Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 939 Bewertungen
Bewertung vom 23.08.2018
Auf die sanfte Tour
Freeman, Castle

Auf die sanfte Tour


gut

Ein Pageturner

Mit «Auf die sanfte Tour» ist im vergangenen Jahr der zweite Roman von Castle Freeman auf Deutsch erschienen, auch hier bildet der US-Staat Vermont die Kulisse für das Geschehen. Der seit mehr als vier Jahrzehnten dort ansässige Schriftsteller fand in der von Ahornwäldern geprägten Landschaft und insbesondere in ihrer provinziellen Bevölkerung sein literarisches Thema. Carl Zuckmayer hat dazu geschrieben: «Daher eignet diesen Leuten ein Zug von Starrsinn und Hartnäckigkeit, auch von Verkauztheit, der Europäern leichter verständlich ist als vielen Amerikanern. Ein sonderlich abgeschlossenes Volk mit einem schrulligen, oft etwas maliziösen Humor, nonkonformistisch bis in die Knochen, eigenwillig bis zur Eigenbrötelei, doch niemals ohne die natürliche Bindung in der Gemeinde, die selbstverständliche, phrasenlose Bereitschaft zu gegenseitiger Hilfe». Genau dieser so meisterhaft beschriebene Menschenschlag prägt nun auch wieder den vorliegenden Roman, er ist nichts weniger als dessen narratives Elixier.

Der Titel verweist auf die Arbeitsweise von Lucian Wing, Sheriff einer kleinen Stadt. Im dritten Kapitel heißt es unter der Überschrift «Sheriffsein» dazu: «Der Sheriff vertritt das Gesetz gegenüber Leuten, bei denen das eigentlich nicht nötig ist. Er setzt das Gesetz bei Leuten durch, die nicht – oder nicht sehr – dagegen verstoßen. Sheriffsein ist ungefähr so, als wäre man Rausschmeißer beim Wohltätigkeitsball: Wenn alles normal läuft, hat man nicht viel zu tun». Mit dieser Auffassung, den Dingen also ihren Lauf zu lassen und möglichst wenig zu intervenieren, wird er seit vielen Wahlperioden immer wieder neu zum Sheriff gewählt, die Leute wissen sehr gut, was sie an ihm haben. Und so trägt dieser unkonventionelle Sheriff niemals seine Uniform, benutzt statt des Polizeiautos seinen privaten Pickup und ist immer ohne Dienstwaffe unterwegs.

Auf die sanfte Tour reagiert er auch, als in ein - der Russenmafia gehörendes - pompöses Landhaus eingebrochen und der Tresor entwendet wird. Sheriff Wing weiß mit einem Blick, wer der Täter ist, er erkennt den stadtbekannten Tagedieb an seiner brachialen Vorgehensweise. Seine Sympathie gilt aber eher dem «Superboy» genannten, jungen Kleinkriminellen Sean als den Opfern des Diebstahls, die als äußerst brutale russische Mafiosi den ihm so wichtigen Frieden in seinem County nachhaltig stören. Dieser amerikanische Roman ist ein typischer Pageturner, er lebt also von der Spannung, wie diese böse Geschichte mit den mafiosen Russen und dem kleinkriminellen Frauenliebling «Superboy» denn wohl ausgeht, soviel aber darf spoilerfrei verraten werden, es kommt zu einer geradezu salomonischen Lösung.

Neben der sorgsam aufgebauten Spannung des Plots sorgt insbesondere die zielgerichtet knappe Sprache, in welcher aus Sicht des Sheriffs in Ich-Form erzählt wird, für den eigentlichen Lesegenuss. Zum einen sind da die köstlichen Dialoge der hinterwäldlerischen, knorrigen Figuren, in ihrer Einsilbigkeit kaum zu übertreffen, zum anderen aber auch die Lakonie des Autors, mit der er fast beiläufig, journalistisch knapp, ja geradezu lässig erzählt. Hinter der unübersehbaren Ironie schimmert dabei immer ein durchaus lebenskluger, alltagsphilosophischer Hintergrund mit durch, der manchmal beißende Witz ist niemals substanz- oder gar geistlos. Die überwiegend männlichen Figuren sind treffend beschrieben, sie wirken allesamt sympathisch, die wenigen Frauen in dieser macho-perspektivischen Geschichte sind als Ehefrau, Geliebte oder Betthäschen eher unscheinbare Randfiguren, oft in zwei dieser urweiblichen Daseinsvarianten gleichzeitig. Vor meinem inneren Auge, im Kopfkino also, habe ich als Sheriff immer John Wayne agieren sehen, eine unwillkürliche Assoziation, die darauf hindeutet, dass man hier durchaus von einem modernen Western sprechen könnte, auch wenn die Handlung im Osten der USA angesiedelt ist. Man wird jedenfalls bestens unterhalten in diesem ebenso herben wie weisen, amüsanten Roman.

Bewertung vom 21.08.2018
Weshalb die Herren Seesterne tragen
Weidenholzer, Anna

Weshalb die Herren Seesterne tragen


schlecht

Die Angst vor dem Nichts

Schon der kryptische Titel «Weshalb die Herren Seesterne tragen» von Anna Weidenholzers zweitem Roman weist auf eine seltsame Geschichte hin, die junge österreichische Autorin thematisiert darin nämlich die Idee vom «Bruttonationalglück». Mit der im asiatischen Königreich Bhutan entwickelten Methode zur Messung des Lebensstandards wird nicht nur nach ökonomischen, sondern auch nach soziologischen, humanistischen und psychologischen Maßstäben bewertet. Kann man Glück erforschen, fragt man sich als staunender Leser. Natürlich nicht, lautet die Antwort, nachdem man diesen 2016 für die Longlist des Deutschen Buchpreises nominierten Roman gelesen hat.

