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Juti
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Insgesamt 785 Bewertungen
Bewertung vom 11.01.2020
Die Vermessung der Welt
Kehlmann, Daniel

Die Vermessung der Welt


ausgezeichnet

Ein moderner Klassiker

Dieser Welterfolg wird dieses Jahr 15. Und von meinem Nachttisch verschwindet ein Buch, das ich immer schon mal lesen wollte.

Kehlmann hat mit diesem Werk ein neues Genre geschaffen: Den ironisierenden historischen Roman. Im ganzen Text geht es nicht um eine historische Darstellung wie es gewesen sein könnte, der Autor schreibt auf Pointe und das gelingt.

Die beiden Wissenschaftler des 18. und 19. Jahrhundert werden komisch dargestellt, weil sie Dinge machen, die in ihrer Zeit unüblich sind. Während Humboldt mit Frauen nichts anfangen kann, kann Gauß ohne sie nicht leben. Die Biographen beider werden in Brennpunkten erleuchtet, wobei die durchaus witzige Südamerikareise Humboldts ausführlicher ist. Im Kontrast dazu wird gegen Ende des Buches auch noch von Humboldts Russlandreise erzählt, bei der unser Held keine Schritt mehr alleine machen darf und deswegen auf Messungen verzichten muss.

Rahmenhandlung ist ihr Treffen in Berlin, wobei der Autor hier Eugens erzwungene Ausreise nach Nordamerika erdichtet. Historisch ist aber die schlechte Beziehung zwischen Gauß und seinem Sohn Eugen. Natürlich 5 Sterne.

Lieblingszitat: Humboldt zitiert Goethe: „Oberhalb aller Berggipfel sei es still, in den Bäumen kein Wind zu fühlen, auch die Vögel seien ruhig, und bald werde man tot sein.“ (S.128)

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.01.2020
Wütendes Wetter
Otto, Friederike

Wütendes Wetter


gut

Klimamodellwahrscheinlichkeit

Auch mit gewissen Fachkenntnisse hätte mich ein Buch interessiert, dass die Folgen der Klimaveränderung an den Folgen für den Menschen zeigt. So beschreibt dieses Buch zwar, dass Hurrikan Harvey in drei Tagen in Houston über 1.000mm Regen hinterlassen hat und dass mit einem solchen Extremereignis nun alle 9.000 Jahre zu rechnen ist, aber die Konsequenzen für die Bewohner lässt es weg.

Der Autorin geht es darum, die Öffentlichkeit für die Attributsforschung zu gewinnen, die einem Wetterereignis zuordnet, wie wahrscheinlicher es durch die Klimaveränderung geworden ist. Zwei Drittel aller Extremereignisse sind durch den Klimawandel wahrscheinlicher geworden, etwa Hitzewellen in Europa, ein Drittel nicht wie z.B. das Elbhochwasser.

Die Wahrscheinlichkeit ist aber eine ziemlich abstrakte Größe, die nur Versicherungen hilft oder wie die Autorin gegen Ende schreibt auch juristisch. Selbst wenn mehrfach erklärt wird, dass eine Zunahme um 30% bedeutet, dass ein Ereignis, dass früher alle 3 Jahre nun alle 2 Jahre stattfindet, dann bleibt die Vorstellung davon doch abstrakt.

Ich hätte es besser gefunden, wenn die Autorin ein Extremniederschlagsereignis und eine Hitzewelle von Anfang bis Ende ausführlich besprochen hatte und wie sich das Ereignis durch den Klimawandel verschärft hat.
Gegen Ende des Buches wird mein Wunsch teilweise erfüllt, als über die Hungersteine in der Elbe geschrieben wird, die nur bei Extremniedrigwasser zum Vorschein kommen und eine schlechte Ernte bedeuten. Auch die Nachricht, dass ein englischer Drittligist wegen Hochwasser sein Stadion 50 Tage nicht benutzten konnte, fand ich interessant.

Neu für mich war, dass durch den Niedergang der Industrie in den 90er Jahren und der dadurch sauberen Luft die Extremwerte der Temperatur in Osteuropa schlagartig gestiegen sind.

Mich interessiert nicht, wo Wissenschaftler Kaffee trinken und wo sie überall hinfliegen. Eher hätte mich ein Wort darüber gefreut, ob es sinnvoll ist, dass Jahr für Jahr von Klimakonferenz zu Klimakonferenz gejettet wird auf Kosten der Umwelt.
Ob das Gender* im Sachbuch sinnvoll ist, muss die Autorin selbst wissen. Durch die große Schrift lässt es sich trotzdem schnell lesen.

