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Adelebooks
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Bremen

Bewertungen

Insgesamt 129 Bewertungen
Bewertung vom 01.06.2024
Mutmurmeln für den ersten Schultag
Welk, Sarah

Mutmurmeln für den ersten Schultag


ausgezeichnet

Wenn in deinem Bauch tausend Murmeln rumsausen…

So erklärt Lolle ihrem Freund Linus ihre Wortkreation murmelig und beschreibt damit die Aufregung vor dem ersten Schultag. Tatsächlich ist Linus noch viel murmeliger zu Mute als Lolle, beim Gedanken an den ersten Schultag wird ihm Angst und Bange, was da alles schief gehen kann. Doch die clevere Lolle hat eine Idee: Mutmurmeln! Diese sind Murmeln, die durch mutige Situationen mit Mut aufgeladen werden und diesen dann bei Bedarf, wie am ersten Schultag wieder abgeben können. Und so klettern die beiden auf Bäume, gehen in dunkle Keller, essen Radieschen, und langsam lädt sich die Mutmurmel auf und Linus kann entspannter auf seinen ersten Schultag blicken.

Ich habe Lolle und Linus sofort ins Herz geschlossen. Die beiden sind toll gezeichnet und gerade auch Lolle, als mutiges, kreatives Mädchen, macht einfach nur Freude beim Lesen und Betrachten. Die Freundschaft der beiden ist wunderbar porträtiert, indem sie sich gegenseitig stützten und Mut machen.

Ein wundervolles Kinderbuch zum ersten Schultag, mit einer kreativen mutmachenden Geschichte und einer tollen zeichnerischen Umsetzung!

Bewertung vom 25.05.2024
Die kurze Stunde der Frauen
Gebhardt, Miriam

Die kurze Stunde der Frauen


sehr gut

Eine andere Geschichte der Frauen im Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit

Miriam Gebhardt zeichnet in - Die kurze Stunde der Frauen - die Rolle der Frauen im Nationalsozialismus sowie in den Nachkriegsjahren nach und stellt die Entwicklung der Frauenbewegung sowie Fortschritte und Rückschläge der Gleichstellung in beiden deutschen Teilstaaten in einen historischen Kontext. Dabei deckt sie mit geschichtswissenschaftlichem Blick und der Referenz zu aktueller Forschung auf, wie das Frauenbild im Nationalsozialismus, sowie in West- und Ostdeutschland ideologisch geprägt war und welche Auswirkungen dies auf die Lebensrealität und Lebenschancen der Frauen hatte und bis heute hat. Die Frau im Nationalsozialismus als passive, unpolitische Bürgerin widerlegt sie ebenso wie den Mythos der Trümmerfrauen. Wie kam es, dass die Frauen, nachdem sie im Krieg und den Nachkriegsjahren so viel geleistet haben, fast unmerklich wieder in die zweite Reihe gerückt sind, nachdem die Männer zurück waren? Hier zeigt die Autorin juristische, politische, kulturelle aber auch persönliche Gründe auf. Die Rolle als Macherin, die die Familie versorgt, entsprang oftmals eben keinem echten Emanzipationsbestreben, sondern der schlichten Notwendigkeit.

Besonders wertvoll ist, neben der gelungenen Entmystifizierung ideologisch motivierter Narrative aus der Nachkriegszeit die ausgewogene Betrachtung der Frauenpolitik in Ost- und West in dem jeweiligen ideologischen Kontext. Gerade bei der Betrachtung der Gleichstellung in der DDR wird mitunter oft vernachlässigt, dass gerade auch im Privaten oft patriarchale Ideale persistierten, die Gleichberechtigung im Beruf, keine bzw. nur begrenzt eine Entsprechung im Haushalt fand und so letztlich zur Doppelbelastung für Frauen führte, wie es in der soziologischen Forschung mittlerweile gut aufgearbeitet wurde. Gebhardt geht auch darauf ein und zeigt zusätzlich auf, dass auch in Wirtschaft und Politik gerade Führungspositionen für Frauen schwerer zugänglich waren. Auch die Persistenz nationalsozialistischer Frauen- und Mutterideale und die juristische Privilegierung der bürgerlichen Idealfamilie in der BRD und damit legale Diskriminierung von Frauen arbeitet die Autorin heraus, mit allen Konsequenzen die dies für die Selbst- und Fremdperzeption der Frauen hatte und in der kulturellen Prägung zum Teil bis heute in Teilen hat.