Als Hobby-Glücksforscher bricht der pensionierte Lehrer Karl Hellmann eines Tages in ein trostloses österreichisches Kaff auf, das er nach dem Zufallsprinzip ausgesucht hat, um die Einwohner seines Landes zu ihrem Glücksempfinden zu befragen. Er quartiert sich als einziger Gast in einem schäbigen Hotel des schneelosen Skiortes ein, das von einer namenlos bleibenden Frau bewirtschaftet wird. Von diesem Quartier aus startet er mit seinen Interviews, für die er an das Original aus Bhutan angelehnte Fragebogen ausgearbeitet hat, deren Beantwortung etwa drei Stunden dauert. Fast immer aber läuft die Befragung dabei in die falsche Richtung, gerät das eigentliche Thema in den Hintergrund, ändert er spontan die Fragen ab, weil sie sich als kaum zu beantworten erweisen. Und häufig ist er plötzlich selbst der Befragte, die Leute interessieren sich für den Sonderling, der da in ihrem Kaff so ganz unvermutet aufgetaucht ist. Seine Probanden werden anonym befragt, er will ihre Namen auch selber nicht wissen und führt sie ausschließlich unter verschlüsselten Kürzeln. Da trifft dann zum Beispiel M1 bei einer dörflichen Veranstaltung mit F3 zusammen in dieser seltsamen Erzählung.

Unterbrochen wird die fragmentarisch in zahlreiche kleinste Erzählschnipsel aufgeteilte Geschichte durch häufige Telefonate mit Margit, der Frau des schrulligen Helden, die an der Vorbereitung seiner Mission mutmaßlich beteiligt war. Von deren unangekündigter, plötzlicher Realisierung aber, die einer Flucht gleicht, scheint sie überrascht und wenig begeistert zu sein. Als sie seine Anrufe nicht mehr entgegen nimmt, erfolgt der tägliche Bericht an Margit rein monologisch. Dieser Ehekonflikt auf Telefonebene spiegelt narrativ die Befürchtungen und Ängste der Menschen, denen der kauzige Held begegnet, wobei all diese Kontakte oberflächlich bleiben und keine Emotionen auslösen. Dem Glück als Sehnsuchtsziel wird hier lakonisch das Existenzielle des menschlichen Daseins gegenüber gestellt, und auch wenn man als Leser den Don Quijote-artigen Protagonisten hilflos durch die Geschichte stolpern sieht, berichtet die Story gleichwohl knallhart, trocken und illusionslos vom Kampf zwischen Innen- und Außenwelt des überforderten Helden.

In ihrem ebenso ereignisarmen wie elegischen Roman spürt die Autorin mit traurigem Ernst dem Glück als ungelöstem Rätsel der Menschheit nach, und immer wieder fügt sie dabei Rückblicke auf die scheinbar problematische Ehe des tragischen Helden ein. Auffallend ist das massenhaft Insignifikante, das in die Geschichte einfließt, alles bleibt unbestimmt, wird in der Schwebe gehalten, und allzu oft mäandert die Geschichte auch ins erzählerische Nichts. Die titelgebende Seestern-Anekdote ist ein markantes Beispiel dafür: Auf einem Foto sind einige Männer zu sehen, die alle einen Seestern am Jackett befestigt haben. Ein Einheimischer sei vor vielen Jahren nach Übersee ausgewandert, wird erklärt, und habe seinen alten Freunden später die Seesterne zugesendet. Die Freunde hätten ihm dann zum Dank das Foto geschickt, auf dem sie die Seesterne als Schmuck tragen. Alles klar soweit? Es gibt im gesamten Roman keinerlei Bezug zu dieser Anekdote! Das Glück, oder besser das Nichts und die Angst davor thematisch aufzubereiten ist hier meines Erachtens gründlich misslungen.

Bewertung vom 16.08.2018
Früchte des Zorns
Steinbeck, John

Früchte des Zorns


sehr gut

Mit sozialem Scharfsinn

Aus dem Werk des US-amerikanischen Schriftstellers John Steinbeck hebt sich der sozialkritische Roman «Früchte des Zorns» von 1939 auch heute noch besonders hervor. Er hat damit den Arbeitsmigranten in der Zeit der Großen Depression allgemein und den verächtlich als «Okies» bezeichneten, entwurzelten Wanderarbeitern aus Oklahoma, die damals in Massen nach Kalifornien auf Arbeitssuche gezogen sind, im Besonderen ein Denkmal gesetzt. Das Nobelkomitee lobte den Autor 1962 «für seine einmalige realistische und phantasievolle Erzählkunst, gekennzeichnet durch mitfühlenden Humor und sozialen Scharfsinn». Dieser Roman ist auch heute noch Schullektüre in vielen englischsprachigen Ländern, er wird mit seinem Realismus und der beeindruckenden Detailfülle auch als willkommene historische Quelle angesehen.

Auslöser der hunderttausendfachen Armutsmigration war neben jahrelanger Dürre vor allem die «Urbarmachung» der Prärie in den dann später als «Dust Bowl» bezeichneten Gebieten in der Mitte der USA. Die Prärie musste dem Baumwoll- und Weizenanbau weichen, das fehlende Präriegras ließ den Boden schnell austrocknen, verheerende Sandstürme waren die Folge, die «Staubschüssel» entstand. Und so schildert Steinbeck denn auch gleich im ersten der dreißig Kapitel des Romans sehr eindringlich diese von Menschen verursachte Katastrophe, bei der die Farmer ihr Land verloren haben, weil sie wegen der ausfallenden Ernten ihre Kredite bei den Banken nicht mehr bedienen konnten. Auf Handzetteln wurden Erntehelfer für die riesigen Obstplantagen in Kalifornien gesucht, es gab wilde Gerüchte über den Garten Eden dort, und so macht sich denn auch die Familie Joad aus Oklahoma auf den Weg, nachdem die Traktoren der neuen Großgrundbesitzer bis dicht an ihr Haus heran alles umgepflügt hatten und im Begriff waren, nun auch noch das armselige Farmhaus zu zerstören, weil es der modernen, hocheffizienten Bewirtschaftung im Wege steht.

