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Raumzeitreisender
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 764 Bewertungen
Bewertung vom 11.08.2016
David Bowie Is inside

David Bowie Is inside


ausgezeichnet

Changes One Bowie

„Mich fasziniert die Kunst des 20. Jahrhunderts seit jeher, und ich interpretiere sie, von Expressionismus bis Dadaismus, auf meine Weise.“ (84)

David Bowie ist ein Phänomen. Er zählt zu den kreativsten Künstlern der letzten Jahrzehnte mit einem hoch entwickelten Gespür dafür, ob ein Wandel in der Luft liegt und welcher Stil im Entstehen begriffen ist. Er greift Stimmungen zu einem Zeitpunkt auf, wo sie für die meisten Zeitgenossen noch im Unbewussten schlummern, verschneidet diese mit vergangenen Moden, entwickelt daraus seine eigene Sicht und wird damit zum Trendsetter für Musik, Mode und Design. Dabei waren seine Musik, seine Auftritte und sein Aussehen stets außergewöhnlich und im Verhältnis zum jeweiligen Zeitgeist, gewagt.

David Bowie hat sein privates Archiv für das Londoner Victoria & Albert Museum geöffnet. Zzt. läuft die Ausstellung „David Bowie Is“ in Berlin. Das Buch „David Bowie“ ist sozusagen der Ausstellungskatalog. Er ist in 16 Kapitel gegliedert, in denen verschiedene Autoren Themen aus dem Wirken von David Bowie vorstellen. Da es sich um eigenständige Aufsätze handelt, gibt es auch Überschneidungen.

Das Buch, ein Bildband, enthält zahlreiche Kostüme, Plattencovers, Fotos, Notizen zu Bühnenbildern, Originaltexte zu Musikstücken und sonstige Accessoires. Auch das Vinylkostüm, welches er trug, als er mit Marianne Faithful zusammen „I Got You Babe“ gesungen hat, ist dabei. Die Aufnahmen sind perfekt. Die Erläuterungen zu den Plattencovers hören leider bei „Let's Dance“ (201) auf.

Der Bildband vermittelt Perspektiven auf den vielseitigen Künstler David Bowie. Auch seine Herkunft und Jugendzeit wird kurz beschrieben. Wer der Mensch hinter diesen vielen Masken ist, bleibt dennoch nebulös. Dazu müsste Bowie wohl eine Autobiographie schreiben. Trotzdem gilt: Der Bildband ist eine Hommage auf den Performance-Künstler David Bowie und einfach grandios.

Bewertung vom 11.08.2016
Amerikas heiliger Krieg
Engdahl, William

Amerikas heiliger Krieg


sehr gut

Weltpolizei in der Kritik

Wer dieses Buch liest, wird die USA künftig durch eine andere Brille betrachten, als es die Mainstream-Medien gewöhnlich tun. Wo Licht ist, ist auch Schatten und dieser kann je nach Perspektive bedrohliche Formen annehmen.

„Amerikas heiliger Krieg“ ist eine Art Geschichtsbuch über Konflikte und Kriege der vergangenen Jahrzehnte, in denen die Regierung und die Geheimdienste der USA verstrickt sind. Im Fokus dieses detailreichen Buches stehen insbesondere die Beziehungen zu islamistischen Organisationen.

Der Aufbau erfolgt nicht chronologisch, sondern eher themenbezogen. Auf 12 Kapitel verteilt geht es, geografisch gesehen, um Deutschland, Nahost, Jugoslawien, Afghanistan, Russland und die USA. Inhaltlich werden muslimische Vereinigungen untersucht einschließlich ihrer Entwicklungen und ihrer Beziehungen zu den USA.

Autor F. William Engdahl vergleicht den Krieg gegen den Terror, in Anlehnung an Ausführungen von George W. Bush, als Kreuzzug. Dieser Begriff impliziert, im Hinblick auf die Kreuzzüge des Mittelalters, Gewalt, Glaubenskrieg und Ablass.

Seit dem 11. September 2001 denken Amerikaner bei dem Begriff „Terrorist“ insbesondere an „islamische Terroristen“, dabei gab und gibt es zahlreiche Verbindungen zwischen islamistischen Organisationen und Vertretern der USA. Diese Beziehungen wurden und werden derart instrumentalisiert, dass man es kaum glauben kann.