Der Schreibstil ist sehr eingängig und kurzweilig. Sehr gelungen ist die Bereicherung der Ausführungen mit anekdotischen realen Frauengeschichten und - Schicksalen, die die Autorin aus persönlichen Dokumenten dieser rekonstruiert. So werden der historische Kontext und die Erkenntnisse aus der Geschichtswissenschaft unterfüttert und erlebbar gemacht. Zahlreiche historische Originalaufnahmen rahmen das Geschriebene zusätzlich visuell ein.

Die Qualität der Publikation wird leider durch einige Logikfehler in der Darstellung der Frauengeschichten und des historischen Kontextes geschmälert. Da wird erst erwähnt, dass in jeder Besatzungszone unterschiedliche Regelungen galten, um dann im weiteren Verlauf die Gegebenheiten in einer Zone als exemplarisch für die Zeit und Umstände als solches darzustellen. Da wird der Umzug einer Familie von einer Wohnung in Leipzig nach Hannover beschrieben und später immer wieder auf ihr altes Leben in einer Villa in Dresden (statt Leipzig) verwiesen, um nur einige Beispiele zu nennen. Irritierend und nicht angemessen für den wissenschaftlichen Anspruch der Autorin sind vereinzelte pauschale Äußerungen und monokausale Darstellungen. Bei der Angabe von Prozentzahlen wird teilweise nicht ersichtlich auf welche Grundgesamtheit sich diese beziehen, was die inhaltliche Aussage mitunter nur begrenzt nachvollziehbar macht. Bei diesen Punkten hätte ich mir insgesamt mehr Sorgfalt im Lektorat gewünscht.

Für Leser:innen, die nicht bereits zumindest in Grundzügen mit dem Forschungsstand zur Gleichberechtigung in den Gesellschaftswissenschaften vertraut sind, könnten einige Argumentationslinien in der Darstellung mitunter zu reißbrettartig wirken, obgleich sie fundiert und gut belegt sind.

Mit diesen leichten Abstrichen, ist - Die kurze Stunde der Frauen - sehr lesenswert. Das Verdienst von Gebhardt liegt für mich in der gelungenen Entmystifizierung ideologisch motivierter Narrative, der kompakten, kurzweiligen historischen Darstellung und Entwicklung des Frauenbildes und seiner Pfadabhängigkeit sowie der Frauenbewegung in Ost und West, ihrer Erfolge wie Rückschläge vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute. Dies alles fast durchgängig aus einem ausgesprochen ausgewogenen stets abwägenden Blickwinkel, der in der Debatte leider viel zu selten ist.

Bewertung vom 22.05.2024
Wir werden jung sein
Leo, Maxim

Wir werden jung sein


sehr gut

Stellen Sie sich vor, wir könnten ewig leben…


Jakob ist erst 17 und bemerkt plötzlich Veränderungen an seinem Körper. Jenny versucht mit knapp 40 Jahren lange vergeblich schwanger zu werden, und erwartet plötzlich ein Kind. Dem alten Unternehmenspatriarchen Wenger drohte multiples Organversagen, sein Testament ist verfasst, doch plötzlich geht es ihm immer besser. Verena, aufgrund einer Erkrankung des Herzmuskels mit Herzinsuffizienz, Schwimmerin im Ruhestand, schwimmt plötzlich einen Rekord. Sie alle haben eines gemeinsam - sie sind Teilnehmer:innen einer Studie an der Charité für ein neues Herzmedikament, das Herzmuskelzellen regenerieren können soll.

Martin sind als behandelndem Arzt und zuständigem Forscher die Ereignisse zunächst ein Rätsel, bis deutlich wird, dass es kein Zufall sein kann. Sein Medikament kann offensichtlich viel mehr als nur Herzmuskelzellen regenerieren.

