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Insgesamt 68 Bewertungen
Bewertung vom 12.08.2022
Die Wunder
Medel, Elena

Die Wunder


gut

Tolle Romanidee, leider nicht ganz überzeugend umgesetzt - In ihrem Roman (übersetzt von Susanne Lange) schreibt Elena Medel von Großmutter und Enkelin, die sich nicht kennen aber doch so viel gemeinsam haben. Maria wird Ende der 60er Jahre in Cordoba als junges Mädchen ungewollt schwanger. Ihre Tochter Carmen wächst fortan bei ihrer Mutter und ihrem Bruder auf, während Maria weggeschickt wird und in Madrid als Dienstmädchen arbeitet. Ihr Geld schickt sie heim, die Freizeit ist spärlich, die finanziellen Möglichkeiten ebenso. Die Distanz zu ihrer Tochter wird immer größer, Marias Leben, später an der Seite von Pedro, bleibt gleichbleibend prekär – finanziell, gesellschaftlich und sozial. – Gut 30 Jahre später lebt die Tochter Carmens, Alicia, ebenfalls in einfachen Verhältnissen, denen sie nicht entfliehen kann. Gefangen in einem familiären Albtraum, ihr Vater beging aus finanziellen Sorgen heraus Selbstmord, begegnet sie ihrer Umwelt eher verschlossen und mit Ablehnung.
Elena Medel setzt den Mangel und seine Bedeutung für die Frauen in Spanien gekonnt in Szene. Der Mangel an gesellschaftlicher Mitsprache, an Bedeutung, an sozialen Rechten innerhalb einer männerdominierten Welt, in der die Frauen unter sich bleiben und über Kinder und Kochen sprechen. Der Mangel an Geld, der ein gesellschaftliches, persönliches Vorkommen fast unmöglich werden lässt und keine Perspektiven bietet. Der Mangel an räumlicher, geistiger, gesellschaftlicher Freiheit, der die Frauen ihrer Zeit immer wieder in ihre Schranken weist.
Was in Spanien als literarisches Wunder gefeiert wurde, konnte mich leider nicht überzeugen. In den sprunghaften, schweren Schreibstil fand ich so gar nicht herein und auch die beiden Figuren waren mir persönlich zu blass und wenig überzeugend. Die Rolle der Frau in der Gesellschaft, der Einfluss von Herkunft und Geld auf die sozialen Entwicklungen, das Erkennen und Umsetzen eigener Stärken. Alles wichtige gesellschaftliche Themen, die für mich aber zu wenig Tiefe haben. Schade!

Bewertung vom 24.07.2022
Freundin bleibst du immer
Obaro, Tomi

Freundin bleibst du immer


ausgezeichnet

Tomi Obaros Debütroman (Ü: Stefanie Ochel) hätte kein besseres Cover für einen bunten, lauten emotionalen Roman haben können!

Seit ihrem gemeinsamen Studium in Zaria in Nigeria in den 80er Jahren sind Funmi, Zainab und Enitan Freundinnen. So unterschiedlich ihre familiären Hintergründe, ihr Wesen und ihre persönlichen Ansichten auch sind, so unterschiedliche Wege schlagen die drei Frauen auch nach ihrer gemeinsamen Zeit in Nigeria ein. Nun, 30 Jahre später, treffen sie sich in Lagos wieder: Funmis Tochter Destiny wird heiraten, sehr traditionell, groß und pompös. Enitan, die mit ihrer Tochter Remi angereist ist, und Zainab merken jedoch schnell, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.

Der Roman wird in zwei Zeitebenen erzählt: In Rückblenden lässt Tomi Obaro das Nigeria der 80er Jahre aufleben. Zainab kämpft um ihre Liebe zum jungen Geschäftspartner ihres Vaters, Funmi lässt sich auf einen politischen Aktivisten ein, Enitan verliebt sich in einen weißen Amerikaner. Auf der einen Seite die traditionellen, gesellschaftlichen und religiösen Rollenverteilungen und Verpflichtungen junger Frauen in Nigeria. Auf der anderen Seite drei junge Studentinnen, die selbstbewusst und emanzipiert ihr Leben und ihre Zukunft aktiv gestalten und für ihre Ideale und Wünsche einstehen. – In der Gegenwart haben die Frauen jede auf Ihre Art mit den Herausforderungen des Lebens zu kämpfen, Höhen und Tiefen zu meistern. Schnell wird deutlich: Obwohl die drei Frauen sehr unterschiedliche Lebenswege eingeschlagen haben und weit voneinander entfernt leben, so ist ihre Freundschaft dennoch unerschütterlich und gefestigt.