Als die Autorin von Zeitreihen sprach, fragte ich mich, ob sie das Buch über Klimageschichte von Glaser kennt. Da fiel mir auf, dass in den Anmerkungen zwar viele Quellen genannt werden, aber ein Literaturverzeichnis im eigentlichen Sinn fehlt. Glaser schreibt übrigens mit vielen historischen Beispielen.

Bei allem für und wider sind 3 Sterne genau richtig.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.01.2020
Die Politische Ökonomie des Populismus
Manow, Philip

Die Politische Ökonomie des Populismus


gut

Die Professoren-Dampfwalze

Ein Mathematiker hätte dieses Buch wie folgt geschrieben:

Satz: Während in Südeuropa der Populismus von links kommt und sich gegen den freien Handel und die Austeritätspolitik wendet, der die einheimische, auf dem Weltmarkt nicht wettbewerbsfähige Wirtschaft gefährdet, herrscht in Nord- und Mitteleuropa ein rechter Populismus, der sich gegen Fluchtmigration wendet, die nach Meinung der Insider den Sozialstaat gefährdet. In West- und Osteuropa fürchtet der rechte Populismus mehr den Kampf um Arbeitsplätze im Niedriglohnsektor, der in Nord- und Mitteleuropa geringere Bedeutung hat.

Korollar: Die Wähler der AfD bei der Bundeswahl 2017 sind vorwiegend Arbeitskräfte, die Angst haben, ihren Status zu verlieren.
Beweis: Wahlanalysen, Arbeitsmarktanalysen, Regionalstatistiken

Definition: Deprivation bezeichnet allgemein den Zustand der Entbehrung, des Entzuges, des Verlustes oder der Isolation von etwas Vertrautem sowie das Gefühl einer Benachteiligung, also:
Wo der Anteil der AfD-Wähler groß ist, ist auch die Deprivation groß.

Korollar: Der Brexit ist durch europäische Binnenwanderung aus Osteuropa in den britischen Arbeitsmarkt mitverursacht worden, gerade in den Verliererregionen der Globalisierung. Dies ist ein Beispiel für den EU-kritischen Populismus.


Jetzt fragt sich der geehrte Leser, wieso das Buch auf 177 Seiten ausgewalzt wird.
Der Autor ist eben Professor der Politikwissenschaft und nicht der Mathematik. Die ersten 25 Seiten sind ein Vorwort als längere Inhaltsangabe. Im zweiten Kapitel zeigt der Autor, dass er die Bücher seiner Kollegen gelesen hat, in der Hoffnung, dass sie auch seines lesen. Dann folgen ständige Wiederholungen, wirklich schöne, klare Schaubilder werden vertextet und die Methodik wird mehrfach erklärt. Nicht zuletzt ist der Anhang fast 40 Seiten lang.

Weil die Thesen des Autors plausibel sind, vergebe ich 3 Sterne. Einzig die These, dass Merkels Migrationspolitik 2015 dazu diente, Griechenland in der EU zu halten, halte ich für abwegig, weil das Ende der Balkanroute zum Lager in Idomeni in Griechenland führte, also genau das Szenario das laut Manow vermieden werden sollte. Ich bin sicher, dass für 95% der Leser meine Inhaltsangabe reicht und sie das Büchlein nicht mehr lesen müssen.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 05.01.2020
Miroloi
Köhler, Karen

Miroloi


ausgezeichnet

Nachhallender Inselroman über Werte

Merkwürdig ist dieses Buch im übertragenen und wörtlichen Sinne des ersten Wortes. Eine Frau, die Ich-Erzählerin, wird auf einer vielleicht griechischen Insel, aber die Nationalität wird an keiner Stelle verraten als Findelkind auf einer Insel vom Betvater aufgezogen, der auch Oberhaupt der dortigen Religion ist. Die Religion hat ein heiliges Buch, die Khorabel (Mischung aus Koran, Thora und Bibel). Sie enthält 30 Gesetze, eins davon verbietet es Frauen lesen zu lernen.

Überhaupt ist die Religion und die Inseln mit ihren Bewohnern frauenfeindlich oder auch fremdenfeindlich, denn die Ich-Erzählerin kommt wohl nicht vom Dorf der Insel. Sie wird von Angriffen aus dem Dorf vom Betvater geschützt.

Ich habe bei „Druckfrisch“ das Interview mit der Autorin gehört. Der Atheist Denis Scheck meinte die Religion komme schlecht weg, was die Autorin aber relativierte, weil sie sagte, dass die Religion immerhin Gemeinschaft biete.