«Route 66» als legendärer, auch aus der Musik bekannter Highway ist über weite Teile der Geschichte Schauplatz des Geschehens. Die entwurzelte Großfamilie, die sich aus drei Generationen zusammensetzt, erlebt auf der beschwerlichen Reise mit einer zum Lastwagen umgebauten, klapprigen Limousine immer wieder herbe Rückschläge und beschämende Demütigungen. Das wenige Geld wird erschreckend knapp, ihr Auto kann nur noch notdürftig repariert werden, wie Wegelagerer beuten Händler am Wegesrand die durchreisenden, auf Hilfe angewiesenen Okies immer wieder schamlos aus, und auch die Sheriffs machen ihnen das Leben zur Hölle. Das alles ändert sich leider nicht, als sie mit ihren letzten Dollars in Kalifornien ankommen, denn Arbeit gibt es dort keine für sie. Und wenn doch, dann zu Löhnen, die wegen des Überangebots von Arbeitskräften nicht mal für das Essen ausreichen, ein perfides, staatlich gestütztes Ausbeutungssystem hat sich etabliert, ermöglicht durch eine der marxschen entsprechende, agrarische Reservearmee.

In all dieser Not zeichnet Steinbeck seine durchweg sympathischen Figuren als einfältige, skurrile, ungebildete Menschen, die gleichwohl aufrichtig durchs Leben gehen und stets ihre Würde wahren, allem Unbill zum Trotz. Berührend ist dabei auch der fast schon archaische Wille der Familie, zusammenzuhalten, komme was da wolle. «Früchte des Zorns» wird als realistischer Roman chronologisch erzählt, wobei der dialogreichen Geschichte der Familie auf ihrer Reise ins vermeintliche El Dorado jeweils ein zusammenfassendes Kapitel politischen, ökonomischen oder soziologischen Inhalts vorangestellt wird, das in diesem realistischen Roman als kontemplativ wirkender Hintergrund dient. Der dickleibige Roman ist ein großartiges Zeitzeugnis mit einer Botschaft, die nichts an Aktualität eingebüßt hat über all die Jahre, denn die darin angeprangerten kapitalistischen Mechanismen sind im Prinzip zeitlos, also unverändert auch heute noch wirksam. Ein hervorragender Roman des vergangenen Jahrhunderts!

Bewertung vom 08.08.2018
Alles, was ist
Salter, James

Alles, was ist


weniger gut

Allenfalls Tütensuppe

Mit «Alles, was ist» hat der damals 88jährige US-amerikanische Schriftsteller James Salter nach 34jähriger Romanabstinenz 2013 seinen letzten Roman veröffentlicht. Der Autor gehört zu den eher unbekannten literarischen Größen seines Landes, bewundert nur in Kreisen namhafter amerikanischer Kollegen. In Deutschland wurde er recht spät mit seinem erst 1998 erschienen Roman «Lichtjahre» von 1975 bekannt, blieb aber auch bei uns eher ein Geheimtipp, trotz höchstem Lob unseres vorgeblich ja meinungsbildenden Feuilletons. Ein verkanntes Genie also, auch mit seinem hier vorliegenden Alterswerk?

Der zweiteilig aufgebaute Roman startet im kurzen ersten Kapitel furios, auf nur einem Dutzend Seiten unter dem Titel «Tagesanbruch» wird vom Inferno des kriegsentscheidenden Angriffs auf Okinawa erzählt. Die folgenden dreißig Kapitel beginnen mit der Rückkehr des Lieutenant Philip Bowman aus dem Pazifikkrieg nach New York, wo er zunächst anfängt, Biologie zu studieren, um dann aber nach beruflichen Umwegen als Lektor bei einem renommierten Verlag anzuheuern. Er führt ein abwechslungsreiches Leben, lernt viele interessante Leute kennen und heiratet die schöne Vivian, seine Traumfrau. Aber die eheliche Idylle trügt, in der quirligen Weltstadt mit ihrem grenzenlos scheinenden Glückspotential lauern viele Gefahren, werden manche Blütenträume brutal zerstört.

James Salter erzählt, mit dem wechselvollen Schicksal seines Protagonisten als Handlungsfaden, vom heftig entbrannten Kampf der Geschlechter in der Nachkriegszeit bis etwa in die achtziger Jahre hinein, genauere chronologische Markierungen im Text fehlen. Die Ehe als Bindung auf Lebenszeit hat ausgedient, mehrfach verheiratet gewesen zu sein ist die Regel, Trennungen und Seitensprünge sind an der Tagesordnung, viele Beziehungen werden von vornherein nur auf Zeit eingegangen. Mit einem völlig ausufernden Figurenensemble um den Romanhelden herum werden sämtliche Spielarten dieses Geschlechterkampfes und der sie begleitenden sexuellen Abenteuer ebenso thematisiert wie die beruflichen, finanziellen und familiären Umstände der unzähligen Randfiguren. Dabei erfährt der Leser zwar nicht «Alles, was ist», aber doch vieles, nämlich was im bürgerlichen Leben der Amerikaner ist in dieser Epoche. Wobei darüber nur fragmentarisch berichtet wird und auch nicht in chronologischer Folge, sondern viele Haken schlagend, narrativ fehlt es also an Stringenz, was das Lesen ziemlich mühsam macht. Erhöhte Aufmerksamkeit ist also unabdingbar für das Verständnis. Auffallend ist die distanzierte, fast schon lakonische Erzählweise des Autors, geradezu lässig und völlig emotionslos wird da, Schicksal für Schicksal aufgefächert, eine einseitig lustorientierte Gesellschaft vorgeführt, deren Perspektiv- und Illusionslosigkeit geradezu beklemmend wirkt.