Ein Buch wie ein Feuerwerk! Emotional und ergreifend, bunt, laut, heiß und am Ende ist man traurig, weil es schon vorbei ist! Grandios! Allein das Kopfkino beim Lesen der Hochzeitsfeier! Ein Knüller! Ein wundervolles Buch über Freundschaft, Selbstvertrauen, Mutter-Tochter-Beziehungen und inkl. tollem Glossar für all die Worte, die in Originalsprache beibehalten wurden. LESEN! LESEN! LESEN!

Bewertung vom 26.06.2022
Fischers Frau
Kalisa, Karin

Fischers Frau


sehr gut

Auf den Spuren Pommerscher Fischerteppiche - Mia arbeitet in Greifswald in einem Museum als Faserarchäologin. Als ihr Kollege ihr einen Pommerschen Fischerteppich mit den Worten „nicht, dass es eine Fälschung ist“ zur Überprüfung auf den Tisch legt, löst dies nicht nur eine Welle an privaten Erinnerungen in Mia aus, sondern auch den starken Drang, mehr über die Frau hinter diesem Kunstwerk zu erfahren. Mia begibt sich auf Spurensuche und ihre Wege führen sie mithilfe einer alten Teppichknüpferin nach Zagreb und zu Milan, der ihr bei der Suche nach den Ursprüngen des Teppichs und seiner Erschafferin seine Hilfe anbietet.

In zwei Zeitebenen wird hier gekonnt Historisches und Fiktion verknüpft. Da sind einerseits die Fischer, die Ende der 20er Jahre aufgrund eines Fischereiverbots das Teppichknüpfen in der Region entlang der Ostsee und zu einem regionalen Kunsthandwerk etablieren. Unter ihnen die – fiktive – Knüpferin unseres Teppichs, Nina Silke Strad, deren Geschichte hier nach und nach ans Tageslicht kommt. Und andererseits ist da Mia, deren ruhiges, bewusst eintöniges Lebens ins Wanken gerät, als ein Satz alte persönliche Wunden und Erinnerungen aufreißt. Beide Frauen stellen sich auf ihrer Art ihrem Schicksal und wachsen an diesen Herausforderungen.

Die Autorin schreibt in langen, kunstvollen Sätzen, die zum Teil sehr ausmalend und bildreich daherkommen. Jedes noch so kleine Detail wird in seine einzelnen Komponenten aufgespalten und hier und da hatte ich persönlich das Gefühl, dass ein Satz nur seines schönen Klangs wegen geschrieben wurde und nicht, weil er hier wirklich passte. Mich persönlich ermüdete dies eher ein wenig. Und auch die Hauptfigur Mia fand ich sehr unnahbar. Spannend fand ich allemal einen neuen Aspekt der deutschen Kunstgeschichte, der mir bis dato unbekannt war.

Bewertung vom 12.06.2022
Papyrus
Vallejo, Irene

Papyrus


ausgezeichnet

Eine Ode an das geschriebene Wort - Dieses Buch hat mich wie kein anderes in den letzten Jahren berührt. Es hat meinen Blick auf die Antike in Ägypten und Rom, auf die großen Protagonisten ihrer Zeit, auf ihr Leben, Denken und Handeln, gewandelt. Und es huldigt einer Erfindung, die für mich augenscheinlich so selbstverständlich war: dem Buch! Die Liebe und Leidenschaft der Autorin für Bücher und ihre Geschichte sind so allgegenwärtig in jedem einzelnen, sorgfältig formulierten Satz! Ich fühlte mich wie „eingesogen“ in dieses Buch. Es versetzte mich einen Moment an die Seite Alexanders des Großen. Es ließ mich durch die Säle der großen Bibliotheken der Antike schlendern. Es brachte mir einen neuen Blick auf die unzähligen Pflichtlektüren meiner Schulzeit. Ein wunderschönes, bis in jeden einzelnen Satz zauberhaft geschriebenes Buch und eine ganz große Leseempfehlung!

