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Benutzername: 
MB
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Rösrath

Bewertungen

Insgesamt 415 Bewertungen
Bewertung vom 06.10.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


sehr gut

Weltengang. Richard Powers Versuch, den Weltengang zu beschreiben. Eins steht (schon längst) fest - Richard Powers ist ein großer Autor mit nie nur einfachen Themen. In seinem neuen Roman "Das große Spiel" widmet sich der Autor dem Gang der Welt, dem Werden der Welt. Zunächst lässt er uns wissen und auch teilhaben an seinem Wissen, dass unser Planet dominiert wird durch seine Ozeane und die ungeheure Vielzahl seiner faszinierenden Bewohner, dass das Irdische quasi eine eher untergeordnete Rolle spielt. Gleichwohl sind seine Hauptpersonen nicht die Meeresbewohner, sondern Menschen - die allerdings das Schicksal des Planeten in ihrer Hand haben. Das Leben als Spiel, das immer weiter geht, das ist das Motto der Götter; geschaffen aus einem Ei von Ta'aroa, der aber allein war, weshalb er "weinte vor Langeweile und Einsamkeit, und seine Tränen füllten die Ozeane, die Seen und alle Flüsse der Erde." Man muss schon sehr genau lesen, um sich nicht in der Geschichte zu verlieren. Vier getrennte Handlungsstänge und unterschiedliche Zeiten wechseln einander ab... und am Ende läuft es dann zusammen. Zwei zentrale Themen, die sich durch die Geschichte ziehen - das Überleben mit und in der Natur, dem Meer und das Fortschreiten der Computertechnologie, die Übernahme der Welt durch KI. Ein zentraler Handlungsort ist Makatea, ein kleines Atoll im Pazifik; hier soll eine schwimmende Stadt entstehen, eine neue prototypische Form des Zusammenlebens für die Menschen ermöglicht werden. Hier laufen alle Handlungsstränge zusammen: Die Meeresforscherin Evelyne Beaulieu (welch passender Name!), Ina Aroita, eine Künstlerin, die am Strand nur noch angespültes Plastik für ihre Skulpturen findet, die Freunde Rafi Young, Büchernarr und Kreativgeist, und der Computerexperte Todd Keane, der eine KI perfektioniert haben muss, bevor bei ihm demenzbedingt das Licht ausgeht. Und über allem steht die Frage der Würdigung und Erhaltung der Schöpfung und wie er sich weiterentwickeln wird, der Weltengang. Ein faszinierendes Buch, weit mehr als 'nur ein Roman'.

Bewertung vom 30.09.2024
Das Lied des Propheten
Lynch, Paul

Das Lied des Propheten


ausgezeichnet

Untergangspoesie. Es gibt schon ein halbes Regal voll mit Thrillern, die das Leben und Überleben in einem totalitären Regime beschreiben. Da gibt es zumeist eine Heldin / einen Helden, die / der eine Befreiungsbewegung anführt und zumeist auch erfolgreich gegen die Bösewichte agiert. "Das Lied des Propheten" von Paul Lynch ist vollkommen anders. Ab der ersten Seite wurde ich förmlich mitgerissen und wie durch einen Sog förmlich hineingezogen in die Geschichte; gleichzeitig hatte ich immer wieder den Impuls, das Buch wegzulegen und einfach nicht weiterzulesen, weil schließlich nicht sein kann, was nicht sein darf (... die aktuelle Brisanz des Themas durch den Rechtsruck in Europa). Es gibt keine Vorgeschichte mit einer Art 'Machtübernahme' - es 'geht einfach los'. Die neue Regierung lässt durch die Geheimpolizei Eilishs Mann Larry abholen, seineszeichens Gewerkschafter; Larry taucht nicht mehr auf; der große Sohn schließt sich der Widerstandsbewegung an; Eilish ist verzweifelt; es gibt kriegerische Auseinandersetzungen zwischen der Regierung und den Revolutionsgarden; wer kann, verlässt das Land; was schließlich auch Eilishs Plan ist. In kurzen und mächtigen Sätzen haut der Autor uns die Geschichte förmlich um die Ohren. Es geht weniger darum, wie ein Staat (Nordirland) sich langsam zu einer Diktatur hin verändert sondern vielmehr darum, wie die Veränderungen auf das Erleben und Verhalten der Menschen einwirken. Für mich das Buch der Stunde, weil es nicht nur hervorragend geschrieben sondern gleichzeitig auch ein Warnruf ist.