Das Quellenverzeichnis ist mit 29 Seiten sehr umfangreich. Der Inhalt wirkt tendenziös, die Ausführungen sind aber umfangreich belegt. Die vielen unbekannten Namen erschweren das Lesen. Wichtige Begriffe werden prägnant erläutert.

Wer noch daran glaubt, dass es der Weltpolizei darum geht, die Menschenrechte zu verbreiten und zu verteidigen, wird eines Besseren belehrt. Das Buch sollte von vielen Menschen gelesen werden.

Bewertung vom 11.08.2016
Einsteins Schleier
Zeilinger, Anton

Einsteins Schleier


sehr gut

Zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit - die seltsame Welt der Quantenphysik

Ich glaube nicht, dass Robert Musil in seinem Klassiker "Der Mann ohne Eigenschaften" an die Besonderheiten der Quantnenphysik gedacht hat, als er thematisierte, dass es neben einem Wirklichkeitssinn auch einen Möglichkeitssinn geben muss, aber er bewegte sich in einer (literarischen) Begriffswelt, die zur Quantenphysik passt. Ohne Beobachtung existieren keine Eigenschaften; durch Beobachtung konkretisiert sich eine Wirklichkeit aus einem Fundus an Möglichkeiten.

Physikprofessor Anton Zeilinger hat mit seinen "Teleportations"-Experimenten die Quantenphysik in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt. Mittels verschränkter Photonen übertrug er Quantenzustände von einer Seite der Donau zur anderen. Um halbwegs zu verstehen, was dort experimentell gezeigt wurde, ist es erforderlich, sich mit den Eigenheiten der Quantenphysik zu beschäftigen. Das Buch liefert die notwendigen Grundlagen in allgemein verständlicher Form ohne Formeln.

Die Quantenphysik ist so merkwürdig, dass Albert Einstein, einer der Wegbereiter dieser Theorie, sich Zeit seines Lebens weigerte, diese als letztgültige Beschreibung der realen Welt anzuerkennen. Ihm behagte nicht, dass der Zufall, und zwar kein subjektiver, sondern ein objektiver Zufall, Einzug in die Wissenschaft gehalten hatte. Dennoch hat die Quantentheorie bislang sämtliche Falsifikationsversuche unbeschadet überstanden.

Autor Zeilinger erläutert den Welle-Teilchen-Dualismus, geht kurz auf die historische Entwicklung ein (Elektromagnetismus, Hohlraumstrahlung, Schrödingergleichung, Heisenbergsche Unschärfebeziehung etc.), thematisiert ausführlich das Doppelspaltexperiment und erläutert typische Begriffe aus der Quantenphysik wie Superposition, Verschränkung, Dekohärenz und Komplementarität.

Die Ausführungen zum Doppelspaltexperiment sind recht dominant, führen aber dazu, dass die Eigenarten der Quantenphysik plausibel werden. Dafür kommen die (denkbaren) Anwendungen der Quantenphysik (Quantencomputer, Quantenkommunikation, Quantenkryptographie etc.) etwas zu kurz. Zum Thema Komplementarität und der philosophischen Einordnung empfehle ich ergänzend das Buch "Der Teil und das Ganze" von Heisenberg.

Anton Zeilinger präsentiert sich als sachlicher Aufklärer schwieriger naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Er ist weniger der fesselnde Vermittler wie z.B. Feynman oder Gribbin. Auch habe ich bildhafte Beschreibungen, wie sie für Greene typisch sind, vermisst. Dennoch gilt: Seine allgemeinverständlichen Ausführungen überzeugen und auch ist positiv festzuhalten, dass er sich auf dem Boden der Naturwissenschaften bewegt, zahlreiche Experimente beschreibt und nicht zu (esoterischen) Grenzüberschreitungen neigt, auch wenn das Thema dazu verleiten könnte.

