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hamburger.lesemaus
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Bargfeld-Stegen

Bewertungen

Insgesamt 507 Bewertungen
Bewertung vom 28.07.2025
Frauen im Sanatorium
Prizkau, Anna

Frauen im Sanatorium


sehr gut

FRAUEN IM SANATORIUM
Anna Prizkau

Darf ich heute mal anders beginnen – und zwar mit dem Fazit?
Danke

Fazit:
Selten hat mich ein Buch so zwiegespalten fühlen lassen wie das Debüt von Anna Prizkau.
Wie kann etwas so zart und schön daherkommen - das Cover, die Sprache – und gleichzeitig so brutal und schonungslos sein? Unsere Protagonistin war mir so unfassbar unsympathisch, und doch hing ich an ihren Worten wie eine Süchtige an der Nadel.
Erzählte Märchen enden hier in Albträumen.
Aber ist das Leben immer fair? Und tut es nicht auch mal gut, von denen zu lesen, deren Realität nicht aussieht wie ein Bilderbuch?

Anna wird nach einem traumatischen Ereignis in ein Sanatorium eingewiesen.
Dort trifft sie auf ganz unterschiedliche Menschen, die eines gemeinsam haben: Sie brauchen Hilfe.
Wir begleiten Anna in den Kurpark, an den See, zu einem blassen Flamingo namens Pepik, und lauschen ihren Geschichten zwischen Therapiesitzungen und fadem Kantinenessen.
Sie beobachtet, hört zu, erzählt – von Marija, die so stolz auf ihre Tochter ist, es ihr aber nie zeigen kann und sie diese ausschließlich kritisiert.
Von Elif, die sich lieber Geschichten ausdenkt, als die Wahrheit zu erzählen.
Und von Katharina, einer Soldatin, die ihre Wahrheiten in Wodka und Wein ertränkt.

Kein Wohlfühlbuch – aber läuft das Leben immer nach Plan?
Sehr lesenswert.
3½/5

Bewertung vom 25.07.2025
Sunbirds
Slocombe, Penelope

Sunbirds


ausgezeichnet

„Ich habe vergessen, wer ich war, bevor ich Mutter wurde, und jetzt weiß ich nicht, wie ich aufhören soll, eine zu sein. (S. 180)

SUNBIRDS
Penelope Slocombe

Annes Sohn Tarron ist seit sieben Jahren in Indien spurlos verschwunden. Damals verließ er sein Hotel ohne Pass, ohne Schuhe und ohne Geld – seither fehlt jede Spur. Während Vater Robert die Hoffnung längst aufgegeben hat und nach Schottland zurückgekehrt ist, kann Anne nicht loslassen. Seit drei Jahren lebt sie in Indien, verteilt Flugblätter und zeigt Reisenden das Foto ihres Sohnes – in der Hoffnung, dass ihn jemand gesehen hat.
Als Elvie, die über dreißig Jahre lang in Indien als verschollen galt, nach Schottland zurückkehrt und die Hinterlassenschaften ihrer verstorbenen Eltern durchsieht, stößt sie auf einen alten Zeitungsartikel über den vermissten Tarron. Daraufhin nimmt sie Kontakt zur Autorin des Artikels auf – Esther, Tarrons ältere Cousine –, um ihr mögliche Hinweise auf seinen Verbleib mitzuteilen. Obwohl Esther ein schwieriges Verhältnis zu Anne und Robert hat, entschließt sie sich, nach Indien zu reisen. Gemeinsam mit Anne folgt sie einer neuen Spur, die sie tief in die Täler und Landschaften des Himalayas führt.

Was für ein wunderschöner, atmosphärischer Roman! Ich hatte das Gefühl, selbst drei Tage in den Bergen des Himalayas verbracht zu haben. Von der ersten Seite an zog mich die Autorin mit ihrer poetischen Sprache und den eindrucksvollen Naturbeschreibungen in den Bann – einzig das Ende empfand ich als etwas überladen (Kritik auf hohem Niveau).