Der Protagonist ist ein «Mann ohne Eigenschaften», die Unbehaustheit seines Lebens ist unmittelbare Folge des erlittenen Kriegstraumas. Die reichlich vorhandenen Sexszenen werden sprachlich wohl unfreiwillig komisch beschrieben, wodurch völlig verquere, lachhafte Bilder erzeugt werden. Was letztendlich bei einem Roman, in dem eindeutig ja speziell das Triebleben seines Protagonisten im Mittelpunkt steht, ein ziemliches Manko bedeutet. Aber Autoren aus dem prüden Amerika tun sich in dieser Hinsicht ja alle schwer, Salter-spezifisch gibt es kein Davor und Danach, alles ist hier aufs Animalische reduziert. Die dauernden Wiederholungen der wegen Entfremdung, Untreue, Verrat, Bankrott oder Trunksucht gescheiterten Beziehungen sind sehr ermüdend für den Leser. James Salter, der biografisch in manchem seiner Romanfigur ähnelt, hat mit diesem Roman einen Abgesang auf den alternden Mann geliefert, dessen Leben nur ereignislos dahin geplätschert ist, ein Menetekel der Vergeblichkeit. Was das Genie anbelangt, literarisch ist dieser Roman mit seinen vielen Klischees, um einen Vergleich aus der Kulinarik heran zu ziehen, allenfalls Tütensuppe.

Bewertung vom 06.08.2018
Das Phantom des Alexander Wolf
Gasdanow, Gaito

Das Phantom des Alexander Wolf


sehr gut

Eine literarische Entdeckung

Mit dem Erscheinen seines Romans «Das Phantom des Alexander Wolf» wurde der russische Exil-Schriftsteller Gaito Gasdanow 2012 erstmals einem breiteren deutschen Publikum bekannt und als literarische Entdeckung gefeiert. Im Original wurde das Buch 1948 in einem russischen Exilverlag in New York publiziert, sein Autor wird der russischen Seitenlinie der «Lost Generation» im Paris der zwanziger Jahre zugerechnet. Wegen den in vielen seiner Prosa-Werke thematisierten Sinnfragen des menschlichen Daseins wird er zuweilen als «russischer Camus» bezeichnet.

«Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe» lautet der erste Satz des Romans, schon das Titelbild mit dem weißen Pferd weist auf dieses zutiefst prägende Ereignis hin. Der namenlose Ich-Erzähler hatte als blutjunger Weißgardist in den Wirren des russischen Bürgerkriegs einen ihn bedrohenden Reiter auf einem prächtigen Schimmel erschossen. Fünfzehn Jahre später, im Jahre 1936, stößt der Exilant, der sich in Paris recht und schlecht als Journalist durchschlägt, auf das Buch eines englischen Schriftstellers namens Alexander Wolf. Und findet darin eine Erzählung, in der sein traumatisches Erlebnis in allen Details beschrieben ist. Weil es damals aber keine Zeugen gab, kann nach menschlichem Ermessen der Autor dieses Buches nur sein vermeintliches Opfer sein. Seine diesbezüglichen Nachforschungen bleiben jedoch ergebnislos, er scheint ein Phantom zu suchen, das quälende Trauma des Protagonisten ist nunmehr durch eine nicht minder quälende Leere ersetzt. Bei einem Boxkampf lernt er die schöne, rätselhafte Jelena kennen, die Frau seines Lebens, die auch bald seine Geliebte wird. Und trifft später dann doch noch zufällig auf einen älteren, ehemaligen russischen Soldaten, der Alexander Wolf kennt, ihn vertraulich Sascha nennt und die Beiden miteinander bekannt machen will. Obwohl der Roman kein Krimi ist und die Handlung hier literarisch eher unwichtig erscheint, ist dennoch ein nicht unbedeutender Spannungsbogen vorhanden, weshalb sich weitere Angaben zum Plot verbieten.

Trotz Liebeswirren und überraschenden Thrillerelementen, dieser Roman ist im Wesentlichen dem Existentialismus gewidmet, Tod und Liebe, hier eng ineinander verwoben, bilden dabei seine dominanten Themen. Diese kontemplative Prosa, in weiten Teilen als Bewusstseinsstrom des Erzählers angelegt, ruft durch dessen tiefgründige Reflexionen immer wieder zwangsläufig daraus folgende Assoziationen beim Leser herauf, regt zu eigenem Weiterdenken über die menschliche Existenz an, - auch die eigene! Gasdanows feinsinnige Erzählung über Identität und Moral ist fragmentarisch angelegt, erst aus den Figuren, Szenen und Ereignissen ergibt sich letztendlich ein puzzleartiges Gesamtbild der hier behandelten, philosophischen Thematik. Dabei ist das Einfühlungsvermögen des Autors in die komplizierte Seele des Menschen wirklich bewundernswert. Er widersetzt sich dem Gedanken der Absurdität bei den französischen Existentialisten, - Camus’ «Die Pest» erschien im gleichen Jahr -, sein Protagonist nämlich akzeptiert die scheinbare Ausweglosigkeit seines Schicksals keineswegs.

Der Zufall spielt im Plot dieses klug komponierten und gekonnt erzählten, feinfühligen Romans eine gewichtige Rolle, zuweilen wird er aber von Gasdanow als narratives Element auch deutlich überstrapaziert. Und die moralische Integrität des Ich-Erzählers erscheint mir ebenfalls ziemlich idealisiert. Aber vielleicht sind es ja genau diese idealisierten Romanhelden, die einem noch lange im Gedächtnis haften, - hier allerdings namenlos bleibend. Eher hinterlässt da schon die äußerst zwielichtige Nebenfigur des Alexander Wolf eine Erinnerungsspur. «Das Leben vergeht, hinterlässt keine Spur, Millionen Menschen verschwinden und niemand erinnert sich an sie», heißt es im Roman an einer Stelle. Wie wahr!

