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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 764 Bewertungen
Bewertung vom 05.08.2016
Das Geheimnis der Eulerschen Formel
Ogawa, Yoko

Das Geheimnis der Eulerschen Formel


sehr gut

Eine einfühlsamer Roman aus Japan

Die Eulersche Formel verbindet verschiedene Bereiche der Mathematik auf elegante Art und Weise miteinander. In ihrer Einfachheit und Schönheit ist sie ein Symbol für die innere Harmonie komplexer mathematischer Strukturen. Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dieser Formel?

Der Roman handelt von einer Haushälterin, die bei einem Professor für Mathematik beschäftigt ist. Sie ist alleinerziehende Mutter eines zehnjährigen Jungen. Der Professor, Experte für Zahlentheorie, hatte 1975 einen schweren Unfall und leidet seitdem an Amnesie. Alle achtzig Minuten verliert er seine jeweils neuen Erinnerungen. Daher trägt er Zettel an seiner Jacke mit wichtigen Informationen zur Orientierung.

Yoko Ogawa gelingt es von Beginn an, eine angenehme Atmosphäre zu schaffen, die den Leser in seinen Bann zieht. Der Verzicht auf Namen führt nicht dazu, dass die Geschichte unpersönlich wirkt. Die Charaktere sind markant; das gilt für den vergesslichen, aber gescheiten Professor genauso, wie für die einfühlsame und geduldige Haushälterin und ihren sensiblen Sohn.

Autorin Ogawa verarbeitet die Themen Genialität und extreme Vergesslichkeit in der Person des Professors. Mathematische Rätsel werden eingestreut. So wird der Sohn der Haushälterin, dem der Professor bei den Hausaufgaben hilft, u.a. mit einer Summationsaufgabe konfrontiert, für dessen Lösung der junge Gauß eine Formel gefunden hat.

Die mathematisch-physikalischen Beschreibungen sind nicht immer korrekt. So wird z.B. kinetische Energie nicht in Stundenkilometern gemessen. Dies dürfte aber für ein literarisches Werk nebensächlich sein. M.E. hätte aber die Verbindung der Eulerschen Formel, die mehrfach erwähnt wird, mit der (Beziehungs-)geschichte deutlicher verzahnt werden können. Immerhin wurde das Buch danach benannt. Am Ende des Romans geht es um existenzielle Fragen. Was bleibt übrig von einem genialen Menschen, wenn er von extremer Amnesie betroffen ist?

Dies war für mich der erste Roman einer japanischen Autorin. Die Verbindung von Mathematik und Literatur hat mich angezogen. Prägend für den Roman ist neben den mathematischen Spielereien das Beziehungsgeflecht zwischen dem Professor, der Haushälterin und ihrem Sohn. Das ständige neue Kennenlernen wirkt sympathisch; das ständige Vergessen tritt angesichts der bestehenden Harmonie in den Hintergrund.

Bewertung vom 05.08.2016
Das große Buch vom Menschen
Fischer, Ernst Peter

Das große Buch vom Menschen


sehr gut

Das Wunder Mensch

In diesem Buch präsentiert Ernst Peter Fischer den Menschen in seiner Vielfalt und Einmaligkeit aus verschiedenen Perspektiven. Hierzu gehören Naturwissenschaft, Technik, Kultur, Kunst, Religion und Philosophie. Entstanden ist eine populärwissenschaftliche Gesamtschau, die Akzente setzt, jedoch thematisch nicht gleichzeitig in die Tiefe gehen kann.

Positiv fallen die vielen ausdrucksstarken Fotos auf. Mehr als vierhundert teilweise Emotionen auslösende Fotos visualisieren die Kernaussagen des Textes. Neben den Fotos mit ihren Untertexten enthält der Band zahlreiche farblich gekennzeichnete Texteinschübe, in denen weitergehende Erläuterungen außerhalb des Fließtextes eingefügt sind.

Inhaltlich ist das Buch nach fachübergreifenden Fragestellungen aufgebaut. In diesem Sinne gibt es keine eigenen Kapitel „Naturwissenschaft“, „Technik“, „Kultur“ etc., sondern in jedem Kapitel werden unterschiedliche Perspektiven verarbeitet. Zu den Themen gehören z.B. „In der ganzen Welt zu Hause“, „Was ist der Mensch?“, „Das menschliche Treiben“ oder „Das kommende Leben“.

