dass es auch andere Empfindungen gibt?
Absolut lesenswert – wirkt horizonterweiternd und unterstützt mehr Verständnis zu Gewinnen für das „Warum“ der Anderen.

Bewertung vom 09.09.2021
Ein Zwergmammut verschenkt man nicht / Nur mal schnell Bd.4
Krüger, Knut

Ein Zwergmammut verschenkt man nicht / Nur mal schnell Bd.4


ausgezeichnet

Kalimera Norbert!

Das wäre doch was! Ein Zwergmammut als Haustier! Abgefahren und genau so ist es und zwar bei Henry. Bei ihm lebt das niedliche Tier namens Norbert und fühlt sich da seit Band 1 ‚Nur mal schnell das Mammut retten‘ (den wir nicht kennen) pudelwohl! Machte gar nix, dass wir erst zu der jüngeren Fangemeinde gehören und die Vorgeschichte noch nicht kannten, denn auf den ersten Seiten wird für eingefleischte Fans wiederholt und für Frischlinge ein wenig Einblick gegeben was im ersten Band geschah.
In ‚Ein Zwegmammut verschenkt man nicht‘ fliegt Henry mit seiner Granny (Oma) und Norbert nach Kreta und erkundet die Heimat der Zwergmammuts. Dort will der König dieses seltene Exemplar am liebsten für sich behalten und Harry kommt ganz schön ins Schwitzen, dass zu verhindern. Was der Situation nicht sonderlich hilft, aber das Chaos komplett macht: Norbert verschwindet und Henry wird sehr traurig. Findet selbst heraus, ob Henry es mit Hilfe seiner neuen Bekannten Aliki schafft Norbert wieder zu finden und ob das Zwermammut am Schluss in Griechenland bleibt oder wieder mit Henry nach Hause fliegt!
Knut Krüger hat ein wirklich niedliches Kinderbuch vorgelegt. Er hat wunderbar das Geschehene beschrieben und die Gefühle, die Sorgen und Ängste nachvollziehbar transportiert. Wirklich eine rundum gelungene Geschichte!
Das bringt mit dazu die Altersempfehlung von 8 Jahren des Verlags nur als Anhaltspunkt zu betrachten. Denn, dieses Buch kann wunderbar zum Vorlesen als Familienlektüre genutzt werden, wenn verschiedene Altersspannen beieinander sitzen und einer Geschichte lauschen wollen. Hier nehmen schon die 4-5jährigen was mit und die „Großen“ mit 8 Jahren sehen ganz andere Aspekte und können sich mit Henry und Aliki identifizieren. Zum Selbstlesen in der Grundschule sollten die Lesekenntnisse schon fortgeschritten sein, denn es ist recht viel Text und minimal bebildert – eigentlich gar nicht – zu Beginn des Kapitels.

Bewertung vom 05.09.2021
Barbara stirbt nicht
Bronsky, Alina

Barbara stirbt nicht


ausgezeichnet

Ist Empathie erlernbar?

Ich MUSS einfach alles lesen was die gute Frau Bronsky zu Papier bringt, denn sie schreibt einfach super gut. Auch ist sie eine überzeugende tolle Frau auf der Lesebühne, dürfte ich sie mit ihrem letzten Roman „Der Zopf meiner Großmutter“ im Literaturhaus Frankfurt erleben.
Nun wieder ein neuer schmaler Band aus ihrer Hand: ‚Barbara stirbt nicht‘! Walter Schmidt ist ein alter Mann alter Schule. Er kann im Haushalt rein gar nichts! Weiß weder wie man kocht, noch Wäsche wäscht noch sonst irgendwas was ihn am Leben erhalten könnte. Brauch er ja auch nicht, denn er hat ja sein Rundum-Sorglos-Paket: seine Ehefrau Barbara! Aber die stürzt im Bad und Walter muss sich kümmern – oh schreck! Herrlich wie er sich durchwurtschtelt, dazulernt und eine neue Seite an sich und seiner Familie entdeckt.
Alina Bronsky entwirft ein Portrait einer ausgestorbenen Gattung: die sich unfähiger und wenig mitfühlender Ehemann schimpfte. Aber ich glaube auch, dass es noch vereinzelte Exemplare in den höchsten Altersrängen gibt! Obacht, erkennt hier jemand seinen Vater oder Großvater? Keine Sorge es ist respektvoll, aber mit einer ordentlichen Portion Sarkasmus und Seitenhiebe.
Was die Geschichte so lesenswert macht ist Alina Bronskys bissiger Schreibstil, der so klasse pointiert ist. Das ist aus meiner Sicht ein klares Alleinstellungsmerkmal ihrer Romane! Sie greift Themen auf, präsentiert sie uns mit dem Schalk im Nacken, aber trotz aller Lacher ist meinst doch eine bittere Wahrheit erkannt. Man merkt, sie liebt das Schreiben und die Menschen und kombiniert es gekonnt.
Was soll ich sage – lieber das tolle Buch lesen als zu viele Rezensionen! ;0)