Bewertung vom 02.08.2018
Nachricht an alle
Kumpfmüller, Michael

Nachricht an alle


gut

Wer Visionen hat

Unter dem Titel «Nachricht an alle» ist von Michael Kumpfmüller im Jahre 2008 ein politischer Zeitroman erschienen, in jenem leider vernachlässigten Genre der Literatur also, in dem Koeppens «Das Treibhaus» von 1953 Maßstäbe gesetzt hat. An die nun weder der vorjährige Buchpreisgewinner Robert Menasse mit «Die Hauptstadt» heranreicht noch Kumpfmüller, dessen Eingangskapitel Großes erwarten lässt. Schon der Romantitel deutet eine dramatische Szenerie an, und gleich im einleitenden Kapitel sendet Anisha, die Tochter des Protagonisten, aus einem abstürzenden Flugzeug per SMS eine letzte Nachricht in die Welt hinaus. «Es hat eine Explosion gegeben. Es ist entsetzlich. Wir stürzen ab. Betet für mich. Ich liebe Euch».

Mit diesem Paukenschlag beginnt die Geschichte des Politikers Selden, Innenminister eines nicht genannten westeuropäischen Staates, der mitten in der Nacht diese Horror-Nachricht erhält, ein in unserer handynärrischen Moderne durchaus realer Albtraum. Der Staat ist in einer schweren Krise, die nicht nur durch erbitterte Streiks und soziale Unruhen, sondern auch durch vermehrte Terrorakte ausgelöst wurde. Dieses Szenario deckt eine bedrückende Ohnmacht der Politik auf, weist gar auf ihr bevorstehendes Ende hin in einer unregierbar gewordenen, bedingungslos ökonomiehörigen Gesellschaft. Der Roman ist eine Zustandsbeschreibung jener abgehobenen politischen Klasse, die nach dem prophetischen Engelmann/Wallraff-Buchtitel «Ihr da oben, Wir da unten» fernab der Bevölkerung in anderen Sphären schwebt.

Das Private, der Protagonist als Mensch, tritt in diesem Roman weitgehend in den Hintergrund. Außer seiner gescheiterten Ehe mit einer Malerin und der ebenfalls verheirateten Geliebten in den USA, die er nur stundenweise im Hotel zum Koitus trifft, ehe beide wieder ihren diversen Terminen hinterher jagen, erfährt man fast nichts. Auch ein Techtelmechtel mit der zwanzig Jahre jüngeren Journalistin Hannah, mit der er schließlich sogar einen Sohn namens Mattis hat, zeigt Selden nicht in einem menschlicheren Licht, er wirkt seltsam seelenlos. Das Politische nimmt einen breiten Raum ein, entwickelt sich aber meist nicht aus dem Geschehen heraus, sondern wird kontemplativ in endlosen Reflexionen des Autors selbst und in den Gedankenströmen seines Helden erzählt. Dazwischen werden Kapitel eingeblendet, in denen die anarchistischen Gegner des Establishments in ihrem ohnmächtigen Bemühen gezeigt werden, die Verhältnisse durch Randale und Terror zu ändern. Die Gewalt der jugendlichen Terroristen gipfelt in einer wachrüttelnden Selbstverbrennung eines der Mädchen und in einem dem Lafontaine-Attentat nachempfundenen Angriff auf den Minister. Albern aber wird es zum Schluss: Im letzten, in der Zukunft angesiedelten Kapitel hat der inzwischen achtzigjährige Selden, der in einem der Waldsiedlung Wandlitz, - ehedem privilegierter Wohnsitz der DDR-Bonzen -, ähnelnden, streng bewachten Prominentenghetto als Pensionär lebt, seinen Sohn Mattis und dessen junge Freundin zu Besuch. Pointe: die Freundin heißt Anisha, - so ein Zufall aber auch!

Zweifellos wird in den politischen Aspekten dieses modernen Gesellschaftsromans viel Wahres ausgesprochen, die ätzende Kritik an den sozialen Verhältnissen ist in allen Punkten nachvollziehbar und durchaus berechtigt. Kumpfmüller findet dafür überaus schlagkräftige Formulierungen in einer wortstarken, wohltuend stimmigen Sprache. Sein Anliegen sei, hat er im Interview erklärt, den Leser des Romans aus seiner Dulderrolle herauszulocken, er müsse seine Ressentiments ablegen, es gehe schließlich um uns alle. Fakten und Fiktion in Kombination, das mündet hier aber leider nicht in Erkenntnis, der Roman scheitert letztendlich an seiner Thematik, an der Komplexität des Politischen nämlich, wo alles mit allem zusammenhängt. Und wo man nicht agiert, sondern allenfalls reagiert. «Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen» lautet ja ernüchternd das berühmte, nassforsche Zitat von Helmut Schmidt.

Bewertung vom 29.07.2018
Pathos und Schwalbe
Mayröcker, Friederike

Pathos und Schwalbe


weniger gut

Begreifen als Glücksfall

Die vor allem durch ihre Lyrik bekannte österreichische Schriftstellerin Friederike Mayröcker perfektioniert in ihren wenigen Prosawerken die narrative Form der Autofiktion, vermischt also Autobiografie mit Fiktion. Ihr jüngst erschienener Band «Pathos und Schwalbe», dem als Prosa keine auch nur annähernd zutreffende Gattungsbezeichnung entspricht, ist nach Bekunden der 94jährigen Autorin das Ergebnis eines dreimonatigen Klinikaufenthaltes, während dem sie nicht literarisch arbeiten konnte. Glücklich zurückgekehrt in ihre «Schreibhöhle», - ein stimmiger Begriff für die Arbeitsumgebung in ihrer Wiener Wohnung -, hat sie bis in den Herbst 2017 hinein ihre Eindrücke aus der Krankenstube in ihrer sehr speziellen Prosaform beschrieben. Stützen konnte sie sich dabei auf eine reichhaltige Sammlung von kurzen Notizen zum Drama des hohen Alters, das Bürde und Gnade zugleich sei. Wobei, um das vorwegzuschicken, die avantgardistische Autorin keine auch nur im Entferntesten handlungsbasierte Erzählform benutzt, alles ist atmosphärisch, alles ist Imagination!