„Freude und Fröhlichkeit gehören ebenso zum humanen Leben wie Wissen und Weisheit, wobei dem Autor der [von der Hirnforschung [1] bestätigte] Gedanke gefällt, dass die Fähigkeit zur Freude zu der Lust am Wissen führt.“ (39) Fischer erläutert innerhalb der Kapitel seine Motivation für das vorliegende Buch.

Die Entwicklung des Menschen stellt Fischer anders da als Juan L. Arsuaga [2] oder Ruth Omphalius [3]. Danach ist der Neandertaler nicht ausgestorben, sondern hat sich vor 50.000 Jahren zumindest in einigen Fällen mit dem Homo sapiens gepaart, wodurch die Gene vermischt wurden und auch die DNA des modernen Menschen noch Neandertaler-Gene enthält. (127)

Fischer erläutert zahlreiche Weisheiten über den Menschen. So erklärt er, warum uns Vollkommenheit nicht bekommt (161) und dass der Mensch handlungsorientiert ist (Zitat Goethe: „Im Anfang war die Tat!“). Er bezieht sich auf den amerikanischen Philosophen John Searle, der thematisiert, dass „Sprechen eigentlich Handeln meint“. (176) Sprache kann Wirklichkeit hervorbringen [4].

Zu den großen Themen gehören auch Religionen. Fischer stellt die bekannten Religionen kurz vor. „Das Paradies auf Erden, es gibt es wohl doch nicht, was genauer heißt, dass weiter danach gesucht werden kann.“ (279) Das gilt wohl auch für Samoa in der Südsee, auch wenn Margaret Mead dass 1925 anders sah. „Vollkommenheit ist im Diesseits nicht erreichbar“ ist bereits die Quintessenz bei Nagib Machfus [5].

Im Verhältnis zur Bedeutung für die Philosophie und seit mehreren Jahrzehnten auch für die Hirnforschung wird das zutiefst menschliche Thema „Freiheit des Menschen“ auf drei Seiten recht knapp abgehandelt. Zahlreiche Autoren (Michael Pauen [6], Gerhard Roth [7] u.v.a.m. ) haben sich ausführlich damit beschäftigt, wie die Experimente von Libet zur Willensfreiheit interpretiert werden können.

Die Themen Kunst und Literatur kommen m.E. zu kurz. Aber auch wenn der „Mensch als literarisches Wesen“ nicht explizit behandelt wird, enthält das Buch eine Vielzahl von Bezügen zur Literatur. Der Autor hat zweifelsohne eine Vorliebe für Goethe, der an vielen Stellen zitiert wird. Dieser hat seine eigene Antwort auf den Menschen: „Diese Unvergleichlichen, wollen immer weiter, sehnsuchtsvolle Hungerleider, nach dem Unerreichlichen.“ (156)

[1] "Braintertainment" von Manfred Spitzer und Wulf Bertram
[2] „Der Schmuck des Neandertalers“ von Juan L. Arsuaga
[3] „Der Neandertaler“ von Ruth Omphalius
[4] „Die Konstruktion der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ von John R. Searle
[5] „Die Reise des Ibn Fattuma“ von Nagib Machfus
[6] „Was ist der Mensch?“ von Michael Pauen
[7] „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“ von Gerhard Roth

Bewertung vom 05.08.2016
Switch
Heath, Chip;Heath, Dan

Switch


gut

Yes we can

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust“, erkannte Goethe. Bereits Platon sprach von einem „rationalen Wagenlenker, der ein wildes Pferd zügeln muss“. (14) Gemeint sind der rationale Verstand und die Emotionen, die beiden Systeme, die den Menschen steuern.

Chip und Dan Heath bauen auf dieser Erkenntnis ihr Buch auf, in welchem es darum geht, Veränderungen umzusetzen. Sie veranschaulichen ihre Thesen mit einem einprägsamen Bild von einem Elefanten (emotionale Seite) und seinem Reiter (rationale Seite).

Wie gelingt es dem (schwachen) Reiter, den (starken) Elefanten nachhaltig in eine bestimmte Richtung zu bewegen? Davon handelt das Buch. Aus dem beruflichen und privaten Alltag weiß jeder, dass es schwierig ist, Veränderungen umzusetzen.

Das Buch enthält wenig Theorie, dafür sehr viele Beispiele aus verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen. In getrennten Abschnitten stehen jeweils die Aspekte „Reiter“, „Elefant“ und „Weg“ im Fokus. Die Ausführungen sind verständlich.