Bewertung vom 05.09.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


ausgezeichnet

Der Kornkreis als Rettung zweier Männer

Unterschiedlicher könnten sie nicht sein diese beiden Männer, die hier in ‚Der perfekte Kreis‘ im Mittelpunkt stehen. Der eine Redbone, lebt polyamorös und ist gerne mal zugedröhnt und der andere, Calvert, ein Kriegsveteran, ist ruhig und in sich gekehrt, weil er den Krieg noch nicht verarbeitet hat.
Redbone und Calvert, diese beiden sehr unterschiedlichen Charaktere kommen sich über ihr Projekt des perfekten Kornkreises näher und verbindet eine tiefe Freundschaft mit Auseinandersetzungen und Zugeständnissen und vor allem durch gegenseitige Akzeptanz so wie sie sind. Aus meiner Sicht der Kern des Romans: Die Schilderung einer puren Freundschaft.
Südengland, 1989. Diese beiden kreieren zusammen diese phänomenalen Kornkreise, also Redbone erdenkt die künstlerischen Formen und Calvert sucht die richtige Location dazu. Und wir sind dabei wie sie Nacht um Nacht sich der Gestaltung widmen.
Neben der Freundschaft wird der Wert der uns ernährenden Erde ins Rampenlicht gestellt und das ein sorgfältiger Umgang mit ihr das richtige wäre.
Stark macht das Buch der tolle narrative Erzählstil von Benjamin Myers. Wenig Handlung, viel philosophische Tiefe und Betrachtungen machen das dünne Buch sehr reichhaltig. In mir wirkt es nach. Eines der wenigen Bücher, die ich eventuell erneut lesen werde – und in diese Liga schaffen es nur sehr ausgewählte Titel!
Sollte ‚Der perfekte Kreis‘ in eurer Buchhandlung zunächst vergriffen sein, dann nehmt seinen Roman ‚Offene See‘ mit, auch herausragend und mit dem Preis des Lieblingsbuch des Jahres der unabhängigen Buchhändler ausgezeichnet!

Bewertung vom 05.09.2021
Der Mauersegler
Schreiber, Jasmin

Der Mauersegler


ausgezeichnet

Eine tiefe Freundschaft

Nachdem Jasmin Schreiber mit ihrem Debüt ‚Mariannengraben‘ brillierte und alle Welt begeistert war – ich kenne es noch nicht – wollte ich unbedingt ihr neustes Werk lesen: Der Mauersegler.
Von Hause ist die Autorin Biologin und somit schon vertraut mit dem Sezieren von Vorgängen, schleichende und dramatische und setzt diese wieder grandios ins Verhältnis zur Welt.
Prometheus ist Arzt und war felsenfest davon überzeugt seinen Freund Jakob retten zu können. Höhenflüge nahezu hatte er und dann kam der Tod und Prometheus war am Boden zerstört. Wir Leser:innen begleiten ihn als er rock bottom -unten aufschlägt und sich in Dänemark wiederfindet. Dort trifft er auf Menschen, die ihn einfach aufnehmen, selbst Geheimnisse hüten und ihm eine Zuflucht bieten. Es geht hier zwar um den Protagonisten Prometheus und seine Trauerbewältigung, aber im Vordergrund steht für mich ganz klar als großer thematischer Bogen die Freundschaft.
Jasmin Schreiber hat einen sehr ergreifenden Schreibstil ohne Kitsch und ohne zu schwer zu werden. Sie geht das Thema Tod an und das in Kombination mit Freundschaft. Explosiv und sie spinnt eine Geschichte, die uns emotional berührt, erdet und wieder Wesentliches in den Mittelpunkt rückt.
Selten schenke ich einem Buch selbst, also dem Gedruckten ein Kommentar, aber hier ist es mir dieses wert. Vom Mehrwert des haptischen Buches mal abgesehen ist hier erst der Schutzumschlag raffiniert über den Buchschnitt gefaltet und darunter (ja, ich mache den Schutzumschlag immer ab beim Lesen) kommt ein noch schöneres Buch zum Vorschein, dass sogar eine Vogelprägung hat. Sehr gelungen.
Lesenswert ohne aber. Einfach zugreifen und trotz Tod und Leid eintauchen und gestärkt wieder auftauchen in die Lüfte mit dem Mauersegler und den eigenen Freunden.