Miriam ist wissenschaftliche Beraterin der Regierung und bewertet als Moralphilosophin ethische Fragen. Was bedeutet es, wenn wir ewig leben, unsere Kinder keine Kinder bekommen dürfen? Werden durch immer dieselben Menschen überhaupt noch neue Innovationen möglich? Wer erhält Zugang zum Medikament und aufgrund welcher Kriterien?

Mit der unerwarteten Nebenwirkung des Medikaments stellen sich sowohl medizinische als auch persönliche und gesellschaftliche Fragen, die in - Wir werden jung sein - in den Mittelpunkt rücken. Es beginnt ein Duell zwischen Medizin und Gesellschaft.

Das Szenario ist interessant und durch die Vielfalt der Perspektiven gelingt es dem Autor sehr gut die zahlreichen persönlichen ebenso wie gesellschaftlichen Auswirkungen eines vermeintlich ewigen Lebens darzustellen. Leider blieben die Figuren dabei für mich etwas blass, sodass ich zu keiner eine wirkliche Nähe beim Lesen aufbauen konnte.

Sprachlich kann Maxim Leo, wie immer, brillieren, der Roman liest sich flüssig, pointiert, unterhaltsam und klug.

Überzeugend ist für mich der Roman primär auf gesellschaftstheoretischer Ebene, hier hat der Autor gut recherchiert und die strukturellen wie moralethischen Implikationen des Szenarios sehr gut ausgearbeitet und zeigt auf was Kapitalismus und Gerechtigkeit im deutschen und globalen Gesundheitssystem bedeuten.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.05.2024
Und dann sind wir gerettet
Carati, Alessandra

Und dann sind wir gerettet


ausgezeichnet

Gibt es eine echte Rettung vor Krieg und (vererbten) Traumata?

Aida ist 6 Jahre alt, als sie im Jahr 1992 mit ihren Eltern aus ihrer bosnischen Heimat vor dem Krieg flieht. Was folgt, ist nicht nur eine gefährliche Flucht durch ein bereits kriegsgebeuteltes Gebiet, sondern auch ein Ankommen in Italien, das zwar physisch zunächst Frieden verspricht, innerlich kann jedoch kein Familienmitglied die schrecklichen Erfahrungen abstreifen. Hinzu kommt die stete Sorge und Trauer um die zurückgelassenen Familienmitglieder und Freunde.

In diesem Rahmen erzählt Alessandra Carati auf drei Zeitebenen zwischen 1992 und 2013 die Geschichte einer Flucht, eines Ankommens und einer Rückkehr.

Poetisch und sensibel, mit einem besonderen Blick für die menschlichen Zwischentöne beschreibt die Autorin die Herausforderungen für das Familienleben, bei dem die Integration in das neue Umfeld der Sehnsucht nach der Heimat und dem Schmerz der Kriegserfahrung gegenübersteht und wie ein Pendel ausschlagen, ohne je in ein echtes Gleichgewicht zu finden, eben weil dies vielleicht auch kaum möglich ist.

In einer Familie zeigt Carati so die Variation von Traumata durch Kriegs- und Fluchterfahrung und den Umgang mit diesen, von Abgrenzung, Aggression über innere Verschlossenheit bis hin zur Psychose.

Und dann sind wir gerettet ist ein schmerzhaftes und hoffnungsvolles Buch zugleich, das nicht nur inhaltlich mit einem sensiblen Blick für psychische und soziale Herausforderungen in Verbindung mit Krieg, Flucht und Neuanfang, sondern auch einer wundervoll poetischen Sprache der Autorin überzeugt. An dieser Stelle muss auch die herausragende Übersetzung aus dem Italienischen unbedingt erwähnt werden.

Bewertung vom 13.05.2024
Windstärke 17
Wahl, Caroline

Windstärke 17


ausgezeichnet

Freischwimmen

Vorab: für mich war 22 Bahnen mein Überraschungsbuch 2023, mich hat die Geschichte um Tilda und Ida unglaublich berührt und ich habe mit ihnen gelitten, geweint und mich natürlich ebenso gefreut. Mit Windstärke 17 setzt Caroline Wahl diese mitnehmende, authentische Geschichte nun fort, diesmal aus Idas Perspektive ca. 10 Jahre später. Doch kann sie damit an 22 Bahnen anschließen, sich sogar übertreffen?