Dass viele junge Menschen in dieser Region vermisst werden, hatte ich schon gehört – doch es ist jedes Mal aufs Neue erschütternd, über individuelle Schicksale zu lesen.

Ein großartiges Buch über Verlust, Vergebung, Neubeginn – und darüber, dass wir unsere Kinder loslassen müssen, damit sie ihren eigenen Weg finden können.

Große Leseempfehlung von mir.
4½/5

Bewertung vom 24.07.2025
Das Geschenk
Schoeters, Gaea

Das Geschenk


ausgezeichnet

DAS GESCHENK
Gaea Schoeters

Bundeskanzler Hans Christian Winkler unterzeichnet ein neues Bundesgesetz, das den Import von Elfenbein ab sofort verbietet. Kurz darauf tauchen mehrere afrikanische Elefanten in der Hauptstadt Berlin auf. Zuerst glaubt man an einen Ausbruch aus dem Zoo – doch bald stellt sich heraus: Der Präsident von Botswana hat Deutschland „als Dankeschön“ für das neue Gesetz 20.000 Elefanten überlassen. Natürlich nicht aus echter Dankbarkeit – sondern eher als ironischer Kommentar darauf, dass sich Deutschland in die inneren Angelegenheiten anderer Länder einmischt.

Denn: Durch das Gesetz werden keine Jagdlizenzen mehr verkauft. Die Folge? Ein unkontrollierbares Wachstum der Elefantenpopulation. Die Tiere fressen Felder leer, die eigentlich dringend zur Versorgung der Bevölkerung gebraucht werden. Der Präsident Botswanas erklärt: Sein Volk hungert.

Und nun? Was soll man in Berlin mit 20.000 Elefanten anfangen? Und viel dringlicher: Was macht man mit deren Ausscheidungen, die drohen, die Hauptstadt zu begraben? Gelangen Phosphate und Nitrate des Dungs etwa ins Grundwasser? Und furzen afrikanische Riesenkühe nicht auch CO₂?

All das bringt Berlin an den Rand einer Krise – und was genau passiert, solltet ihr euch auf keinen Fall entgehen lassen!

Die Idee allein verdient schon 5 ⭐️!
Wie auch im Vorgänger Trophäe greift die Autorin ein brisantes Thema auf und fordert uns dazu auf, einmal die Perspektive zu wechseln und die Kehrseite vermeintlich richtiger Entscheidungen zu betrachten. Schreibstil und Thema ließen mich nur so durch die Seiten fliegen.

Auch wenn ich in der zweiten Hälfte eine Mini-Länge empfunden habe und es mich kurz irritiert hat, dass eine Holländerin über deutsch Politik schreibt, gebe ich unbedingt 5 Lesemäuse und empfehle euch das Buch uneingeschränkt weiter.
5/5

Bewertung vom 23.07.2025
Himmel ohne Ende
Engelmann, Julia

Himmel ohne Ende


ausgezeichnet

HIMMEL OHNE ENDE
Julia Engelmann

Die 15-jährige Charlotte, von allen nur „Charly“ genannt, fühlt sich nicht wohl in ihrem Körper, der noch kein Erwachsener ist und kindlich nie wieder sein wird.
Sie ist zwischen den Welten gefangen, unsicher und suchend.

Ihre beste Freundin Kati hat sich von ihr abgewandt und ghostet sie.
Und obwohl es wehtut, bringt Charly irgendwie Verständnis dafür auf. Denn ihr fehlen oft die Worte – nicht, weil sie keine hätte, im Gegenteil – Ihr Kopf ist voller Gedanken. Aber sie kommen ihr einfach nicht über die Lippen. Nicht bei Kati. Nicht bei anderen. Und auch nicht bei ihrer Mutter.

Immer öfter fragt sie sich, ob sie auch ein Feigling ist – wie ihr Vater, der einfach gegangen ist und den sie trotz allem schmerzlich vermisst.