Bewertung vom 18.04.2022
Schallplattensommer
Bronsky, Alina

Schallplattensommer


gut

Guter Einstieg aber leider zu überfrachtet. Die fast siebzehnjährige Maserati wohnt allein mit Ihrer Großmutter in einem kleinen Dorf. Statt zur Schule zu gehen hilft sie ihrer Oma, die Dorfkneipe zu bewirtschaften. Als in der heruntergekommenen Villa in der Nachbarschaft Theo und Caspar einziehen, wird Maserati, die eher eine Alleingängerin ist, nicht nur mit deren Gegenwart konfrontiert, sondern auch mit zahlreichen Familiengeheimnisssen.
Alina Bronskys neuer Roman liest sich schnell und flüssig; ihr Schreibstil ist wie aus dem Leben gegriffen und trifft die Figur der Maserati und ihre Gefühlswelt sehr gut. Das Leben auf dem Land, in dem sie sich gefangen fühlt, die Sorgen um die Großmutter, die zunehmend verwirrt wirkt, die Begegnungen mit Theo und Caspar, die beide ein Geheimnis in sich tragen, ihre Freundschaft zu Georg, der Lehrer, der sie zurück an der Schule sehen möchte. Alle Figuren haben ihre Ansprüche und Forderungen an Alina, die mal mehr mal weniger überfordert mit ihrem Leben ist.
Und leider ist dies auch das „Ja-Aber“ des Buches für mich. Auf mich wirken die gut 190 Seiten des Romans überfrachtet mit Themen. Jede einzelne Figur des Romans hat ihr persönliches Ereignis, ihr Schicksal, was auf mich dann zu unrealistisch wirkte. Das mag bewusst als stilistisches Mittel gesetzt sein, um Maseratis überfordertes Leben darzustellen. Mich hat es aber eher enttäuscht, da zu viele angesprochene Themen angekratzt und dann nur oberflächlich abgehandelt wurden.

Bewertung vom 17.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


ausgezeichnet

Roman, der aufrüttelt! - Mélanie ist eine erfolgreiche YouTuberin, die regelmäßig Videos von ihren kleinen Kindern Sammy und Kimmy postet. Über die Jahre ist die Bekanntheit gewachsen, ebenso das Vermögen der Familie. Eines Tages dann verschwindet Kimmy beim Spielen vor der Wohnung spurlos und eine fieberhafte Suche, die von der Polizeibeamtin Clara begleitet wird, beginnt.
Das Ausmaß dieser Story hat mich von der ersten bis zur letzten Seite emotional sehr bewegt! Mélanie lebt ausschließlich in und für die sozialen Medien, erfährt dort „Liebe“ und „Anerkennung“. Ihre Welt ist diese Blase aus Likes und Emojis, aus Stories, Werbeverträgen und Lächeln in die Kamera, die erst durch den Erfolg ihrer Kinder entstand. Die beiden leben den Traum, der ihr verwehrt wurde und den sie nun über Umwege teilen darf. Wie kann man das nicht lieben? Die Kehrseite dieses Lebens scheint für sie nicht existent zu sein.
Dem gegenüber ist die Figur der Clara im Roman dezenter. Aber genau das ergibt den deutlichen Gegenpol zu Mélanie. Clara lebt sehr zurückgezogen und allein, ist viel mit ihren Gedanken und Gefühlen beschäftigt, hat ein sehr gutes Gespür für Nuancen in ihrem Umfeld, die sie „aufhorchen“ lassen.
Dieser Roman ist schnell, aufrüttelnd, stimmungsgeladen, weil er so viele Missstände anspricht: Überehrgeiz der Eltern, finanzielle Abhängigkeit, Verlust der Kindheit, Missbrauch von Kinderbildern im Netz, Depressionen. Gefühle von Wut, Fassungslosigkeit, Mitgefühl sind da schnell präsent. Die bittere Realität: Dieser Roman findet statt, täglich. Um es mit D. de Vigans Worten zu sagen: „Glauben Sie, ein Kind von zwei, vier oder zehn Jahren kann das wirklich wollen? Glauben Sie, ihm ist klar, was es tut?“ (S. 263)
Ein wichtiger Roman, der die richtigen Fragen stellt: Wie sehr lassen wir die sozialen Medien in unser Leben, wie „echt“ ist dieses Leben? Und wie können wir als Gesellschaft diejenigen schützen, die es selbst für sich nicht können?