Das Buch wirkt typisch amerikanisch, beschrieben werden Erfolgswege und keine Misserfolge. Die Beschreibungen klingen plausibel. Dennoch bleiben Fragen offen: Wie hoch ist die Erfolgsquote? Wie nachhaltig sind die Veränderungen? Gibt es Nebenwirkungen?

Für meinen Geschmack hätten wenige Fallbeispiele ausgereicht. Das Buch könnte bei gleicher Aussagekraft auf die Hälfte reduziert werden. Es handelt sich um einen Ratgeber, den man lesen kann, aber nicht lesen muss, denn die Autoren vermitteln keine neuen Erkenntnisse über den Menschen.

Bewertung vom 05.08.2016
So machst du dir Freunde
Matthews, Andrew

So machst du dir Freunde


ausgezeichnet

Nichts ändert sich, außer man selbst ändert sich

Das Buch handelt, wie schon der Titel verspricht, von zwischenmenschlichen Beziehungen. Im Umgang mit anderen Menschen haben wir, wie uns Autor Andrew Matthews versichert, immer die Wahl zwischen verschiedenen Verhaltensweisen. Das Buch dient dazu, gewohnte Verhaltens- und Denkmuster kritisch zu hinterfragen und neue Wege aufzuzeigen.

Andrew Matthews ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Cartoonist und Porträtist. 70 Illustrationen dienen zur visuellen Unterstützung seiner Thesen, die er auf 6 Kapitel verteilt in leicht lesbarer Form präsentiert. Der Autor spricht die Leser direkt an und erzeugt dadurch eine intime Atmosphäre. Kleine Geschichten, die in die Texte eingewoben sind, untermauern die wichtigsten Aussagen des Buches. Am Ende der Kapitel bzw. Abschnitte befinden sich unter der Rubrik „Des Pudels Kern“ kurze Zusammenfassungen.

Das Buch ist hinsichtlich der Aussagen zeitlos, dazu humorvoll und leicht verständlich geschrieben. Hintergründe werden nicht wissenschaftlich aufgearbeitet, sondern Kernaussagen plausibel begründet. Matthews geht die Themen pragmatisch an. Seine Erkenntnisse sind nicht neu und sie leuchten unmittelbar ein („Aha-Effekt“). Es ist so, als ob Matthews zahllose psychologische Ratgeber analysiert hätte und er die Quintessenz daraus in seinem Buch auf witzige Art und Weise präsentiert.

Bewertung vom 05.08.2016
Krieg und Frieden
Tolstoi, Leo N.

Krieg und Frieden


ausgezeichnet

Ein historisches Monumentalwerk

„Krieg und Frieden“ beinhaltet die Geschichte der drei russischen Adelsfamilien Bolkonski, Besuchow und Rostow über einen Zeitraum von 7 Jahren (1805 – 1812). Es ist die Zeit von Napoleon I und Zar Alexander I. Die Perspektive ist die des russischen Adels. Es handelt sich um ein epochales Werk, bestehend aus zahlreichen unterschiedlichen Handlungssträngen, eingewoben in ein umfangreiches Beziehungsgeflecht. Ein Nachwort gibt Aufschluss über den weiteren Werdegang der Protagonisten. Außerdem wird die Zeit Napoleons I aus russischer Sicht reflektiert.

Der Roman umfasst 250 Personen, was dazu führen kann, dass man als Leser mit den Namen und den Beziehungen durcheinander geraten kann. Einmal angelesen, sollte man am Ball bleiben und den Roman zügig zu Ende lesen. Belohnt wird man durch einen Familien- und Bildungsroman mit historischem Hintergrund, der das gesellschaftliche Leben und die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der russischen und der französischen Armee auf plastische Weise darstellt. Die Leser befinden sich mitten im Geschehen.

In dem Roman kommen historische Personen wie Napoleon I und Kutusow (Oberbefehlshaber der russischen Armee) ebenso vor, wie detaillierte Beschreibungen der Schlachten von Borodino und Smolensk, sowie die Besetzung Moskaus durch die Franzosen und deren Abzug. Als Leser taucht man ein in diese Zeit und bekommt Perspektiven vermittelt, die in Geschichtsbüchern fehlen.