„[…] Ich fühlte mich steckengeblieben zwischen der, die ich war, und der, die ich nicht schaffte zu werden.“ (S. 64)

Gerade als Charly überlegt, ob Weglaufen eine Lösung wäre, taucht ein neuer Schüler auf: Kornelius. Zum ersten Mal ist da jemand, der sie sieht. Der sie versteht. Der für sie einsteht.
Doch ob diese Freundschaft hält, oder ob Kornelius nur eine kurzzeitige, leuchtende Sonne am Himmel für sie ist, müsst ihr unbedingt selbst herausfinden.

Was für ein berührendes Buch!
In der ersten Hälfte saß eine Träne wie ein stiller Dauergast in meinem Augenwinkel.
Das Buch hat mich tief bewegt – und mich in meine eigene Jugend zurückgeworfen.
Manche Sätze musste ich zweimal lesen, nicht, weil ich sie nicht verstanden hätte, sondern weil sie einfach so schön waren.

Julia Engelmann ist eine Wortkünstlerin.
Das wissen spätestens die 14 Millionen Menschen, die seit 2014 ihr Poetry-Slam-Video „Eines Tages, Baby“ gesehen haben.

Das Ende des Buches ist stark, feinfühlig und kommt ganz ohne Kitsch aus.
Es bleibt keine Frage offen – außer vielleicht: Wann wirst du dieses Buch lesen?


Fazit:
Julia Engelmann jongliert so gekonnt mit Wörtern, wie ich es nie könnte – also lest das Buch unbedingt.
Große Leseempfehlung! Highlight!
5+/5

Bewertung vom 22.07.2025
Schattengrünes Tal
Hauff, Kristina

Schattengrünes Tal


ausgezeichnet

SCHATTENGRÜNES TAL
Kristina Hauff

Lisa lebt mit ihrem Mann im Schwarzwald. Es ist ein neues Gefühl für sie, mit ihm allein zu sein – ohne die Tochter, die sich für ein Jahr im Ausland befindet.
Sie leben fast ein wenig aneinander vorbei. Er ist wortkarg und zieht sich oft in seinen Wald zurück, wo er als Förster arbeitet.
Lisa hingegen lenkt sich mit ihren vielen kleinen Jobs ab. Sie führt die Buchhaltung im Hotel ihres Vaters, singt im Chor und engagiert sich ehrenamtlich in einem Hospiz.

Eines Tages taucht plötzlich eine Frau als Gast im Hotel auf. Sie wirkt verloren und etwas hilflos. Lisa nimmt sich ihrer an und befreundet sich mit ihr.

Schon bald erfährt sie, dass jene Frau – Daniela – frisch getrennt ist, weshalb diese ihre Wohnung verlor und zudem auch noch ihren Job kündigte. Nun hofft sie auf einen Neuanfang im Schwarzwald.
Daniela findet schnell Anschluss in der Gemeinde. Sie begleitet Lisa zu den Chorproben und Lisas Freunde werden rasch zu ihren. Doch plötzlich bemerkt Lisa, dass sich enge Freunde von ihr abwenden. Als schließlich auch ihr Mann zunehmend in Danielas Bann gerät, ahnt Lisa, dass ihre Welt ins Wanken gerät.

Was für ein großartiger Psychothriller! Schon ab der ersten Seite war ich völlig gefesselt. Ich habe mit der Protagonistin Lisa mitgelitten, mitgefühlt und konnte mich sehr gut in sie hineinversetzen.
Besonders gut gefiel mir der Aufbau des Romans: In kurzen, wechselnden Kapiteln kommen verschiedene Figuren zu Wort. Manche Ereignisse werden aus mehreren Perspektiven geschildert – das verleiht der Geschichte eine enorme Intensität.

Erschütternd fand ich, wie leicht Menschen manipulierbar sind und ersetzt werden können – unterstützt durch moderne Technik.