Bewertung vom 04.09.2021
Die Verlassenen -
Jügler, Matthias

Die Verlassenen -


ausgezeichnet

DDR Nachwehen – eine Aufarbeitung

Dieser schmale Band bring mich ins Schwärmen, denn Matthias Jügler hat einen richtig guten Roman geschrieben. „Die Verlassenen“ ist zwar kein sonderlich einladender Titel und das Sujet der DDR-Aufarbeitung auch nicht innovativ, aber es ist sehr gut umgesetzt und das auf knapp 170 Seiten.
Ein Mosaik, dass sich so nach und nach zusammensetzt zu einem großen Bild. Der Protagonist des Romans ist Johannes, der zu DDR Zeiten groß wird in Halle an der Saale, ungefähr 1994 mit 13 Jahren wird er bei seiner Oma vom Vater zurückgelassen, wo er doch wohl schon mit 5 Jahren seine Mutter verlor. Als Erwachsener fängt er erst an sich Gedanken zu machen und stößt auf Unerhörtes! Natürlich hatte die Stasi ihre Finger im Spiel.
Dies ist eine literarisierte wahre Geschichte, aber nicht die des Autors, sondern einer anderen Familie, die zu DDR-Zeiten von der Stasi überwacht wurden. Matthias Jügler dürfte sie für seinen Roman verwenden und hat es toll umgesetzt. Dieser wahre Hintergrund macht diesen Roman noch erschütternder. Wobei auch noch mal gesagt werden muss, dass die Stasi-Dokumente im Buch auch reine Fiktion sind.
Großartig ist wie der Ich-Erzähler Johannes modellierte. Zunächst ein zurückhaltendes Kind, was wenig hinterfragt und still ist. Dann die Entwicklungskurve mit der Neugier über die eigene Vergangenheit. Sprachlich wird auch viel vom Autor zwischen den Zeilen transportiert. Vieles bleibt ungesagt und dieses großes Schweigen der Beteiligten wird deutlich. Matthias Jügler hat diese erdrückende Stimmung, die wie eine Glocke über dem Text hängt aus meiner Sicht sehr gut beschrieben.
Eine absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 02.09.2021
Das Land der Anderen
Slimani, Leïla

Das Land der Anderen


ausgezeichnet

Aus Mathilde wird Mariam

Die französisch-marokkanische Autorin Leïla Slimani kann man nur feiern. Wieder ein Buch, dass es zu lesen lohnt! Sie packt viele Themen in ihren neuen Roman ‚ Das Land der Anderen‘ und erzählt eine Geschichte aus dem letzten Jahrhundert, aber trifft uns in der Gegenwart. Es ist der erste Teil einer Familiensaga, die sich der Geschichte Marokkos widmet.
Mathilde ist die Protagonistin dieses Romans. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges verliebt sie sich als junge Frau in einen marokkanischen Offizier, der für die Franzosen kämpfte - Amine. Sie wagt es mit ihm nach Marokko zu gehen um ein eigenes Leben zu führen fernab der eigenen Familie. Dort leben sie dörflich bei Meknes auf dem geerbten Hof von Amine. Hier möchte er in trockener Eben als Bauer leben und den Traum seines Vaters verwirklichen hier ernten zu können. Angekommen ist Mathilde, aber findet zum einen patriarchalische Strukturen vor mit sehr traditionellen Lebensweisen in der sie als Frau eine bestimmte Rolle einzunehmen hat. Sie kümmert sich vorrangig um die beiden Kinder, hat aber als „Andere“ Privilegien, darf sich dafür aber auch nicht einmischen.
On top kommt die Sicht auf Marokko als Land, dass die Franzosen kolonialisiert haben und spürt den lokalen Rassismus, die immer die „Anderen“ trifft – egal auf welcher Seite. Eine französische Perspektive, aber von unten auf diesen Kolonialmacht und Wehr gegen die Besatzungsmacht. Ein spannender Ansatz. Dieser erste Band endet mit dem Jahr 1955. Turbulente Zeiten in Marokko -aber ich möchte nicht zu viel vorwegnehmen, lest selbst.
Ich war bisher recht unbewandert in marokkanischer Geschichte und wie Frankreich als Kolonialmacht dort herrschte und wie die Unabhängigkeitsbewegung ihren Lauf nahm. Ich fand diesen Aspekt des Romans äußerst bereichernd.
Außerdem war der Themenkomplex der „Mischehe“ besonders spannend geschrieben, die beiden im Verhältnis zueinander, das Verhältnis zu den Lokalen inklusive der Familie und wie die Franzosen es aufnahmen.
Diese ganze Geschichte wird nüchtern erzählt von Leïla Slimani, aber so durchdringlich, dass es einen fasziniert. Wie immer reibt sie sich an den Themen und es knirscht auch mal und rüttelt den Leser auf ihre ganz eigene Weise auf. Lesenswert!