In Friederike Mayröckers melancholischer Prosa triumphiert das Umgebende, das Bühnenbild also ersetzt komplett das Geschehen auf der Bühne selbst. Ihre experimentellen Texte entstünden, wie sie bekannt hat, aus den Bildern in ihrem Kopf, in die sie sich so lange hinein steigere, bis daraus Sprache geworden sei. «ich verkoste die Sprache : schmeckt köstlich» wird sie im Klappentext zitiert, eine «halluzinatorische Prosa», wie sie es in ihrem Buch formuliert. Ein rationaler Zugriff darauf ist bei einer derartigen Arbeitsweise natürlich nicht möglich, der Autorin zu folgen setzt also beim Leser ein kompromissloses Hineinsteigern und Mitempfinden in ihren poetischen Text voraus, die Bereitschaft mithin, ihre Empfindungen, Einfälle, Träume, Gedankengespinste und Erinnerungen nachzuempfinden, ein Gefühl zudem für die subtile Essenz aus ihren diversen Begegnungen und Gesprächen zu entwickeln.

Ihr Handwerkszeug dafür ist ein alle Konventionen und Regeln der Orthografie missachtender, eigensinniger Schreibstil. Der in sämtlichen Details original zitierte, nachfolgende Absatz ist ein Beispiel dafür: «wenn morgen schönes Wetter ist, so der französische Germanist, werden sie die Pyrenäen sehen im Westen, der angebrochene Tag begann mit sanftem Regen ich sah die Pyrenäen : ein Phantom, etc. (Wache auf mit ‹Gänsefüszchen› auf der Zunge), veilchenweise, und glitzernd dein Auge als bewahre es Edelsteine, die ‹Ästhetik des Unscheinbaren›, Schneeglöckchen-Hals und lege dir Rosmarin und Reseden auf deine Brust DA MIR ZUM HEULEN da du mir diese Waldküsse usw., bin von feurigen Blüten befallen. Die Nordkette im Fenster, Radiator wie Botero, nun ja die Raucherbaracke stand in spezieller Bestrahlung, meine Versehrtheit, alle Blumen so leichfüszig, sage ich, (Abgesang : wünsche mir dasz du , wenn meine unsterblich Seele auf Wanderschaft nicht denken muszt ‹endlich erlöst› sondern dasz du denken kannst ‹war doch eine schöne Zeit› usw.)»

Ein solch assoziationsreicher Sprachstrom mit seiner verqueren Syntax setzt in seinem Bemühen, das thematisch kaum zu Fassende fühlbar zu machen, eine schon fast überirdische Sensibilität ein, darin einer Windharfe ähnlich, die selbst noch bei feinstem Lufthauch nicht vorhersehbare, gleichwohl aber himmlische Töne erzeugt. Durch Schwingungen werden hier Resonanzen erzeugt, die Tiefverborgenes freizulegen imstande sind. Ob das beim Leser funktioniert, bleibt fraglich, die Rezeption im Feuilleton war ehrfürchtig wohlwollend. - die Leser, soweit man das an den Rezensionen der Buchversender ablesen kann, ignorieren das Buch bisher allerdings völlig. Wenn man sich erst mal eingelesen hat, - was hier leider besonders lange dauert -, ist der Text, in kleinen Dosen genossen, durchaus bereichernd, was die Bilder anbelangt, die er erzeugt. Das gilt auch dann, wenn man, was keineswegs gegen den Leser spricht, vieles aber doch - kaum begreifen kann.

Bewertung vom 25.07.2018
Lug und Trug und Rat und Streben
Bovenschen, Silvia

Lug und Trug und Rat und Streben


sehr gut

Geistreiches Vermächtnis

«Ich liebe mein Buch, aber ich kann es nicht empfehlen», so sibyllinisch äußerte sich die kürzlich verstorbene Schriftstellerin Silvia Bovenschen über ihren jetzt posthum erschienenen Roman «Lug & Trug & Rat & Streben». Sie habe sich darin alles erlaubt, warnte die Autorin, er würde von Leuten handeln, die in dieser Zeit leben und merkwürdige Erfahrungen machen. Die feministische 68erin gehört zweifellos zu den wenigen Intellektuellen der deutschen Gegenwartsliteratur, sie negiert in ihren Romanen althergebrachte Erzählkonventionen, profiliert sich stattdessen als streitbare Kämpferin für eine Dichtkunst im wahrsten Sinne des Wortes.

In einer alten Villa, die Alma und ihr Schwager Bärentrost geerbt haben, lebt völlig zurückgezogen der Schwager mit einer Haushälterin im Souterrain, Almas geschiedene Nichte Agnes bewohnt - für eine nur symbolische Miete - das Erdgeschoss. Über ihr wohnt die Tante selbst, das Dachgeschoß wiederum ist unbewohnt, es steht voller alter Möbel und Gerümpel, Theaterrequisiten gleich. Alle drei sind ausgesprochene Exzentriker, die unbeirrt ihre wunderlichen Marotten pflegen und sich am liebsten aus dem Wege gehen. Alma führt allenfalls kurz angebundene Telefonate mit ihrem Schwager, wenn es wegen der Villa etwas zu besprechen gibt, ansonsten reden sie kaum ein Wort miteinander. Als Almas altkluger, zwölfjähriger Enkel Max zu Besuch kommt, erweist sich der Dachboden als Kinderparadies, in dem es phantastische Schätze zu entdecken gibt. Schließlich gesellt sich noch trickreich Mr. Odino, ein Ex-Verehrer von Alma, zu den Bewohnern der Villa und bezieht eine winzige Kammer im Dachgeschoß, obwohl Alma ihn zunächst brüsk abweist, als er nach Jahrzehnten so plötzlich auftaucht.