Bewertung vom 28.09.2024
Die Unmöglichkeit des Lebens
Haig, Matt

Die Unmöglichkeit des Lebens


gut

Überbordende Fantasie. Und dabei fast schon ein wenig 'zuviel des Guten' - das ist mein Eindruck nach der Lektüre von Matt Haigs neuem Roman "Die Unmöglichkeit des Lebens". Wer Matt Haig kennt, der weiß in etwa, was ihn erwartet - nämlich Lebensklugheit und ein Schuss magischer Realismus. Nur diesmal spielen mächtige Wesenheiten aus einer anderen Welt, Portale in eine andere Welt und Weltrettungsabsichten der Aliens für unsere Welt eine Rolle - Handlungsort ist die Mittelmeerinsel Ibiza. Maurice, beunruhigt durch die aktuelle Lage der Welt und betroffen von persönlichen Verlusten wendet sich, weil er es irgendjemandem erzählen muss und nicht so richtig weiterweiß in seinem eigenen Leben, per Email an seine alte Mathematiklehrerin Grace Winters. Diese antwortet ihm schon bald und bietet ihm an, ihre Geschichte zu erzählen, in der Hoffnung, dass diese ihm in seinem Leben weiterhelfen wird. Und genau diese von Grace Winters erzählte Geschichte ist der Kern des Romans. Grace erbt völlig unerwartet ein Haus auf Ibiza - und zwar von einer ganz alten Bekannten, als Dank dafür, dass Grace sie in einer schweren Zeit zum gemeinsamen Weihnachtsfest eingeladen hatte. Grace, selbst schon über 70 und in ihren Alltagsroutinen gefangen, überlegt ob sie den Schritt wagen soll. Was sie dann natürlich tut (in Matt Haigs Romanen machen die Protagonisten stets eine Persönlichkeitsentwicklung durch). Auf Ibiza schließlich wird Grace durch die Magie uralten Seegrases mit übersinnlichen Fähigkeiten ausgestattet und ehe sie sichs versieht zu einer Vorkämpferin zur Erhaltung des ökologischen Gleichgewichtes auf Ibiza; auch gewinnt sie den Kampf gegen einen nahezu ebenso mächtigen Bösewicht... und natürlich wird am Ende alles gut. Die Magie der Insel ist ziemlich gut beschrieben, die Message ist auch klar. Und vielleicht hat der Autor ja auch recht, dass unser Leben auf unserem Planeten ein besseres wäre, wenn wir der Magie wieder einen Platz in unserem Leben einräumen würden.

Bewertung vom 20.09.2024
Feuerjagd
French, Tana

Feuerjagd


gut

Toll erzählt. Tana French gelingt es in ihrem aktuellen Roman "Feuerjagd" äußerst gut, ein ziemlich anregendes Leseerlebnis zu haben. Ihr Schreibstil - nicht die Handlung - hat mich sehr an Stephen King erinnert. Genau wie ihm gelingt es Tana French hervorragend, ihre Figuren mit all ihren teilweise 'schrulligen Eigenarten' zum Leben zu erwecken, in soziale Milieus wie Dorfgemeinschaften einzutauchen, Menschen und Landschaften bildhaft vor Augen zu haben ... und sich als Leser einfach nur auf das nächste Kapitel zu freuen. Dafür hat "Feuerjagd" wahrhaft die volle Punktzahl verdient. Die Handlung hingegen trägt weniger gut, ist ein wenig schleppend und weitgehend frei von Zwischenhochs, Zuspitzungen, Katharsis, Höhepunkt. Ein Dorf im irischen Niemandsland, eine unvollständige Familie (Vater verschwunden); Tochter Trey, noch immer rätselnd, wo ihr Bruder seinerzeit verblieben ist und die Dorfgemeinschaft einer Untat verdächtigend, findet emotionalen Halt bei dem ehemaligen Cop Cal und seiner Freundin; Treys Vater taucht zusammen mit einem Fremden wieder auf, um dunkle Geschäfte zu machen, das Dorf abzukassieren, um die eigenen Schulden zu begleichen; Trey wittert eine Chance, dem Schicksal ihres Bruders auf die Spur zu kommen und geht sehr eigene Wege... Der Rest wäre gespoilert. Aber wie gesagt - trotz der etwas schlappen Handlung hatte ich viel Freude beim Lesen von "Feuerjagd" ... und ja, am Schluss spielt ein Brand noch eine zentrale Rolle ;-)