Mir kam Ministerpräsident Kretschmann in den Sinn, der konservativ so definierte: „Lieber mit dem Alten, soweit es irgend geht, und mit dem Neuen nur, soweit es muss.“
So gibt es in der Welt außerhalb der Insel schon Fernseher und Waschmaschinen, die Insel nimmt am Wirtschaftsleben der Außenwelt nicht richtig teil. Ihr Geld ist dort nichts wert. Während auf der Insel noch über das Pro und Contra debattiert wird, ob es Strom geben soll, stirbt der Betvater. Der Nachfolger ist ein Fundamentalist, lehnt Neuerungen ab, ja fordert sogar die Verhüllung der Frauen. Für die Ich-Erzählerin beginnt eine Schreckensherrschaft. Sie denkt immer wieder an Flucht, lernt sogar schwimmen. Mehr verrate ich nicht.


Mag ja sein, dass die Handlung Wiederholungen enthält. Aber da streng chronologisch erzählt wird und das Leben nun mal Wiederholungen hat, habe ich mich nicht gelangweilt. Gelungen fand ich erfrischenden Elemente wie Aufzählungen gelernte Worte, eine Liebeserklärung mit einem Wort, ja sogar leere Seiten. Ein sehr gute Debüt. 5 Sterne zum Jahresanfang.

Bewertung vom 31.12.2019
Morgen ist da
Kermani, Navid

Morgen ist da


ausgezeichnet

Gedanken eines grünen Intellektuellen

Meine Überschrift ist natürlich Interpretation. An keiner Stelle schreibt Kermani, dass er grün wählt, aber seine Gedanken passen sehr gut zu dieser Partei. Und er ist seiner Zeit voraus.

Das Buch enthält seine Reden, die er bis auf die letzte nicht frei gehalten hat, in chronologischer Folge, angefangen mit dem Lob des iranischen Schriftstellerverband, der im Land Reformen fordert, obwohl schon vor 20 Jahren gehalten.

Die nächste Rede spendet den Eltern eines toten ungeborenen Kindes Trost. Dann folgt eine Rede zur westlichen Leitkultur in der auch von Deutschland wünscht, dass es seinen Lehrerinnen erlaubt, Kopfttücher zu tragen. Im Vorwort schreibt er selbst, dass er dies hätte entfalten müssen. Sehr gut gefällt mir, wie er schildert, dass er in der Heimatstadt seiner Eltern Isfahan ein Haus kauft, um es vor den Abriss zu retten und nicht um möglichst viel Miete zu kassieren.
Im Dialog mit der islamischen Welt erklärt er, wie der Islam den Bezug zur Literatur verlor und fundamentalistischer wurde.

Schon bei der Wiedereröffnung des Burgtheater 2005 spricht er über die Migration von Afrika nach Europa. 2011 redet er bereits über die Krise der Europäischen Union.
Zur Eröffnung der Lessingtage wundert er sich, dass in einem aufgeklärten Land wie Deutschland die rechtsradikalen Terroranschläge des NSU so lange verborgen blieben. Zum Heinrich Kleist Preis redet er über die Liebe wegen Kleists Pethesilea.

Am meisten beeindruckt hat mich die Rede vor der Goethe-Gesellschaft, in der er darlegt, dass Atem holen eine religiöse Erfahrung ist. Dank seines Studiums der Islamwissenschaften, dank seiner Kenntnis verschiedener Religionen hat Kermani eine Fähigkeit, die viele Grünen nicht haben. Er kann sagen, warum unser Tun einen Sinn hat. Bezeichnend für sein Denken ist das, was er über Goethe sagt: „Wo andere aus der Religion eine Weltanschauung ableiten, leitet Goethe umgekehrt aus der Anschauung der Welt religiöse Grundsätze ab“ (137f). Bei den Talismane im Diwan zeigt Goethe sogar Koranwissen. Im folgenden Kapitel hält Kermani eine Laudatio über eine Islamwissenschaftlerin.

Dann redet er im Bundestag zum Verfassungstag und zitiert eine erstaunliche Umfrage: „Befragt, wann es Deutschland am besten ergangen sei, entschieden sich noch 1951 in einer repräsentativen Umfrage 45% der Deutschen für das Kaiserreich, 7% für die Weimarer Republik, 42% für die Zeit des Nationalsozialismus und nur 2% für die Bundesrepublik.“ (161)

Es folgt eine Rede über Kurzbiographien seiner Bekannten, dann eine Rede für die Terroropfer in Paris und beim Friedenspreis über eine syrischen Jesuitenpater, der Andersgläubige beschützte, bevor er selbst entführt wurde. Auch Rupert Neudeck war Kermanis Freund. Anschließend denkt er darüber nach, warum die Amerikaner Trump gewählt haben.