Tolstoj thematisiert, dass bei den kriegerischen Auseinandersetzungen der Zufall eine viel größere Rolle gespielt hat, als große Feldherren uns Glauben machen wollen. Befehlsketten funktionierten oftmals nicht, weil z.B. Boten nicht ankamen oder sich die Umstände zwischenzeitlich geändert hatten. Das Chaos auf den Kriegsschauplätzen war weitaus größer als die Planspiele der Strategen am grünen Tisch uns weismachen wollen. Der Roman beinhaltet eine massive Kritik am Krieg (s. z.B. die Ausführungen von Fürst Andrej Bolkonski bei seinem letzten Treffen mit Graf Pierre Besuchow).

Die Erzählungen sind einfach und verständlich. Die Spannung hält sich in Grenzen, was bei Klassikern (aus unserer heutigen Perspektive betrachtet) nicht ungewöhnlich ist. Dafür ist der Roman reich an Hintergrundinformationen und Charakterbeschreibungen, die in modernen Thrillern häufig fehlen. Ein Interesse an russischer Literatur sollte vorhanden sein, wenn man zu diesem Monumentalwerk greift.

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.08.2016
Das innere Auge
Sacks, Oliver

Das innere Auge


sehr gut

Veränderte Wahrnehmungen

Autor Oliver Sacks, bekannt durch das Buch „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“, beschreibt Fallgeschichten aus seiner Praxis als Neurologe. Er versteht es, schwierige Sachverhalte für ein breites Publikum allgemeinverständlich aufzubereiten. Verletzungen oder Erkrankungen des Gehirns können dazu führen, dass die Patienten in eine Realität eintauchen, die Außenstehenden bizarr erscheint. Die Leser lernen eine fremdartige Welt kennen.

Da ist zum einen der Fall Lilian Kallir. Sie ist eine Pianistin, die krankheitsbedingt keine Noten und keine Schrift mehr lesen kann, obwohl sie beides gut erkennen kann. In einem weiteren Kapitel geht es um Patricia, einer Künstlerin, die an Sprachverlust leidet. Sie ist nicht stumm, sondern ihr fehlt das Verständnis für Sprache. In einem dritten Fall geht es um den Schriftsteller Howard Engel, der aufgrund eines Schlaganfalls zwar noch Schreiben, aber nicht mehr lesen kann.

Sacks berichtet auch über seine eigene Krankheitsgeschichte, über die er Tagebuch geführt hat. Er hatte einen bösartigen Tumor im Auge. Es werden Facetten einer Erkrankung deutlich, die nicht primär im Fokus stehen, wenn man an Krebs denkt. Neben seinen eigenen Empfindungen beschreibt Sacks im Detail Wahrnehmungsstörungen, die durch die Erkrankung und die spätere Behandlung ausgelöst wurden. Besonders hat ihn der Verlust des stereoskopischen Sehens getroffen, welcher zwangsläufig eintritt, wenn die Sehkraft auf einem Auge schwindet.

Sacks Ausführungen sind nüchtern, verständlich und auch humorvoll. Pessimismus, den man angesichts der behandelten Themen erwarten könnte, ist ihm fremd. „Das innere Auge“ ist kein Fachbuch für Mediziner, sondern ein Buch von Betroffenen für Betroffene und für interessierte Menschen, die die Grenzen ihrer Vorstellungswelt erweitern möchten. Der Autor beschreibt, wie die Krankheiten sich entwickeln und wie die Patienten damit umgehen. Der Verlust an Lebensqualität führt nicht dazu, dass sie ihren Lebensmut verlieren.

Bewertung vom 05.08.2016
Berthold Beitz - Die Biographie
Käppner, Joachim

Berthold Beitz - Die Biographie


sehr gut

Der letzte Ruhrbaron

Joachim Käppner, studierter Historiker, beschreibt das Lebenswerk von Berthold Beitz und das ist beeindruckend. Beitz ist in einfachen Verhältnissen in einem Dorf in Pommern aufgewachsen. Der Krieg führte ihn nach Boryslaw, in den damaligen Grenzen von Polen gelegen (heute Ukraine), wo er als Direktor de Karpathen-Öl AG tätig war und unter Einsatz seines Lebens der dortigen jüdischen Bevölkerung geholfen hat. Für seinen Einsatz wurde er 1990 mit der höchsten Auszeichnung geehrt, die Israel an Ausländer vergeben kann.