Auch wenn ich das Buch insgesamt großartig fand, gab es einen kleinen Kritikpunkt: Das letzte Drittel wirkte für mich etwas zu schnell erzählt und zwei Details erschienen mir unlogisch (leider kann ich nicht näher darauf eingehen, ohne zu spoilern). Außerdem blieb ein Satz von Margret ungelöst – Jammern auf hohem Niveau. ;)

Fazit:
Ein spannender, fesselnder Roman, den man nicht aus der Hand legen kann. Ganz große Leseempfehlung!
5/5

Bewertung vom 21.07.2025
Die Ferien
Wang, Weike

Die Ferien


sehr gut

DIE FERIEN
Weike Wang

Keru, eine Amerikanerin mit chinesischen Wurzeln, lernt Nate während ihrer Collegezeit kennen.

Ihre Eltern waren einst mit ihr vom chinesischen Festland in die USA emigriert – mit dem Ziel, ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen.
Sie verzichteten auf persönliche Wünsche und Annehmlichkeiten, um Keru ein konzentriertes Studium zu ermöglichen.
Freude oder Leichtigkeit hatten in diesem Lebensentwurf keinen Platz.

Nate stammt aus einfachen Verhältnissen.
Trotz Stipendium muss er einen Studienkredit aufnehmen und nebenbei arbeiten, um seinen Lebensunterhalt zu bestreiten.
Erst nachdem der Kredit beglichen ist, stimmen Kerus Eltern einer Heirat zu – ein Ausdruck ihres Strebens nach Sicherheit und Stabilität.

Heute ist Keru als Unternehmensberaterin beruflich sehr erfolgreich, während Nate verbeamtet an einer Universität arbeitet und ein deutlich geringeres Einkommen erzielt.
Gemeinsam mit ihrem Hund führen sie ein erfülltes Leben – Kinder waren nie Teil ihrer gemeinsamen Lebensplanung, und daran hat sich bis heute nichts geändert.

Für einen vierwöchigen Aufenthalt mieten sie ein Ferienhaus auf Cape Cod und laden zunächst Kerus Eltern, später auch Nates Eltern zu Besuch ein.
Die kulturellen und persönlichen Unterschiede könnten größer kaum sein:
Kerus Eltern zeigen sich ängstlich, tragen aus Angst vor Ansteckung mehrere Masken übereinander und interessieren sich fast ausschließlich für Essen und Fernsehen.
Aktivitäten außerhalb des Hauses lehnen sie ab.
Nates Eltern dagegen wirken betont unkompliziert, neigen politisch zu konservativen Haltungen, sind Trump-Anhänger, Corona-Leugner – und zufrieden mit einem Dosenbier beim Grillen.

In einem Punkt aber sind sich beide Elternpaare erstaunlich einig:
Ihrer Meinung nach ist es höchste Zeit für Enkelkinder.
Diese Erwartungshaltung sorgt jedoch für erhebliche Spannungen.

Auch wenn mir der Zugang zu den beiden Hauptfiguren mitunter schwerfiel, hat mich vieles an diesem Roman überzeugt.
Besonders die Darstellung der asiatischen Eltern ist bemerkenswert gelungen.
Ich lebe seit fast 30 Jahren in Asien – und ja, dieses Verhalten entspricht in vielerlei Hinsicht meiner Beobachtung:
das Tragen mehrerer Masken alleine sitzend im eigenen Auto,
der völlige Verzicht auf persönliche Wünsche zugunsten des einzigen Kindes, das als Investition und Altersvorsorge gilt.

Dass Keru sich bewusst gegen Kinder entscheidet, ist aus Sicht ihrer Eltern ein regelrechtes Scheitern – und das, obwohl es sich „um die erste Generation in Amerika Geborener“ handeln würde.

Besonders eindrucksvoll fand ich auch die schonungslose Darstellung des gesellschaftlichen Drucks, mit dem kinderlose Paare konfrontiert sind.
Die Authentizität dieser Passagen hat mich überzeugt.