Bewertung vom 10.08.2016
Zusammenhänge. Gedanken zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild
Ditfurth, Hoimar von

Zusammenhänge. Gedanken zu einem naturwissenschaftlichen Weltbild


ausgezeichnet

Ein brillanter Vermittler naturwissenschaftlicher Erkenntnisse

Der Buchtitel gibt zum Ausdruck, worum es in diesem Werk geht. Hoimar von Ditfurth (HvD) beschreibt naturwissenschaftliche Zusammenhänge. Es geht primär um die Disziplinen Astronomie, Medizin und Biologie. Die (überwiegend zwei- bis dreiseitigen) Essays sind gleichzeitig leicht verständlich und wegen der übergreifenden Fragestellungen, die behandelt werden, niveauvoll. Die Beiträge stammen aus den Jahren 1964-1971 (HvD war in den 1960er Jahren bei Boehringer beschäftigt) und wurden ursprünglich in der Zeitschrift „Naturwissenschaft und Medizin“ veröffentlicht.

Ich habe das Buch seit Jahren mal wieder gelesen und stelle fest, dass es sich um überwiegend zeitlose Beiträge handelt. Auch fällt HvDs unnachahmliche Art und Weise auf, naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu vermitteln. Diesen Stil vermisse ich in vielen aktuellen Büchern. Die Essays fesseln; sie sind von einem Autor verfasst, der das Staunen nicht verlernt hat. HvDs Ausführungen bewegen sich auf dem Boden der Naturwissenschaften und sind von der Vision getragen, dass die Welt einen Sinn hat, den wir zwar erahnen, aber niemals ergründen können.

Viele der Gedanken sind in seine späteren Bücher eingeflossen. „Unser Gehirn ist kein Organ zur Erkenntnis der Natur, sondern ein Organ zum Überleben“ und „Wir sind, mit anderen Worten, die Neandertaler von morgen“ sind solche zentralen Aussagen. Lediglich Prognosen in „Immer eins nach dem anderen“ und „Kosmische Quarantäne“ erweisen sich tlw. als überholt. Das beeinflusst die Qualität des Buches aber nur unwesentlich. Wer HvD nicht kennt, findet über dieses Buch einen leichten Einstieg in seine Werke.

Bewertung vom 09.08.2016
Der Schatten des Windes / Barcelona Bd.1
Ruiz Zafón, Carlos

Der Schatten des Windes / Barcelona Bd.1


ausgezeichnet

Im Bann des Schicksals

Der Roman beschreibt einen Abschnitt aus dem bewegten Leben von Daniel Sempere. Die Geschichte beginnt 1945, als der zehnjährige Daniel mit seinem Vater, einem Buchhändler, den „Friedhof der Vergessenen Bücher“ besucht und endet etwa zehn Jahre später. In einem Nachwort skizziert Carlos Ruiz Zafón das Schicksal seiner Romanfiguren Jahre später. Hier schließt sich der Kreis der Ereignisse.

Der „Friedhof der Vergessenen Bücher“ ist ein magischer Ort, in dem Daniel sich ein Buch aussuchen darf, aus einem riesigen Reservoir verstaubter Bücher längst vergessener Autoren. Die Tradition will es, dass Daniel eine Beziehung zu dem ausgewählten Buch aufbaut, so das dessen Geschichte durch ihn weiterlebt. Diese Buchadoption ist Auslöser für zahlreiche Ereignisse in Daniels Leben.

Er wählt „Der Schatten des Windes“ von Julian Carax aus. Das Buch hat sein Interesse geweckt und er macht sich auf die Suche nach weiteren Informationen über den unbekannten Autor. Die Beschäftigung mit Carax beginnt spielerisch, aus jugendlicher Neugierde heraus und wird immer mehr zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit.

Carlos Ruiz Zafón hat eine wunderbare Art zu schreiben. Die Mischung aus Abenteuer, Krimi und Liebesgeschichte, eingewoben in einen politischen Hintergrund, ist nicht zu übertreffen. Die Geschichte wirkt trotz der gewagten Verschneidungen der Lebensläufe echt und ist an keiner Stelle langweilig. Die Verflechtungen der Romanfiguren, die Geschichte in der Geschichte und die Vergangenheitsbewältigung sind gekonnt inszeniert. Es ist ein Roman über den Reifungsprozess eines Heranwachsenden.

Bewertung vom 09.08.2016
Computernetzwerke
Schreiner, Rüdiger

Computernetzwerke


ausgezeichnet

Netzwerke wirklich verstehen

Bei diesem Buch handelt es sich um eine wohl strukturierte und verständliche Einführung in die Grundlagen von Netzwerken. Autor Rüdiger Schreiner versteht es, auf den Punkt zu kommen. Er erklärt den Aufbau und die zugehörigen Komponenten so, dass Zusammenhänge deutlich werden.