Silvia Bovenschen beschreibt ihre schrulligen Figuren nicht, sie entwickeln sich vielmehr aus ihrem Tun heraus und aus dem, was sie miteinander reden. Agnes, eine attraktive Frau Anfang vierzig, wird von ihrem Liebhaber zur Heirat gedrängt, fürchtet sich jedoch davor, mit Frederic «in seinem gnadenlos durchgestylten Penthouse» zu wohnen. Alma, Bärentrost und Mr. Odino, Geisteswissenschaftler alle drei, sind hoch gebildete, gleichwohl skurrile Alte, deren köstliche Dispute untereinander wie auch die dozierenden Gespräche mit dem wissbegierigen Max eine Fülle von witzigen Reflexionen enthalten, ergänzt um eine gehörige Portion beißender Gesellschaftskritik. Zudem notiert Bärentrost als Misanthrop mancherlei Kritisches in sein Notizbuch: «Der digitale Fanatismus. Weitaus schlimmer als der Eifer spätmittelalterlicher Dogmatiker. Weltweite Geistesdeformationen. Die Zurichtung der Körper und der Hirne. Eine eindimensional dressierte Menschheit. Allgemeine Denkverpflichtungen. Mentale Selbstauslieferung an die Interessen der Netzgiganten. Am nervigsten sind die Humordeformationen. Ja, es gibt ihn, den neoliberalen Humor. Dauerironisierung ohne kritische Distanz». Im furiosen Mittelteil des Romans reisen Max, Alma und Mr. Odino nach Mispelheim, ein in vielem an Hieronymus Bosch erinnernder, kurioser Höllentrip, und auch Freund Hein schleicht am Ende um die alte Villa.

Dieser Roman wirft mit sentimentalem Unterton Fragen der Menschheit auf und erweist sich dabei als ein Füllhorn kurioser, geistreicher Einfälle, er gibt aber auch witzige und kluge Antworten. Das Ganze wird geradezu spielerisch erzählt in einer turbulenten Geschichte mit märchenhaften Zügen, wobei drei allegorische Figuren, - an den Chor des altgriechischen Dramas erinnernd -, als Stimmen aus dem Off fungieren. All das fordert in seiner Rätselhaftigkeit den Leser zum Mitdenken heraus und entlarvt ganz nebenbei eulenspiegelartig unsere wohlstandsverwahrloste Spaßgesellschaft als zutiefst dekadent und verlogen. Mit ihren zügellosen Phantasien hat uns die Autorin in diesem Roman ihr literarisches Vermächtnis hinterlassen, als parodistisches Verwirrspiel ein ebenso ästhetisches wie intellektuelles Leseabenteuer, das man sehr wohl empfehlen kann.

Bewertung vom 23.07.2018
Eine Schachtel Streichhölzer
Baker, Nicholson

Eine Schachtel Streichhölzer


gut

Sternstunde des Insignifikanten

Wer den Plot für einen wichtigen, unverzichtbaren Bestandteil einer Erzählung hält, dem beweist Nicholson Baker mit seinem Kurzroman «Eine Schachtel Streichhölzer» das Gegenteil. Eine Handlung ist nämlich nicht mal rudimentär vorhanden, die Erzählung des US-amerikanischen Schriftstellers beschränkt sich einzig und allein auf Reflexionen seines Protagonisten, die ohne erkennbaren Zusammenhang aneinandergereiht sind. Und wie nicht anders zu erwarten polarisiert ein solcher Roman die Leserschaft, die Hälfte ist begeistert, die andere Hälfte entsetzt, Zwischentöne fehlen völlig, und auch das Feuilleton ist uneins oder ignoriert das Buch ganz einfach.

«Guten Morgen, es ist … Uhr». Mit diesen Worten begrüßt der Protagonist in jedem der 33 Kapitel seinen Leser, variiert wird nur die Uhrzeit, die jedoch immer «in aller Herrgotts Frühe» liegt. Emmett ist notorischer Frühaufsteher vom Schlaftypus Lerche, der uns eine plausible Antwort schuldig bleibt, warum er denn zu solch unchristlichen Zeiten aus den Federn steigt. Den 33 Kapiteln entsprechen 33 Tage, die mutmaßlich aufeinanderfolgen, - nur dass es Winter ist und kalt, soviel ist immerhin gewiss. Und deshalb ist das Feuermachen im Kamin auch die erste der allmorgendlichen Verrichtungen, die 33 Streichhölzer zum Anzünden sind auf dem Titelblatt zu sehen. Anschließend folgt dann Kaffeekochen und einen Apfel essen, ersatzweise eine Birne, erfahren wir. Dieser Morgenzauber findet in völliger Dunkelheit statt, um die noch schlafende Familie nicht aufzuwecken, und so hat er sich schließlich auch ganz unmännlich zum Sitzpinkler entwickelt, das morgendliche Zielen nach Gehör nämlich hat sich als unzuverlässige Methode erwiesen. Emmett ist ein 44jähriger Lektor medizinischer Lehrbücher, verheiratet, zwei Kinder, mit einem Jahresgehalt von siebzigtausend Dollar, von dem er gut leben kann, die Familie wohnt im eigenen Haus in Oldfield an der Ostküste. Es gibt dort auch eine Katze, eine Ente sowie die Ameise Fides, einzige Überlebende einer ganzen Ameisenfarm, die Tochter Phoebe zum dreijährigen Geburtstag geschenkt bekommen hat. Emmett ist jedenfalls mit sich und dem Leben zufrieden, ein gutmütiger, harmloser Zeitgenosse.

Diese allmorgendlichen Rituale verknüpfen assoziativ sämtliche Kapitel miteinander, wobei die Tagträume des Helden deren Inhalte bilden. All das ist unspektakulär Alltägliches, welches sich hier zu einer profanen Denklawine entwickelt. Nicholson Baker erweist sich als ein genialer Beschreibungskünstler, der sich an oberflächlich banal erscheinenden Dingen und Begebenheiten abarbeitet und den Leser mit dem verstörenden Stoizismus seines Protagonisten verblüfft. Das Banale jedoch erweist sich bei genauem Hinsehen als wunderbar stimmige Expedition in die Tiefe des Existentiellen, ins Innerste der Gefühle, ein narrativ als einfältige Erzählung kaschierter Bewusstseinsstrom des Protagonisten. Er ist ein Feuer hütender Alltagsphilosoph, dessen metaphysische Unbedarftheit fast schon sensationell ist, der als Figur jedenfalls ein Unikat darstellt in der heutigen Literatur. Und Vieles, was da gedacht, phantasiert und spintisiert wird erinnert einen an eigene Gedanken und Gefühle. Als harmloser, gutmütiger Tagträumer bringt Emmett einen ganz neuen, fast schon überirdischen Glanz in die Trivialität des Alltags, in die von uns allen so gern verleugneten Niederungen unseres Ichs.