In der Nachkriegszeit machte er zunächst in Hamburg bei einem Versicherungsunternehmen Karriere. Auf persönliche Intervention von Alfried Krupp wurde er 1953 Generalbevollmächtigter des Krupp- Konzerns. Er wechselte von Hamburg nach Essen. Nach dem Tod von Alfried Beitz wurde er Vorsitzender des Kuratoriums der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach- Stiftung, die er im Geist und Andenken an den Stifter Alfried Krupp seit über 40 Jahren leitet.

Autor Käppner beschreibt zahlreiche Facetten aus dem Leben von Berthold Beitz. Hierzu gehören seine humanitären Leistungen, seine Unternehmenspolitik, sein Verhältnis zu Alfried Krupp, sein ostpolitisches Engagement und sein Einsatz für die Olympischen Spiele. Seine menschlichen Qualitäten haben dazu beigetragen, dass er sich zu einer der großen Persönlichkeiten der deutschen Nachkriegsgeschichte entwickelt und Zeitgeschichte geschrieben hat. Beitz ist ein freiheitsliebender charismatischer Mensch mit dem intuitiven Gefühl für das Mögliche und dem Mut zum raschen, entschlossenen Handeln.

Das Buch ist nicht primär chronologisch, sondern themenbezogen aufgebaut. Das führt zu manchen Wiederholungen. Es ist verständlich geschrieben, macht neugierig und fesselt die Leser. Zudem enthält es zahlreiche Fotos und ein umfangreiches Quellenverzeichnis. Ich hätte mir mehr Stellungnahmen von anderen Menschen (außerhalb von Boryslaw) über Berthold Beitz gewünscht. Wie haben ihn Mitarbeiter, Angehörige aus der Unternehmerfamilie Krupp von Bohlen und Halbach, Gewerkschafter, Politiker, Manager und seine Gegner gesehen? Warum haben andere Menschen ihn so gesehen, wie sie ihn gesehen haben?

Berthold Beitz steht für verantwortliches Handeln unabhängig vom Mainstream, für die Versöhnung mit den Völkern Osteuropas, für soziales Engagement und für einen menschlichen Kapitalismus. Helmut Schmidt bringt es auf den Punkt: „Ich verbeuge mich vor seiner Lebensleistung und freue mich sehr, dass Joachim Käppner dieses mit der vorliegenden Biographie eines großen Mannes für die breite Öffentlichkeit ebenso tut.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.08.2016
Nach uns die Zukunft
Pestalozzi, Hans A.

Nach uns die Zukunft


sehr gut

Widersprüche in unserer Gesellschaft

Das Buch beinhaltet eine Sammlung zeitkritischer Vorträge von einem Mann, der das Staunen nicht verlernt hat. Er legt den Finger auf die Wunde, wenn er feststellt, dass moralische Prinzipien nur im privaten Umgang existieren und nicht im Wirtschaftsleben („Gelten für Ihren persönlichen Bereich und für ihre Familie die gleichen Verbrauchsmaßstäbe, die Sie auf Ihre potenziellen Kunden anwenden?“).

Autor Pestalozzi ist ein Querdenker. Er setzt sich schonungslos mit den Themen „Wirtschaft und Gesellschaft“, „Fortschrittsglauben“, „Wachstum“, „Demokratie und Rechtsstaat“, „Energie und Umweltschutz“ und „Technikgläubigkeit“ auseinander. Seine kritischen Erläuterungen haben ihm den Ruf eines Subversiven eingebracht. Er selbst sieht sich als positiver Subversiver. Seine Beispiele beziehen sich auf die Schweiz, sind aber problemlos auf andere Gesellschaften übertragbar.

Das Thema Erziehung zieht sich durch das gesamte Buch. Pestalozzi fragt sich und die Leser, wie man die Widersprüche unserer konsumorientierten Wachstumsgesellschaft, die er prägnant aufzeigt, seinen Kindern erklären soll. Er verdeutlicht den Zusammenhang zwischen Pflichterfüllung und Verantwortung („Wie soll der Schüler lernen, dass Pflichten nur erfüllt werden dürfen, wenn die Folgen der Pflichterfüllung für ihn persönlich verantwortbar sind?“).

Das Buch ist über 30 Jahre alt. Pestalozzis Beispiele sind aktuell und auf die Gegenwart übertragbar. Geändert haben sich die Verhältnisse seitdem nicht, jedoch findet man heute in der Systemischen Evolutionstheorie von Peter Mersch plausible Antworten. In der Marktwirtschaft treffen zwei unterschiedliche Klassen von Evolutionsakteuren aufeinander, nämlich Menschen und Unternehmen, wobei Erstere für Letztere primär Ressourcen darstellen. Dieser Denkansatz liefert bislang die beste Erklärung für die Widersprüche zwischen dem Verhalten im privaten Umfeld und in der Wirtschaft.