Der Fokus liegt auf dem OSI-Modell. Schreiner erläutert die für Netzwerkadministratoren wichtigen Schichten eins bis vier des OSI-7-Schichtenmodells einschließlich der Übertragungswege, Protokolle und Komponenten. Zur Zielgruppe dieses Buches gehören Einsteiger und künftige Administratoren.

In weiteren Kapiteln geht es um aktuelle Themen der Netzwerktechnik wie VLAN, VPN, WLAN, verschiedene Netzzugänge und IP V6. Deutlich wird, dass IP V6 mehr ist, als eine Erweiterung des Adressraumes. Die Verschlüsselungsmethoden im Zusammenhang mit VPN werden nur kurz angesprochen. Hier verweist der Autor auf weitergehende Literatur.

In den letzten Kapiteln befindet sich ein Fragenkatalog, um das Erlernte zu überprüfen, eine Übersicht über verschiedene Steckertypen, ein Exkurs in das Binär- und Hexadezimalsystem sowie ein Praxisteil mit Übungen. Es folgen konzeptionelle Überlegungen zur Einrichtung von Netzen und Fehleranalysen. Letztere sind recht kurz und sehr allgemein gehalten.

In dem Buch dominieren nicht Kommandozeilenbefehle. Es ist dennoch keinesfalls oberflächlich gehalten. Der Autor liefert prägnante Erklärungen und versteht es, durch Querverbindungen das Thema ganzheitlich anzugehen. Mit dieser verständlichen Einführung werden Voraussetzungen geschaffen, um tiefer gehende Werke überhaupt verstehen zu können.

Bewertung vom 09.08.2016
Der Himmel unter der Stadt
McCann, Colum

Der Himmel unter der Stadt


ausgezeichnet

Abbild einer rauen Wirklichkeit

Dem irischen Autor Colum McCann ist mit diesem Roman eine eindrucksvolle Milieustudie aus der Arbeiterwelt von New York gelungen. McCann beschreibt den Alltag der Verlierer der Gesellschaft, die zwar täglich ihr Leben im Tunnelbau oder Stahlhochbau riskieren, aber an den Pfründen des Wohlstandes nicht teilhaben. Es geht aber nicht nur um die Menschen, die an den Baumaßnahmen beteiligt waren, sondern auch um die, die später in den Katakomben der Tunnel leben, weil sie keinen festen Wohnsitz mehr haben. Das Leben ist rau, brutal, oftmals hoffnungslos. Dennoch lassen sich die Protagonisten nicht unterkriegen.

Der Roman ist in zwei Geschichten in unterschiedlichen Zeitebenen (1916 und 1991) unterteilt. Die Hauptakteure sind Nathan Walker, ein Arbeiter, der 1916 am Tunnelbau beteiligt war und Treefrog, der 1991 in dem Tunnel lebt. Im Laufe der Geschichte gibt es eine zeitliche und inhaltliche Annäherung. Während die Zeitsprünge in der ersten Hälfte durch Kapitel scharf getrennt sind, verschwimmt diese Trennung in der zweiten Hälfte des Buches. Innerhalb einzelner Kapitel wechselt Autor McCann zunehmend die Erzählebenen. Durch diese immer kleiner werdenden Sprünge deutet sich an, dass die Geschichten inhaltlich konvergieren, dass es Schnittstellen gibt zwischen beiden Erzählsträngen.

Die Erzählungen sind eindringlich, düster, aber auch hoffnungsvoll. McCann beschreibt unterschiedliche Schicksale, die von Armut, Schuld, Liebe und Sehnsucht, aber auch von Gewalt, Rassismus, Raub und Drogen geprägt sind. Er schafft eine Atmosphäre, die die Leser in den Bann zieht. Auch wenn es sich um eine Mischung von Historie und Fiktion handelt, wirkt der Roman authentisch. Der Titel beschreibt durch seine Symbolik, was das Buch ausmacht. Es gibt auch einen Himmel für die Verlierer der Gesellschaft, aber dieser befindet sich unter der Stadt.