Mangels Platz kann ich nicht alle Reden erwähnen, das Judentum während der Nazi-Zeit ist nochmal Thema, die Feindesliebe, der Tod seines Vaters, Norbert Lammert und der Kreisauer Kreis, der 1.FC Köln, die Psychologie von Jung, wachsendem Populismus und zu guter letzt den Tod seines türkischen Buchhändler, der bei einer Bestellung häufig sagte: „ Morgen ist da!“


Selbst wenn mich nicht alle Reden gleichviel interessierten, so kann ich das Jahr 2019 mit gutem Gewissen mit der Bestnote abschließen, also 5 Sterne.

Bewertung vom 30.12.2019
Der Eispapst
Messner, Reinhold

Der Eispapst


weniger gut

Unzählige Wiederholungen

Wenn ich vom Autor Reinhold Messner höre, dann erwarte ich ein Buch über Bergsteigen, über das Klettern, das Suchen der Route, aufziehende Gewitter und Biwak im Fels.

Das gibt es auch in diesem Buch in zwei Kapiteln. Der Rest geht darüber, warum Welzenbach nicht 1932 zum Nanga Parbat reisen durfte und wie Bauer Welzenbach ausbootete. Nachdem schon geklärt wird, dass an der Katastrophe am Nanga Parbat niemand Schuld hatte, wird der Sachverhalt noch zwei weitere Male aufgerollt.

Der Autor hat in jungen Jahren bessere Bücher geschrieben. Das über 400 Seiten lange Buch kann problemlos auf 100 Seiten gekürzt werden. Deswegen nur 2 Sterne.

Bewertung vom 14.12.2019
Schutzzone
Bossong, Nora

Schutzzone


gut

Der goldene Käfig

Die Ich-Erzählerin Mira arbeitet für die UN in Genf. Sie will Frieden in Zypern vermitteln. Vorher hat sie in den 90er Jahren eine Friedensmission in Ruanda begleitet.

Petra Morsbachs hat in ihrem Roman "Justizpalast" vom Leben einer Richterin erzählt, auch mit ihren privaten Liebesgeschichten. Ihr ist es gelungen, Nora Bossong nicht.

Der Hauptgrund für das Scheitern dieses Buches liegt nicht an den Bandwurmsätzen, sondern an der Überforderung des Lesens. Wenn eine UN-Mitarbeiterin beruflich von einem Ort zum andern wechselt, dann wäre eine chronologische Handlungsabfolge unbedingt notwendig gewesen, was Wedma schon schreibt. UN-Geschichte, wie deren Gründung, das Scheitern des Völkerbunds außer bei den Aland-Inseln hätten in Rückblenden erzählt werden können.

Der Leser weiß gar nicht, wann Mira bei der UN anfing. Noch schwerer wiegt, dass die Liebesgeschichte mit Milan, oder sollte man besser von Beziehung reden, langweilt, was aber eben auch an der fehlenden Chronologie liegt. Und warum wird die wörtliche Rede nicht markiert?

Dennoch hat der Roman auch Stärken, etwa die Rolle der UN in Afrika, die Beschreibung eines Völkermords, der anfangs so nicht genannt werden darf.
Die UN-Mitarbeiter bezeichnen sich als Expats , weil sie „ex patria“ keine Heimat haben. Sie leben wie Flüchtlinge, sind aber deutlich reicher. Sie suchen im Privaten nach festen Beziehungen und leiden weit mehr, wenn die Beziehung zerbricht.

Besonders gefallen hat mir das Nilpferdspiel. Die Expats schreiben in ihren Berichten Dinge, die eigentlich nichts mit dem Geschehen zu tun haben und hoffen, dass dieses Nilpferd in möglichst vielen Ebenen nicht aus dem Bericht gestrichen wird. Ein schönes Beispiel hat mir leider gefehlt, wenn man von den Nilpferden beim Völkermord in Ruanda absieht.

Ich wollte ja nur 2 Sterne vergeben, da das Buch Seiten hat, die man raus reißen sollte. Aber angesichts der aufgezählten positiven Punkte und weil Weihnachten naht, gebe ich 3 Sterne.

Zitat: „Es sind nicht die Augen [..] oder die Seelen oder die Zugehörigkeiten, es ist der Krieg, der Mörder macht. (256)

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.12.2019
Als Deutschland noch nicht Deutschland war
Preisendörfer, Bruno

Als Deutschland noch nicht Deutschland war


sehr gut

Interessant wie Kermani, mühsam wie Kermani

Fleißig ist der Autor. Mit Hilfe der Literatur, gemeint ist keinesfalls nur der Geheimrat, reisen wir durch die Goethezeit. Er hat ein eigenes Genre erfunden. Beschrieben wird keine Person, sondern die Zeit. Von 1749 bis 1832 lebte er. Über 80 Jahre erleben wir wie die Zeit der Aufklärung das Leben veränderte.