Bewertung vom 11.09.2024
Sobald wir angekommen sind
Lewinsky, Micha

Sobald wir angekommen sind


sehr gut

Antiheldentum. Das ist der rote Faden, der sich durch Micha Lewinskys ersten Roman "Sobald wir angekommen sind" zieht. Lewinskys Antiheld Ben ist beherrscht von dem Gedanken, was sein Tun und Lassen bewirken könnte. Und stets fürchtet er irgendwelche Konsequenzen, was ihn zu einem unentschlossenen Zeitgenossen macht. Zumeist ist er jemand, der auf die Handlungen der anderen reagiert, sich nicht festlegen mag, keine Position bezieht. Das einzige, was ihn in seiner Identität bestärkt ist, dass er als Jude gewappnet sein und ständig auf irgendeine Flucht vorbereitet sein muss. Und es gibt einen Fluchtanlass: Den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Befürchtung, dass dieser Krieg sich ausweiten und zu einem atomaren Schlagabtausch führen könne, man auch in der Schweiz nicht mehr sicher sei. Zwar vorher getrennt von seiner Frau, aber immer noch in der gemeinsamen Wohnung zusammenlebend mit ihr und den beiden Kindern, beschließt die Familie nach Brasilien auszuwandern (wobei die Initiative nicht von Ben sondern von seiner Ex-Frau ausgeht). Ben ist Drehbuchautor, hat einen vor Jahren gut besprochenen Roman geschrieben und arbeitet zu 'Stefan Zweigs Zeit inkl. dessen Suizid in Brasilien, weshalb ihm genau dieses Fluchtziel als sehr geeignet erscheint, um sich erneut wieder ins Gespräch zu bringen. Gleichzeitig flieht Ben aber auch vor seiner Geliebten Julia, die er zurücklässt, und damit auch vor einer wichtigen Lebensentscheidung. In Brasilien scheitern Bens Versuche, Männlichkeit zu zeigen, Julia seine trotz der Distanz fortbestehende Liebe immer wieder zu verdeutlichen, seine Ex-Frau zurückzugewinnen, immer wieder. Ben gibt das Bild eines Mannes auf der Suche nach einer selbstbewussten, eigenen Identität ab; als einziges Identitätsangebot scheint sein Jüdischsein herhalten zu müssen; seine Kränklichkeit schützt ihn vor selbstbewusster Verantwortungsübernahme; als Leser:in möchte man Ben über das gesamte Buch hinweg an die Hand und besser noch an die Brust nehmen. Das Buch ist wie ein Film, bildmächtig und nie langweilig. Ben ist als Figur zwar überzeichnet, aber durchaus in sich stimmig ausgestaltet, nur so manche Reaktion der 'Mitwelt' auf Ben finde ich nicht ganz so nachvollziehbar und etwas konstruiert. Gut lesbar. Hat mir einige Schmunzler abgerungen.

Bewertung vom 11.09.2024
Man sieht sich
Karnick, Julia

Man sieht sich


gut

Unterhaltsam. 'Wenn nicht jetzt - wann dann', das denkt man als Leser:in des neuen Romans "Man sieht sich" von Julia Karnick schon bald nach den ersten Seiten. Darüberhinaus ist die Geschichte des Romans eine schon häufig und gern erzählte: Zwei Liebende, die in jungen Jahren nicht zueinander finden, viele Umwege gehen müssen, sich nach einer Zeit als Ältergewordene wieder begegnen und es am Ende, nach Jahrzehnten, als Menschen um die 50, dann doch ganz knapp schaffen, sich in ein Miteinander finden und sich dem hinzugeben, was die Leser:innen schon von Anbeginn an wissen: Dass die beiden, Friederike und Robert, füreinander bestimmt sind. Das Klassentreffen zu dem die beiden, inzwischen über 50, eingeladen sind und zu dem sie eigentlich gar nicht hinwollen, ist der Ausgangspunkt, von dem aus die Autorin in Rückblicken auf die Jugend Ende der 80-er und eine zweite Begegnung in den 2000-ern die beiden sich begegnen, sich irgendwie verlieben und auch wieder scheitern lässt. Neben den drei Zeitebenen, die in gut nachvollziehbarem Wechsel geschildert werden, wird die Geschichte abwechselnd einmal aus Roberts und das andere Mal aus Friederikes Perspektive erzählt. Die Figuren sind in ihrem Fühlen und Handeln sehr nachvollziehbar geschildert, haben ihre Ecken und Kanten, was die Geschichte trotz aller bereits am Anfang zu vermutender Schlussromantik recht lebensnah macht. Wunderbar geeignet auch als Hörbuch auf längeren Waldspaziergängen ;-)