Bewertung vom 04.08.2016
Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins
Kundera, Milan

Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins


sehr gut

Liebesgeschichten in Zeiten des Kalten Krieges

„Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“, 1984 in Frankreich erschienen, führte dazu, dass der tschechische Autor Milan Kundera weltweit bekannt wurde. Bereits der Titel mit seinem Widerspruch in dem Begriff „unerträgliche Leichtigkeit“ deutet daraufhin, dass es sich um einen philosophischen Roman handelt. Aber das ist nur eine Facette dieses Werkes. Auf der Handlungsebene geht es um Liebesbeziehungen vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Damit ist es gleichzeitig ein politischer bzw. gesellschaftskritischer Roman.

Die Verhältnisse sind geprägt von Liebe und Untreue, von Freiheit und Abhängigkeit, von Dominanz und Unterordnung und von Leichtigkeit und Schwere. Das erste Paar besteht aus dem Chirurgen Tomas und der Kellnerin Teresa und das zweite Paar aus der Malerin Sabina und dem Dozenten Franz. Aber auch Tomas und Sabine kennen sich näher. Das Beziehungsgeflecht ist vielfältig und die Wünsche und Vorstellungen unterschiedlich. Es ist ein anspruchsvoller Roman, in den man sich vertiefen und verlieren kann.

Kundera wechselt häufiger die Erzählebenen, mal befindet er sich dozierend auf einer Metaebene und mal mitten in der Geschichte. Der Aufbau ist nicht chronologisch, Retrospektiven sind eingeflochten, Träume spielen eine große Rolle, aber auch ein kleiner Hund namens Karenin. Der Kalte Krieg beeinflusst das Leben und drückt auf die Atmosphäre im Prag der 1960er und 1970er Jahre. Das Ende ist tragisch, trotzdem ist der Roman erfrischend anders und damit lesens- und empfehlenswert.

Bewertung vom 04.08.2016
Irre! - Wir behandeln die Falschen
Lütz, Manfred

Irre! - Wir behandeln die Falschen


gut

Eine moderne Seelenkunde

Dem Titel nach zu urteilen handelt es sich um eine humorvolle Seelenkunde. Den Teil A und die beiden letzten Kapitel des Buches würde ich als humorvoll-weise einstufen. Hier thematisiert Psychiater und Psychotherapeut Manfred Lütz, wie „normal“ denn die sogenannten Normalos sind. Der Autor hat Erfahrungen als Kabarettist, wie hier deutlich wird.

Im Hauptteil dazwischen beschreibt Autor Lütz auf populärwissenschaftliche Art und Weise das Wesentliche von Psychiatrie und Psychotherapie. Es werden Krankheitsbilder erläutert und Fälle beschrieben. Dieser Teil ist lesenswert, entspricht aber nicht den Erwartungen der Leser, wenn sie sich am Titel bzw. Untertitel orientieren.

Lütz beleuchtet die positiven Seiten der Krankheiten („... so erinnern demenzkranke Patienten, die die Vergangenheit vergessen haben und die nicht in die Zukunft planen, uns alle daran, dass das Leben ausschließlich in der Gegenwart stattfindet“) und klärt die Leser über spektakuläre Phänomene auf („Nahtoderlebnisse sind aus wissenschaftlicher Sicht am plausibelsten zu beschreiben als Effekte geringer Hirndurchblutung, nicht mehr und nicht weniger“).

Bei der Behandlung geht es primär um Zweckmäßigkeit und nicht um Wahrheit („Frühere Auseinandersetzungen zwischen therapeutischen Schulen darüber, ob nun die biologische, die psychoanalytische, die verhaltenstherapeutische oder irgendeine andere Sicht wahr sei und alle anderen daher falsch, sind inzwischen glücklicherweise überwunden“).

Autor Lütz präsentiert eine Sicht auf psychische Krankheiten sowie auf seinen Berufsstand, die – im Gegensatz zu von älteren Büchern und Filmen geprägten Vorstellungen - offen und modern wirkt. Die Psychiatrie und auch die betroffenen Menschen werden in ein besseres Licht gerückt.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.