Angefangen vom Reisen über die Häuser, die Kleidung, das Essen, ja nicht einmal die Bettgeschichten lässt er aus. Wer sich für den Alltag interessiert, der kommt um dieses Buch nicht herum.

Schön wäre aber, wenn der Autor weniger Listen zitieren würde. Überhaupt ist das Lesen mühsam. Die Sternchen mit den Verweisen zu anderen Kapiteln gefielen mir schon in der Lutherzeit nicht.

Dennoch gefiel mir dieses Buch besser und erhält folglich 4 Sterne.

Zitat: „Überhaupt sollte der Gatte im eigenen Haus seinen Mann stehen, statt in anderen Häusern bloß damit zu prahlen. Der öffentlich herumschäkernde Geck zittere, wenn „seine Gattin sich mit Zärtlichkeit im Bette zu ihm hinschmieget; der Angstschweiß bricht ihm aus, er zappelt wie ein Frosch, den man auf die Luftpumpe setzt; - wie dankt er dem Himmel, wenn er seine Frau wieder aufstehnen sieht! Sie hängt freilich den Kopf und seufzt!“ (381f)

Bewertung vom 04.12.2019
Klare, lichte Zukunft
Mason, Paul

Klare, lichte Zukunft


sehr gut

Das Ende des Neoliberalismus

Wie fast jedes Sachbuch enthält auch dieses Themen, die mich mehr oder weniger interessieren.
Gut gefällt mir die historische Entwicklung des kriselnden Neoliberalismus. Finanzkrise (als man noch dachte Komplexität schützt vor dem Zusammenbruch), Eurokrise, Brexit und die Wahl von Trump sind Vorboten eines neuen Zeitalters, dem Ende des Neoliberalismus. Begonnen hat er Ende der 70er mit der Wahl Thatchers und Reagans, er setzte sich fort dem Niedergang von Labour und Sozialdemokratie, und zeigt immer absurdere Auswüchse, beispielsweise die Realitätsverbiegung durch Trump und dem Wachstum rechter Parteien.

Der Autor formuliert 5 Thesen:
1. In der Wirtschaftspolitik geht es nicht mehr um den Menschen. (65)
2. Linke Anlternativen zum Neoliberalismus werden unweigerlich scheitern, weil die Finanzmärkte sie stets sabotieren werden. (66) Beispiel: Mitterrand in den 80ern.
3. Die Privatisierung ist gut für alle, selbst, wenn sie unsere Welt zerstört. (66)
4. Wirtschaftliche Unabhängigkeit ist unmöglich. (67) Beispiel: Mexico und IWF in den 80ern.
5. Selbst Länder, die sich zum Wohlfahrtsstaat bekennen, werden neoliberale Methoden anwenden müssen, um ihn zu verwirklichen. (68)

Der Fall des Ostblocks spielte der Wirtschaft in die Hände, weil der Ostblock nur 15% zum globalen Handeln beitrug, aber die Zahl der auszubeutenden Arbeitskräfte von 1,5 auf 3 Milliarden Menschen verdoppelte (71)

Erstmals gelesen habe ich von der Sinnkrise, die dieses System auslöste. 1996 veröffentlichte Mark Ravenhill das Theaterstück „Shopping and Fucking“ (77), was den Sinn des Neoliberalismus gut zusammenfasst, im Gegensatz zu früheren Zeiten, wo es mit der Religion, der Aufklärung und dem Sozialismus alternative Narrative gab.

Weniger gut gefällt mir, dass er sich sehr lang über rechte Ideen äußert und die Erbsünde nicht richtig verstanden hat.
Besser wird es wieder, wenn der Autor über die Moral einer denkenden Maschine nachdenkt und vier Möglichkeiten zur Wahl stellt: Nutzen, soziale Gerechtigkeit, Eigennutz oder Tugendethik. Mason bevorzugt die Tugend. (203)
Wieder zu lang erscheint mir das Kapitel über den Widerstand gegen den Humanismus. Auch der
Löwenmensch in der Steinzeit und die Nachteile von Marx, der die Frauenfrage und Ausbeutung des Planeten übersehen hat, sind nicht so spannend.

Angesichts des wirklichen Mehrwerts in den guten Kapitel kann ich dem Buch dennoch guten Gewissens 4 Sterne geben.