Windstärke 17 beginnt wenige Wochen nach dem Tod von Idas und Tildas alkoholkranker Mutter. Ida ist Anfang 20, überfordert mit dem Verlust, verloren in Wut, Trauer und Schuldgefühlen und möchte einfach nur noch weg, ohne zu wissen wohin. In dieser Ziellosigkeit landet sie schließlich an einem abgelegenen Zipfel des Landes, auf der Ostseeinsel Rügen. Die Insellage, den Launen der Natur ausgesetzt, ist nicht ohne Grund, das was sie angezogen hat, entspricht es doch am ehesten ihrem aufgewühlten Innenleben. Durch einen glücklichen Zufall lernt sie das ältere Paar Marianne und Knut kennen, und findet bei den bodenständigen Insulanern, genau das, was sie gerade so dringend braucht.

Idas Gefühle, die mit dem Tod der Mutter ausbrechen, gehen weit über die Trauer hinaus. Da sind Wut und Enttäuschung über die Mutter, die aufgrund ihres Alkoholismus nie wirklich eine Mutter war, und all die Verletzungen der Vergangenheit, Schuldgefühle, und das Gefühl plötzlich allein auf der Welt zu sein.

Bereits nach wenigen Zeilen und Seiten bin ich mit Ida und ihrem Fühlen und Erleben verschmolzen. Die Wut über den Verlust der Mutter, auf Tilda, sich selbst, die Welt, ohne Ziel und so stark, dass sie für Trauer (noch) keinen Platz lässt. Und dazu immer wieder Schuldgefühle, hätte sie mehr tun müssen? Etwas tun müssen? Caroline Wahl versteht es dieses undefinierbare Gefühl Idas, eine Symbiose aus so vielen schmerzhaften Empfindungen und ihrer Verdrängung, einzufangen und das Erleben ihrer Figur für die Leserin nicht nur nachvollziehbar, sondern fast spürbar zu machen.

Mir hat sehr gefallen, dass die Autorin nach 22 Bahnen auch in Idas Geschichte dem Wasser eine so prominente Rolle einräumt. Ida kämpft mit den Wellen der Ostsee, wie sie mit und gegen sich selbst kämpft, gegen Trauer, Wut und Schuldgefühle. Sie dabei zu begleiten ist traurig und schön zugleich.

Wird Ida wieder zu sich finden, vielleicht überhaupt erstmals ein eigenes Ich unabhängig von der Krankheit ihrer Mutter ausbilden können, ihren Weg und innere Stärke entdecken? Wird sie ihrer Mutter, Tilda und am wichtigsten, sich selbst verzeihen können? Welche Rolle werden Marianne und Knut, und der ebenso traurige, gezeichnete Leif, den sie auf der Insel kennenlernt, dabei spielen? Da hilft nur: unbedingt lesen und herausfinden!

Man kann Windstärke 17 sicher auch gut lesen ohne 22 Bahnen zu kennen. Doch warum sollte man das tun und damit auf die wundervolle Geschichte darin und die Einblicke in Idas Vergangenheit verzichten?

In Windstärke 17 zeigt Caroline Wahl was ein Aufwachsen in dysfunktionalen Familienverhältnissen mit uns macht, wie schwer es ist einen gesunden Weg zwischen Nähe und Abgrenzung zu finden, da man egal wie, nie der Herkunft wirklich entkommen kann. Und zuletzt bleiben bei allem eigenen Leid, Schuldgefühle, Trauer und Wut. Idas und Tildas Geschichten zeigen jedoch auch, wie man selbst in Situationen, die zu schwer zum Tragen anmuten, Hoffnung und sich selbst finden kann, um trotz oder vielleicht gerade wegen einer schweren Vergangenheit gestärkt ins Leben und die Zukunft zu treten!