Einige Stellen im Buch blieben für mich jedoch unklar;
ich war mir nicht sicher, welche Intention die Autorin an diesen Punkten verfolgte.

Fazit:
Ein kluger, gesellschaftskritischer Roman – stellenweise bewusst überspitzt, aber durchgehend interessant und lesenswert.
4/5

Bewertung vom 13.07.2025
Die Unbehausten
Kingsolver, Barbara

Die Unbehausten


gut

DIE UNBEHAUSTEN
Barbara Kingsolver

Dieses Buch ist ein früherer Roman von Barbara Kingsolver, der im Original bereits 2018 erschienen ist. Nach dem überwältigenden Erfolg von Demon Copperhead wurde er nun ins Deutsche übersetzt.

1870:
Thatcher Greenwood ist Naturkundelehrer mit Leidenschaft – und ein überzeugter Anhänger von Darwins Evolutionslehre. Doch an seiner Schule sind moderne Gedanken unerwünscht. Der Rektor verbietet Experimente und lehnt jede Form wissenschaftlichen Fortschritts ab. Thatcher steht kurz vor der Kündigung.
Auch privat steckt er fest: Die Ehe mit seiner Frau Rose ist lieblos, das Haus, in dem sie mit deren Mutter und Schwester wohnen, verrottet zusehends. Als einziger Verdiener droht ihm alles über dem Kopf zusammenzubrechen.
Nur bei seiner Nachbarin, der Biologin Mary Treat, findet er Verständnis und intellektuelle Verbundenheit.

2020:
Die Journalistin Willa und ihr Mann Iano, Politikwissenschaftler, rutschen in eine handfeste Krise. Nachdem Iano seine feste Stelle verliert und das gemeinsame Haus dadurch praktisch wertlos ist, bleibt ihnen nichts anderes übrig, als in ein geerbtes, einsturzgefährdetes Haus zu ziehen.
Dort leben sie mit dem pflegebedürftigen Schwiegervater – ohne Krankenversicherung, mit Schulden und ohne Perspektive.
Als sich die Freundin ihres Sohnes das Leben nimmt, ziehen auch Sohn und Enkelkind bei ihnen ein. Und als wäre das nicht genug, steht plötzlich auch die rebellische Tochter wieder vor der Tür.

Wie diese beiden Zeitebenen miteinander verknüpft sind, müsst ihr selbst herausfinden.

Barbara Kingsolver legt den Finger auf viele wunde Punkte des amerikanischen Gesellschaftssystems: prekäre Arbeitsverhältnisse, Bildungsungleichheit, fehlende Absicherung sowie mangelndes Gesundheitswesen.
Und doch hat mich der Roman emotional nicht erreicht.
Die Themen sind wichtig, der Stil präzise – aber die Figuren und ihre Geschichten blieben für mich seltsam distanziert.

Die Handlung in der Gegenwart hat mir insgesamt besser gefallen als die im Jahr 1870.
Und doch war es gerade die Ausdrucksweise und das höfliche, beinahe altmodisch-gentlemanhafte Auftreten von Thatcher, das mich beeindruckt hat.
Insgesamt zog sich das Buch für mich aber über weite Strecken – 200 Seiten weniger hätten der Erzählung gutgetan.

Nach Demon Copperhead, einem Buch, das mich tief beeindruckt hat, konnte mich dieses Werk leider nicht überzeugen. Dennoch bleibt Kingsolver für mich eine Autorin, die ich weiterhin lesen möchte.

Fazit:
Relevant und sprachlich solide – aber ohne emotionale Tiefe.
3½/5

Ein interessanter Aspekt am Rande: Die Figur der Mary Treat basiert auf einer realen Person – Kingsolver verknüpft hier geschickt historische Biografie mit Fiktion.