Bewertung vom 09.09.2024
Die schönste Version
Thomas, Ruth-Maria

Die schönste Version


sehr gut

Intensität. Genau das ist es, was die Lesenden im Erstling "Die schönste Version" von Ruth-Maria Thomas erwartet. Müsste ich einen passenden Song für den Roman auswählen, würde ich mich für "This is not a lovesong" entscheiden. Klar, vordergründig geht es um die Liebe, das Begehrtwerden, die romantische Beziehung. Genau das sind die Sehnsüchte von Jella, die in den späten Nullerjahren in einer ostdeutschen Kleinstadt aufwächst, ihre ersten Erfahrungen mit ein wenig älteren Jungs sammelt und glaubt, so wäre die Liebe, obwohl sie sich offensichtlich nicht wohl damit fühlt, wie sie behandelt wird - sie passt sich an. Auch den besten Freundinnen gegenüber gibt es nicht die totale Offenheit. Jella lernt Yannick kennen und erlebt eine neue Intensität in der Beziehung - zunächst klappt auch alles recht gut, bis es dann zu ersten Eifersüchten kommt; und je mehr sich beide verletzen, desto intensiver scheint der Sex zu werden. Bis dann schließlich Yannick Jella bei einem eskalierten Streit würgt. Der Roman startet damit, dass Jella bei der Polizei Anzeige gegen Yannick erstattet, rollt anschließend ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Beziehung mit Yannick auf. Beeindruckend tiefgehend - und auch wenn am Ende die Schuldfrage eindeutig zu beantworten ist, sind die Täter-Opfer-Rollen, je länger die Geschichte sich entwickelt, immer weniger eindeutig verteilt. Ein bedrückender Erstling. Unbedingt lesenswert!!!

Bewertung vom 09.09.2024
Ex-Wife
Parrott, Ursula

Ex-Wife


gut

Aufschlussreich. Mit wiederentdeckten Werken ist das so eine Sache. Im Kontext des Zeitpunktes ihrer Erstveröffentlichung mögen sie durchaus etwas Herausragendes darstellen, indem sie beispielsweise mit Hilfe der Form des Romans eine gesellschaftliche Situation kritisch- entlarvend beschreiben oder eine Protagonistin wählen, die einiges infrage- oder sogar auf den Kopf stellt. Und ich glaube, dass man so auch an Ursula Parrotts Roman "Ex-Wife" aus dem Jahr 1929 herangehen sollte. Beschrieben wird die absolute männliche Dominanz im Verhältnis der Geschlechter - sie haben das Sagen und das Recht sich innerhalb der Ehe durchaus andere Partnerinnen wählen zu dürfen. Umgekehrt gilt dieses Recht nicht, wäre Scheidungsgrund. In der erzählten Geschichte ist die Hauptperson Patricia zwar durchaus priviligiert und selbstbewusst, raucht und trinkt Unmengen, geht auf Partys, amüsiert sich, leidet aber gleichwohl unter ihrer Trennung von ihrem Mann Paul - eine starke Einbuße für ihr Selbstwertgefühl, versucht lange Zeit wieder seine Anerkennung zurückzugewinnen, bevor sie sich einer neuen Liebe zuwendet. Und doch gibt es nach meiner Auffassung Parallelen in dem Verhältnis der Geschlechter in der Gegenwart, weshalb es doch manchmal nicht ganz so verkehrt ist, sich einem wiederentdeckten Werk zu widmen. Der Roman ist konsequent in der Ich-Form erzählt und offenbart die Gedankenwelt einer Frau, die ständig bemüht ist, im Spannungsfeld zwischen Bindung und Unabhängigkeit ihre eigene Identität zu finden, statt sich lediglich auf ihre Rolle als 'Frau von...' zu beschränken. Durchaus lesenswert.