Bewertung vom 12.05.2024
25 letzte Sommer
Schäfer, Stephan

25 letzte Sommer


ausgezeichnet

Zwei Tage und der Beginn einer Freundschaft, die ein Leben verändern

Der Ich-Erzähler in 25 Sommer ist beruflich erfolgreich, hat privat ein stabiles Familienleben mit zwei Kindern, steht auf den ersten Blick mitten im Leben. Und doch fühlt er sich viel zu oft eher neben sich und nicht mit beiden Beinen auf dem Boden. Er hat verlernt zu leben, ist irgendwann falsch abgebogen im Leben und schon viel zu lange in der modernen Effizienz- und Optimierungsmaschinerie gefangen, er funktioniert ohne wirklich zu leben. Ein Wochenende im eigens zur Entschleunigung angeschafften Häuschen auf dem Land soll etwas Ruhe bringen. Doch selbst die Natur vermag nicht die innere Anspannung zu lösen. Da entdeckt er bei einem Abzweig seiner Laufrunde zu einem See einen anderen Mann, der beschwingt aus dem kühlen Nass steigt.

Die Offenheit und Freundlichkeit des Fremden irritiert und beruhigt ihn auf eine ihm vergessene Weise. Es ist echtes Interesse an seiner Person, seinem Denken und Fühlen, fernab von Status und Oberflächlichkeit, die sonst seinen (Berufs-)Alltag bestimmen. Und so begleitet er den Mann, der sich als Karl vorstellt auf seinen nahe gelegenen Bauernhof, lernt dessen Familie und Leben kennen und entdeckt dabei Stück für Stück neue Perspektiven und auch lange vergessene Aspekte von sich selbst wieder. In den Gesprächen mit Karl wird deutlich, dass auch dieser seine gelassene Lebenseinstellung nicht in die Wiege gelegt bekommen hat, sondern aus Erfahrungen seines Lebens gelernt hat, lernen musste. Und so lernen zwei Menschen Neues übereinander, voneinander und sich selbst, der Beginn einer echten Freundschaft, wie sie das Leben schreibt.

25 Sommer ist eine berührende, lebensweise Erzählung über den Beginn einer Freundschaft, dem Einlassen auf ein neues Gegenüber und die Bereitschaft loszulassen vom vermeintlichen Müssen des Alltags und das Glück, das man dabei in der Begegnung, in sich selbst und anderen zu finden vermag!

Bewertung vom 02.05.2024
Heult leise, Habibis
Masrar, Sineb El

Heult leise, Habibis


weniger gut

Dauererregung und Polarisierung sind eine Gefahr für unsere Demokratie und gehen damit uns alle etwas an

In diesem eher schmalen Essay zeigt Sineb El Masrar auf, wie eine gesellschaftliche Dynamik entstanden ist, in der die Extrovertierten und Lauten immer lauter werden und damit vernünftigen, ausgewogene Stimmen in den Hintergrund geraten und so letztlich auch in den Debatten um die Zukunft unserer Demokratie fehlen. Die Autorin liefert interessante Denkanstöße und sensibilisiert für gesellschaftliche und diskursive Dynamiken, die letztlich unsere Demokratie bedrohen können. Der Schreibstil ist eingängig und leicht zu folgen.

Was mich nicht überzeugt hat, ist das fast vollständige Ausblenden struktureller Faktoren in der Analyse bei gleichzeitiger Überbetonung diskursiver und psychoanalytischer Elemente, die vermeintlich monokausal zu bestimmten gesellschaftlichen Konsequenzen führen. So wird beispielsweise der NSU als Folge der von der Autorin beschriebenen kommunikativen Dynamik genannt. Hier bedient die Autorin sich ähnlicher Werkzeuge, die sie an anderer Stelle kritisiert. Während sie Ideologisierung und Polarisierung über weite Strecken sehr gut und nachvollziehbar als problematisch herausarbeitet, zur besonnenen Reflexion aufruft, verfällt die Schrift selbst im Verlauf in den Dienst der Proklamation sehr einseitiger Positionen der Autorin und der Überlegenheit eines wirtschaftsliberalen Konservatismus.