Bewertung vom 10.07.2025
WIR KOMMEN ZURECHT (MP3-Download)
Büsing, Annika

WIR KOMMEN ZURECHT (MP3-Download)


sehr gut

WIR KOMMEN ZURECHT
Annika Büsing

Philipp steht kurz vor dem Abitur. Er ist still, angepasst – einer, der früh gelernt hat, sich zusammenzureißen.
Zuhause läuft alles gut. Zumindest glaubt er das. Und sagt es jedem, der es hören will.
Sein Vater, Chirurg von Beruf, ist eher wortkarg und selten da. Gefühle zeigt er keine – aber er kocht hervorragend. Die neue Partnerin seines Vaters ist okay. Zu jung, um als Ersatzmutter durchzugehen, aber sie macht keinen Stress. Und vor allem: Keine Bauchschmerzen. Die hatte er früher regelmäßig mit seiner Mutter Astrid.
Astrid, die immer wieder in ihren Kaninchenlöchern verschwand. Dann plötzlich wieder auftauchte, für Spaß sorgte, wilde Dinge tat – bis sie sich erneut zurückzog.
Bis sie irgendwann, nach einem Sizilienurlaub, ganz verschwand.

Man kann wohl sagen, dass Astrid ihn geprägt hat. Vielleicht nicht so, wie es eine verlässliche, liebevolle Mutter getan hätte – aber er kommt zurecht.

Annika Büsings neuer Roman erzählt von einem Jugendlichen, dessen Mutter psychisch erkrankt ist. Und davon, wie man weiterlebt – mit Unsicherheit, mit Lücken, mit leisen Schmerzen.
An Philipps Seite: sein bester Freund Lorenz, dessen Mutter – und ein paar Joints, die sie auf dem Friedhof rauchen.

Mir hat der Einblick in Philipps Leben sehr gefallen. Ein sympathischer, glaubwürdiger Protagonist, der einem nah kommt, ohne sich aufzudrängen. Büsings Sprache ist wie gewohnt klar, ruhig und eindringlich.
Ein stiller, unaufgeregter Roman, den ich gerne gelesen und gehört habe. Die Stimme von Shenja Lacher passt wunderbar – ruhig, warm, genau richtig für diesen Text.


Ich empfehle euch dieses Buch bzw. Hörbuch gerne weiter.
4/5

Bewertung vom 08.07.2025
Perlen
Hughes, Siân

Perlen


sehr gut

PERLEN
Siân Hughes

TW: Selbstverletzung, Magersucht

Claire Hughes erzählt in ihrem Roman die Geschichte von Marianne, die im Alter von acht Jahren einen tiefen Verlust erleidet: Ihre Mutter verlässt eines Morgens barfuß das Haus – und kehrt nie zurück. Sie hinterlässt ihren Ehemann Edward, die kleine Tochter Marianne und den gerade erst geborenen Sohn Joe. Fußspuren führen zum nahegelegenen Fluss, doch die Spurensicherung erfolgt nachlässig, die Fotos sind unscharf, und schon am nächsten Tag haben Rinder das Gelände zertrampelt. Die Leiche wird nie gefunden. Ob es sich um einen Suizid handelte oder um ein gewolltes Verschwinden, bleibt für immer ungewiss.
Fortan ist der Vater allein mit den Kindern. Edward ist ein liebevoller, sanfter Mann – doch gezwungen, sich vor allem um das Baby zu kümmern, gerät Marianne zunehmend aus dem Blick. Sie bleibt sich selbst überlassen, schwänzt die Schule, zieht sich zurück und klammert sich an Erinnerungsstücke, Gedichte und Dinge, die sie mit ihrer Mutter verbindet. Als die Familie in ein neues Haus zieht, empfindet Marianne dies als endgültigen Bruch mit der Vergangenheit – als ob auch das letzte Band zur Mutter gekappt wurde.