Dieser Roman, der so selbstbewusst den vermeintlichen Zwang zur Handlung ignoriert, ist ein Triumph der Gelassenheit, immer besonnen, heiter und ironisch dem Profanen auf der Spur. In einem metaphernreichen Parcours durch die Gefilde gedanklicher Niederungen wird dabei, zuweilen fast unbemerkt, die US-amerikanische Gesellschaft gehörig kritisiert. Am Ende dieses Parforceritts ist die Streichholzschachtel jedenfalls leer und der Leser, wenn er denn in sich selbst hineinzuhören vermag, dem signifikant Insignifikanten deutlich näher als zu Beginn dieser heiteren Lektüre.

Bewertung vom 20.07.2018
Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke / Alle Toten fliegen hoch Bd.3
Meyerhoff, Joachim

Ach, diese Lücke, diese entsetzliche Lücke / Alle Toten fliegen hoch Bd.3


gut

Hinter den Kulissen

Was auf der Bühne anfing, das Erzählen aus seinem Leben, hat der Schauspieler Joachim Meyerhoff als autobiografischen Zyklus unter dem Titel «Alle Toten fliegen hoch» ebenso erfolgreich in Literatur verwandelt. «Ach diese Lücke, diese entsetzliche Lücke», als Titel dem «Werther» von Goethe entlehnt, behandelt als dritter, alleinstehend lesbarer Roman der Reihe die Jahre seiner Ausbildung zum Schauspieler an der Otto-Falckenberg-Schule in München.

Ein Entwicklungsroman also, bei dem die moderne, progressive Ausbildung in der berühmten Mimen-Schmiede konterkariert wird vom konservativen Stillstand in der großbürgerlichen Villa seiner Großeltern am Nymphenburger Park, bei denen er während dieser Zeit wohnt. Er hatte sich eher spaßeshalber beworben und besteht die Aufnahmeprüfung als einer von neun unter vielen hundert Aspiranten, trotz hanebüchener Pannen übrigens und zu seiner eigenen Verblüffung, - aber auch zu der des Lesers! In zwei Strängen wird abwechselnd von dieser chaotischen Zeit als Schauspiel-Eleve erzählt, dem diametral sein wohlgeordnetes Privatleben mit den über alles geliebten Großeltern gegenübersteht. Der Großvater ist emeritierter Professor der Philosophie, ein berühmter Wissenschaftler, der schon mal Post vom Vatikan bekommt, die Großmutter eine von der Bühne her bekannte Schauspielerin, die auch im TV bei Derrick zu sehen war. Beide sind liebenswerte Originale mit einem ritualisierten Lebensrhythmus, in dem der Alkohol, in verschiedenster Form genossen, eine gewichtige Rolle spielt. Wobei der junge Mann so kräftig mithält, dass er beim Zubettgehen gelegentlich ebenfalls den Treppenlift der hochbetagten Großeltern benutzt nach einer allzu lustvollen Zecherei, - bei der aber stets die Contenance gewahrt bleibt. Die chaotische, ja hirnrissig erscheinende Ausbildung wird im zweiten Handlungsstrang als eine mentale Tortur dargestellt, immer wieder fragt sich der überforderte Held entnervt, warum er sich das alles antut, ob er nicht besser aussteigt und Medizin studiert. «Was, Großvater, frage ich, ist denn der Kern der Schauspielerei?» […] «Der Moment. Jeder einzelne Augenblick, würde ich sagen. Dem Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze. Aber er hat den Augenblick».

Mit feinem Gespür für das Menschliche beschreibt der Autor die Schar seiner zumeist skurrilen Figuren, von den kauzigen Großeltern bis hin zur Schauspielschule mit ihren durchgeknallten Lehrern und den oft recht merkwürdig erscheinenden Mitschülern. Auffallend ist dabei, dass dieser gutaussehende, athletische junge Mann Anfang zwanzig all die Zeit über keine Freundin hat, eine geradezu mönchische Lebensweise. Dazu passt denn auch eine Szene, in der ein Filmregisseur die greise Großmutter für eine Verfilmung der Erzählung «Ein Ring» von Paul Heyse gewinnen will, die mit einem wundervollen Satz endet: «Höre mein Liebkind, das Schlimmste ist, wenn man bereut, dass man nichts zu bereuen hat». Wie auch immer, das Asketische - der Figur und des gesamten Romans - bleibt rätselhaft.

Die «Lücke» im Titel dieser Geschichte bezieht sich auf den Verlust geliebter Menschen. Mit großer Empathie erzählt der Autor zunächst vom Tod des jung gestorbenen Bruders, von dem seines geliebten Vaters und schließlich von dem der Großeltern, deren beider Lebenslicht ohne Schmerzen und Todeskampf friedlich verloschen ist. Die gleichwohl ironische Distanz des Erzählers lässt den Leser bei aller Betroffenheit zuweilen auch schmunzeln, zu komisch sind doch manche der deutlich fiktional überhöhten Szenen. Dazu gehört denn auch dieses ständige Neben-sich-stehen des Helden, die permanente Selbstanalyse. Geradezu nervig fand ich die narrative Langatmigkeit, das träge Dahinfließen des Plots, das dominant Anekdotische zudem mit seiner extremen Ausführlichkeit. Ohne Zweifel sind aber der Blick hinter die Kulissen, - hier ja mal im wahrsten Sinne des Wortes -, und die allzumenschliche Atmosphäre in der alten Villa bereichernd und unterhaltend zugleich.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.