Insbesondere in der zweiten Hälfte verliert das Buch damit für mich an Stärke. Dieser Eindruck wird zusätzlich dadurch verfestigt, dass zunehmend einige Gedankengänge und Argumente in sich inkonsistent, eindimensional und auch redundant sind, andere scheinen wiederum selbst einer Aufmerksamkeitslogik zu folgen, wie wenn die Autorin unter Orgasmische Polarisierung die Sexualisierung von Polarisierung ausführt. Von einem soziologisch und sozialpsychologisch geschulten Lektorat hätte die Schrift sicher profitiert, insbesondere mit Blick auf die einschlägigen theoretischen Grundlagen zu sozialer Identität und Intergruppenkonflikten.

Einer starken ersten Hälfte, die viele wichtige Denkanstöße liefert und mit einer erfrischend ausgewogenen Analyse und Betrachtung überzeugt, steht so ein deutlich schwächerer zweiter Teil gegenüber, in dem die Autorin in der Umsetzung dem eigenen, zuvor formulierten Anspruch leider nicht gerecht werden kann. Das Ziel der Schrift bleibt damit letztlich unklar.

Bewertung vom 30.04.2024
Und alle so still
Fallwickl, Mareike

Und alle so still


ausgezeichnet

Die Wegwerfmenschen - Nicht gehört, nicht gesehen, nicht geachtet

Elin, Ruth, Alma, Nuri. Vier Personen und jede leidet auf jeweils eigene Art unter den patriarchalen Strukturen, der Diskriminierung und Ausbeutung in der Gegenwartsgesellschaft. Während die junge Elin als Social Media Star an der hohlen Selbstdarstellung zweifelt und Nähe und Anerkennung in kurzen sexuellen Abenteuern sucht, bekommt Nuri jeden Tag zu spüren, was es als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund bedeutet zu den nicht privilegierten Klassen in der modernen kapitalistischen Dienstleistungsökonomie mit zum Teil nicht mal rudimentärer sozialer Absicherung zu gehören. Ruth wiederum bekommt als Krankenpflegerin täglich die Konsequenzen eines Gesundheitssystems zu spüren, in dem echte Fürsorge und menschenwürdige Pflege nicht honoriert wird, im Gegenzug jedoch das Sparen auf Kosten von Patient:innen und dem Personal. Der Personalmangel in der Pflege wird so mit allen Konsequenzen für Patientinnen und Pflegekräfte bildlich herausgearbeitet.

Was die Protagonist:innen eint ist Einsamkeit und eine Verzweiflung an den Zumutungen, die dieses System an jeden einzelnen von ihnen und letztlich uns alle stellt. Doch wie dem entkommen? Wie kann Veränderung gelingen? Die Autorin skizziert im Roman hierzu ein mögliches Szenario und setzt dieses auch sprachlich hervorragend um.

Gekonnt buchstabiert Mareike Fallwickl die Bedeutung von Systemrelevanz literarisch aus und führt uns damit vor Augen was tatsächlich passiert, wenn all die als selbstverständlich wahrgenommenen Tätigkeiten von Frauen im Privaten wie im Beruflichen nicht erledigt werden. Dabei beweist sie einen sensiblen Blick nicht nur auf Sexismus und Misogynie sondern ebenso auf all die Zumutungen eines harten Arbeiter:innenlebens.

Und alle so still - ist das Gegenteil seines Titels, denn still ist dieser aufwühlende, emanzipatorische Roman sicher nicht!Und das ist genau richtig!

Bewertung vom 29.04.2024
Wären wir Vögel am Himmel
Litteken, Erin

Wären wir Vögel am Himmel


sehr gut

Die Ukraine im 2. Weltkrieg - zwischen Schmerz und Hoffnung

Wären wir Vögel erzählt die Geschichte zweier ukrainischer Familien in der Zeit des zweiten Weltkriegs und dabei auch die schmerzhafte und wechselhafte Geschichte der Ukraine und ihres Volkes. Besonders eindrucksvoll fand ich die starken Frauen in der Erzählung. Krieg, Flucht, Verschleppung, Hunger, Verlust und Trauer bestimmen viel zu oft ihren Alltag in dieser Zeit und trotzdem strahlen Lilija, Halya und Vika eine unbändige Stärke und Willen zur Selbstbehauptung aus, jede auf ihre Weise.