„Unsere Welt beschränkte sich jetzt auf die Grenzen des neuen Hauses, und ich verkroch mich unter die Bettdecke in meinem falsch riechenden Zimmer, versteckte die falsche Aussicht vor dem Fenster hinter den Vorhängen und bemühte mich, das Essen und das Schlafen und die Gesundheit neu zu lernen. Von allem, was ich nach dem Verschwinden meiner Mutter neu zu lernen hatte, waren diese Dinge sicherlich die schwierigsten.“ (S. 143)

Jahre später, Marianne ist inzwischen 30 und selbst Mutter geworden, holen sie die Erinnerungen wieder ein. Es wird deutlich: Das Trauma aus ihrer Kindheit ist nie verheilt, sondern lebt in ihr weiter – oft unsichtbar, aber stets wirksam.

„Man sollte meinen, ich wäre längst an all das gewöhnt, an die Erinnerungen, die auftauchen, als würde ich immer wieder an derselben Stelle graben, immer wieder die gleichen Tonscherben herauspicken und überall nach Hinweisen suchen." (S. 252)

Claire Hughes ist ein eindringlicher Roman gelungen, der in leiser, poetischer Sprache von Verlust, Erinnerungen und dem langen Schatten ungelöster Trauer erzählt. Die Figuren sind vielschichtig gezeichnet, und die innere Not der Protagonistin wird glaubwürdig und berührend vermittelt.
Ein Buch, das leise daherkommt – aber lange nachhallt.
4/5

Bewertung vom 03.07.2025
Ungebetene Gäste
Gundar-Goshen, Ayelet

Ungebetene Gäste


ausgezeichnet

UNGEBETENE GÄSTE
Ayelet Gundar-Goshen


Naomi und Juval leben mit ihrem eineinhalbjährigen Sohn Uri in einem Hochhaus in Tel Aviv.
Während Juval arbeitet, kümmert sich Naomi um das Kind. Sie ist eine ängstliche Mutter, stillt Uri noch immer – sehr zum Unmut ihres Mannes – und nutzt jede Gelegenheit, ihn hochzunehmen, zu trösten oder zu stillen.

Eines Tages führt ein arabischer Arbeiter Reparaturen am Balkon durch. Naomi begegnet ihm mit Misstrauen und fragt sich, wie ihr Mann es zulassen konnte, dass sie und Uri mit einem Araber allein sind.

Naomi beobachtet den Arbeiter nervös, bietet ihm Kaffee und Plätzchen an – doch Uri, der ihre ungeteilte Aufmerksamkeit gewohnt ist, beginnt zu quengeln.
Dann passiert es: Ein Moment der Unachtsamkeit.
Uri greift nach dem Hammer, den der Arbeiter liegen gelassen hat, und wirft ihn vom Balkon. Der Hammer trifft nicht den Boden, sondern tötet einen Jugendlichen – den Sohn des Kaufmanns gegenüber, der eigentlich in der Schule hätte sein sollen.

Unter dem Balkon bildet sich schnell eine Menschenmenge. Der Verdacht fällt nicht auf Naomi oder Uri, sondern auf den arabischen Arbeiter.
Als die Polizei eintrifft, könnte Naomi die Wahrheit sagen – doch sie schweigt. Der Arbeiter wird festgenommen und kommt in Untersuchungshaft.

Die Lage spitzt sich weiter zu, als der Sohn des Arbeiters nach seinem Vater sucht. Der Mob vermutet sofort einen weiteren Anschlag.
Wie das Drama weitergeht – und ob Naomi den Mut findet, die Wahrheit zu sagen – solltet ihr selbst lesen.

Ich habe bereits Gundar-Goshens Vorgänger "Wo der Wolf lauert" mit großer Begeisterung gelesen – und auch ihr neues Buch steht dem in nichts nach.
Die Autorin hat ein vielschichtiges, politisches Psychodrama geschrieben, ganz ohne erhobenen Zeigefinger oder moralische Belehrung.

Ich durfte das Buch lesen und hören – und wie schon beim letzten Hörbuch hat mich die Stimme von Milena Karas vollkommen in ihren Bann gezogen.

Fazit:
Ein spannendes, hochbrisantes Psychodrama, das ich euch unbedingt empfehlen möchte.
4½|5