Bewertung vom 09.08.2016
Jenseits von Gut und Böse
Schmidt-Salomon, Michael

Jenseits von Gut und Böse


ausgezeichnet

Abschied von der Moral – eine kritische Analyse

Michael Schmidt-Salomon (MSS) skizziert eine menschenfreundliche Philosophie jenseits von Gut und Böse. Er verabschiedet sich von den archaischen Denkmustern Schuld und Sühne. Das Böse sei eine Wahnidee. Es ist ein Mythos, dass das sogenannte Böse erst mit dem Menschen in der Welt aufgetaucht ist. Auch in der Tierwelt gibt es grausame Verhaltensweisen.

Die moderne Hirnforschung lehrt uns, dass das Ich eine Konstruktion des Gehirns ist (siehe z.B. Thomas Metzinger „Der Ego-Tunnel“). Die grundlegende Funktion des Bewusstseins ist es nicht, das Verhalten zu steuern, sondern dem Ich einleuchtende Begründungen dafür zu liefern, warum es sich so und nicht anders verhält.

Bereits Schopenhauer erkannte, dass ein von Ursachen unabhängiger (also freier) Wille gegen das Kausalitätsprinzip verstoße. Die Menschen schließen aus der Handlungsfreiheit (tun zu können, was man will) auf die Existenz von Willensfreiheit (beliebig wollen zu können, was man will). Ein freier Wille ist mit wissenschaftlichen Überlegungen nicht zu vereinbaren.

Im dritten Kapitel erläutert MSS seine Definitionen von Moral und Ethik. In der Moral geht es um subjektive Wertigkeit von Menschen vor dem Hintergrund vermeintlich vorgegebener metaphysischer Beurteilungskriterien, in der Ethik hingegen um die objektive Angemessenheit von Handlungen anhand intersubjektiv ausgehandelter Spielregeln.

Im fünften Kapitel thematisiert MSS Kritikfähigkeit, die ein wesentlicher Bestandteil der Entwicklungsgeschichte der Naturwissenschaften ist, jedoch bei den (statischen) Religionen fehlt. Bei Aussagen, die einen hohen Wahrheitsanspruch für sich reklamieren, ist das Prinzip der Kritik unerlässlich.

Eines der m.E. wichtigsten Themen „Emergenz“, welches thematisch mitten ins Buch gehört, hat MSS, der Komplexität wegen, als letztes Kapitel angefügt. Es geht um Mikrodetermination (Bestimmung des emergenten Systems durch Ursachen auf niederer Integrationsebene) und Makrodetermination (Rückwirkung des emergenten Systems auf niedere Integrationsebenen).

MSS lehnt sowohl den radikalen eliminatorischen Reduktionismus (Phänomene der Biologie und Kultur sind vollständig auf physikalische Prinzipien zurückzuführen) als auch das starke anti-naturalistische Emergenz-Prinzip (emergente Prozesse sind nicht durch Ursachen auf niederer Integrationsebene determiniert) ab. Er favorisiert ein starkes, naturalistisches Emergenz-Prinzip: Kausalität wird durch das Auftreten emergenter Phänomene nicht durchbrochen; kulturelle Phänomene widersprechen nicht den grundlegenden biologischen, chemischen und physikalischen Determinanten, werden durch diese jedoch nicht hinreichend erklärt.

Im Bereich der Makrodetermination liefert MSS mit dem evolutionären Selektionsprinzip einen naturalistischen Ansatz, wie diese denn funktionieren kann. Die Frage, wie ein Gedanke Auswirkungen auf Moleküle und Atome hat, ist mit dem evolutionären Selektionsprinzip, wo Häufigkeiten beeinflusst werden, nicht hinreichend erklärt. Das Modell erklärt, wie ein emergenter Prozess seinen „Fußabdruck“ in der physikalischen Welt hinterlässt, es erklärt aber nicht, wie ein Gedanke auf die physikalische Welt wirkt.

Wir unterliegen einer Jahrtausende alten Prägung von Gut und Böse. MSS versucht diese mit naturalistischen Argumenten aufzubrechen. Er rüttelt, wie auch schon die Hirnforschung in den letzten Jahrzehnten, am Selbstverständnis des Menschen. Ob es gelingt, das Weltbild zu verändern, wird die Zukunft zeigen. Das Buch, welches sich an eine breite Leserschaft richtet, sollte man lesen, wenn man bereit ist, sich kritisch mit dem Thema „Gut und Böse“ auseinander zu setzen. Es sollte aber nicht das einzige Buch zum Thema sein.

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