Inhaltlich vermittelt der Roman fast schon nebenbei viel historisches Wissen zur Geschichte der Ukraine, ihrem Zerreiben zwischen verschiedenen Mächten und dem Kampf um Unabhängigkeit, der deutschen Besatzung im zweiten Weltkrieg und dem grausamen Schicksal von Zwangsarbeiterinnen, die, zum Teil noch Kinder, aus besetzten Staaten in Osteuropa zur Arbeit in der Rüstungsindustrie nach Deutschland verschleppt wurden.

Sensibel blickt Erin Litteken jedoch auch auf die sozialen Beziehungen und bewegt sich hier zwischen Hass und Leid, Menschlichkeit, Hilfe und auch Freundschaften zwischen Polen, Russen und Ukrainern.

Zum Ende hin verliert die Autorin sich leider ein wenig in einer allzu klischeehaften Darstellung.

Sehr lesenswert ist die historische und persönliche Einordnung des Geschriebenen als Anmerkung der Autorin am Endes des Romans.

Sprachlich wurde ich leider nicht ganz überzeugt und kann nicht einschätzen, ob dies an der Übersetzung liegt. Einige Formulierungen ergeben schlicht keinen Sinn, wie wenn Haare vermeintlich an der Wurzel abgeschnitten werden, dann aber kinnlang sind. Andere finde ich eher ungewöhnlich, wie ein Bevor und ein Danach. Für mich wäre Davor und Danach ein üblicherer Ausdruck.

Wären wir Vögel am Himmel ist ein schmerzhafter und hoffnungsvoller Roman zugleich, den ich mit ganz leichten Abstrichen in der Sprache sehr gerne empfehle!

Bewertung vom 23.04.2024
Yellowface
Kuang, R. F.

Yellowface


gut

Die Chronologie eines Skandals in der Verlagswelt im Twitterzeitalter

Athena hat alles was June sich immer erträumt hat. Mit Mitte 20 ist sie ein Star der Literaturszene, weiblich, divers, talentiert, gut aussehend. June hingegen ist eine vollkommen durchschnittliche weiße Amerikanerin und erfolglose Autorin. Durch das gemeinsame Studium verbindet die beiden eine lose Freundschaft, und als Athena unglücklich beim Essen erstickt, ist June dabei. Ohne viel nachzudenken, schnappt sie sich Athenas neuestes Manuskript…

Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Yellowface mit Schuld, kultureller Aneignung, Rassismus, Cancel Culture, der Rolle sozialer Medien in diesem Kontext und der hart umgekämpften Verlagswelt.

So interessant wie die Darstellung der Verlagswelt und auch die des Twitter und Social Media - Mobs waren, hatte der Roman für mich doch einige Längen. Viele Motive wiederholen sich und auch June entwickelt sich als Charakter nicht weiter, wird immer wieder in ihre Haltung zwischen Neid, Reue, Erfolgssucht hineingeschrieben und verharrt und verzweifelt dort. Zum Teil war der Charakter für mich inkonsistent, wenn einerseits das Schreiben als größte Passion herausgestellt wird und andererseits jedoch der Erfolg und die Anerkennung vollkommen im Vordergrund stehen - um jeden Preis.

Insgesamt lässt mich Yellowface etwas ratlos zurück. Es ist stilistisch gut geschrieben, gibt interessante Einblicke in die Verlagswelt und regt zum Nachdenken über Cancel Culture und die Rolle von Social Media an. Doch gleichzeitig bleibt es seltsam blass dabei, ohne echte Botschaft oder Charakterentwicklung und zeigt einige Längen. Für mich hallt Yellowface dadurch nur wenig nach und reiht sich in solide Unterhaltungsliteratur ein. Nach dem Hype um den Roman, habe ich etwas mehr erwartet.