Bewertung vom 09.09.2024
Der Morgen nach dem Regen
Levensohn, Melanie

Der Morgen nach dem Regen


sehr gut

Gut lesbar und Tiefgang. Melanie Levensohn ist es mit ihrem aktuellen Roman "Der Morgen nach dem Regen" gelungen, dass ich jede freie Minute genutzt habe, nach dem Buch zu greifen. Und das liegt nicht daran, dass es einen irrsinnigen Spannungsbogen gibt, es zeichnen sich vielmehr von Beginn an viele Konfliktlinien ab, nach deren Auflösung man sich als Leser:in sehnt. Und so ist es ein Leichtes, den knapp über vierhundert Seiten zu folgen. Mutter Johanna ist als UN-Vertreterin in den Kriegs- und Krisengebieten dieser Welt unterwegs, liebt ihren Job, hat aber permanent ein schlechtes Gewissen gegenüber ihrer Tochter, die sie allzuhäufig mit Ehemann Ralph in New York allein lässt. Als die eigene Mutter stibt zwei Jahrzehnte später verstirbt - Johanna ist inzwischen getrennt, erbt sie das Haus in St. Goar und beschließt dorthin zu ziehen. Für Tochter Elsa, inzwischen erfolgreiche Anwältin am Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, spielt der Job eine ähnlich große Rolle, bis zu dem Tag, an dem sie einen Burnout erleidet; Elsa muss zur Ruhe kommen, erinnert sich an ihre wohlbehüteten Kindertage bei ihrer Großmutter Toni in St. Goar und beschließt, Den Haag und auch ihren Freund zu verlassen, um sich im alten Haus der Großmutter zu erholen. Das Verhältnis zwischen Johanna und Elsa hat sich allerdings über die Jahrzehnte derart abgekühlt, dass ein konfliktfreies Miteinander nicht möglich scheint und beide nun vor der großen Herausforderung stehen, ihre Vergangenheit zu bewältigen. Die Gegenwartsebene ist in 2023 angesiedelt, die zweite Zeitebene in 2003; die Autorin hat sich für zwei Erzählperspektiven entschieden, die von Johanna und Elsa, was die Konfliktlinien zwischen Mutter und Tochter noch einmal betont. Schon der Titel des Buches verrät, dass die beiden es schaffen, sich wieder anzunähern, allerdings ist es ein langer, steiniger Weg. Punktabzug gibt es für den etwas kitschigen Kunstgriff, die verstorbene Großmutter Toni für Johanna quasi aus dem 'off' als Geist erscheinen und Ratschläge geben zu lassen. Ansonsten eine runde Sache, die bei all den auch berichteten Grausamkeiten aus den Krisengebieten, sogar einen kleinen Romantikfaktor im Beigepäck hat.

Bewertung vom 31.08.2024
Cascadia
Phillips, Julia

Cascadia


sehr gut

Gelungen. Und zwar äußerst gelungen. Märchenhafte Züge prallen auf die harte Realität. Schneeweißchen und Rosenrot in der herausfodernden Gegenwart des Nordwestens der USA. Julia Phillips ist mit ihrem aktuellen Roman "Cascadia" etwas gelungen, was man gerne bei Murakami liest - ein magischer Realismus, der Einbruch des Unerwarteten in die Wirklichkeit. (Sonst gibt es allerdings keine Parallelen zu Murakami). Sam und ihre ältere Schwester Elena halten sich mit Jobs geradeso über Wasser und müssen ihre sterbenskranke Mutter versorgen. Ein eher trostloses Leben; Elena stürzt sich neben der Arbeit in die Umsorgung der Mutter; Sam hat eine zunächst eher nüchterne Sexbeziehung zu Ben, um ihr Leben ein wenig 'aufzulockern'; was die Schwestern aber auszeichnet, ist ihr beidseitiger Zusammenhalt. Ein auftauchender Bär ändert dann aber alles. Zumal der Grizzly die Nähe von Elena zu suchen scheint. Elena bricht aus der schwesterlichen Gemeinschaft aus und projeziert auf ihr Verhältnis zum Bären die Hoffnung auf eine ander Zukunft. Und genau dies ist das nicht unmittelbar erkennbare Kernthema des Romans - das Gefangensein in den Verhältnissen, die Hoffnung auf Erlösung; auch auf die Gefahr hin, dass es nicht gut ausgehen mag. Julia Phillips erzählt nüchtern und unaufgeregt und wählt damit einen Erzählstil, welcher den passenden Rahmen für die Lebenswelt der Figuren setzt. Unbedingte Leseempfehlung!