Bewertung vom 07.03.2022
Im Rausch des Aufruhrs
Bommarius, Christian

Im Rausch des Aufruhrs


ausgezeichnet

1923 - Ein Schicksalsjahr - 1923 ächzt Deutschland unter dem Versailler Vertrag, das Ruhrgebiet wird durch die Franzosen belagert und es kommt zum passiven Widerstand der Arbeiter. Die Inflation steigt ins Unermessliche, die Menschen verlieren ihre Ersparnisse und Jobs. Armut durchdringt einen immer größer werdenden Teil des Landes. Entsprechend unsicher und destabil ist die noch junge Weimarer Republik, die sich zunehmend linken wie auch rechten Gesinnungen ausgesetzt sieht. 1923 endet mit einem gescheiterten Putsch-Versuch und bringt Adolf Hitler zunächst ins Gefängnis. – Es ist aber auch ein Jahr der Kulturschaffenden, des Beginns einer Blütezeit von Unterhaltung, Musik, Theater, exzessiven Abendveranstaltungen, in dem gerade die Frauen sich mehr und mehr „befreien“. – Und dann, über allem, immer wiederkehrend der trügerische Nebel des Antisemitismus in Deutschland.
Christian Bommarius hat großartig die Stimmung eines Landes im Großen wie im Kleinen eingefangen: die Gegensätze von Opulenz und bitterer Armut, die Zusammenhänge aus Belagerung, Inflation und politischen Unruhen, die kulturellen Auseinandersetzungen mit der Gegenwart, die durch Personen wie Bertolt Brecht, Heinrich und Thomas Mann oder auch Hans Fallada verkörpert werden. Der erschreckend offene Antisemitismus, der gerade durch die Schilderung persönlicher Schicksale unfassbar eindringlich ist.
Kurzweilig und unterteilt in 12 Monate und ein „Was weiter geschah“ beschreibt der Autor die Ereignisse und kleinen Anekdoten, immer wieder gespickt von einigen Fotos. Ich war sehr begeistert von dem Buch! Sehr große Leseempfehlung.

Bewertung vom 21.02.2022
Die Feuer
Thomas, Claire

Die Feuer


sehr gut

Drei Frauen, eine Begegnung. Draußen wüten gefährliche Feuersbrünste, drinnen in einem Melbourner Theater schauen sich drei Frauen das Stück „Glückliche Tage“ von Samuel Beckett an. Summer ist eine junge Platzanweiserin im Theater, die große Angst vor allem, gerade aber insbesondere um ihre Freundin April hat. Margot ist eine Literaturprofessorin, die sich mit dem nahenden Ruhestand ebenso auseinandersetzen muss wie mit der unterkühlten Beziehung zu ihrem Sohn und ihrem dementen und damit einhergehend leicht aggressiven Ehemann. Ivy, ehemalige Studentin von Margot, ist in den Vierzigern und eine vermögende Wohltäterin, die mit ihrem scheinbar perfekten Leben und einem schweren Verlust in der Vergangenheit hadert. In der Pause des Stücks kreuzen sich für einen kurzen Moment ihre Leben.
Ich liebe Romane, die von den scheinbar kleinen Begegnungen erzählen, die dann große Dinge bewirken. Entsprechend neugierig war ich auf dieses Buch, übersetzt von Eva Bonné. Die drei Figuren sind toll herausgearbeitet und jede für sich genommen sehr überzeugend in ihren Ängsten, ihren Zweifeln und ihrer herausfordernden Situation dargestellt. Dazu kommt eine packende und sehr intensive Atmosphäre: Ein schier erdrückender Gegensatz von Hitze, Rauch, Schweiß und Angst draußen im brennenden Hinterland und dann die Kühle, fast schon Kälte und Distanziertheit drinnen im Theater. Und damit noch nicht genug läuft die ganze Zeit eine abstrakte Inszenierung von Becketts Stück, die gefühlt wie eine zweite Handlung als Glocke über der Hauptstory liegt – und sich gleichzeitig in die Gedanken der drei Figuren einwebt.
Leider konnte mich der Roman dennoch nicht vollends überzeugen. Die Figuren sind wirklich toll, allein ihre inhaltliche Zusammenführung in der Pause blieb jedoch für meinen Geschmack zu dünn. Genau hier wurde es interessant und ein intensiveres Ausarbeiten dieses Treffens wäre sicherlich sehr spannend gewesen. Stattdessen ging es zurück in den Saal und die Figuren verliefen sich dann sehr abrupt. Auch fand ich persönlich die zahlreichen Beckett-Einblendungen einfach zu dominant.

Bewertung vom 16.02.2022
Kleine Philosophie der Begegnung
Pépin, Charles

Kleine Philosophie der Begegnung


sehr gut

Begegnungen inspirieren unser Leben - Das Buch „Kleine Philosophie der Begegnung“ von Charles Pépin setzt sich in einer philosophischen Betrachtung mit den Begegnungen unseres Lebens auseinander. Was macht eine Begegnung – im Vergleich zu einem „normalen“ Treffen aus? Was ist daran so besonders und inwieweit prägen uns diese zum Teil kurzen, schlichten Momente? Welche Chancen offenbaren sie uns? Anhand wunderbarer Beispiele aus Musik, Literatur, Geschichte stellt der Autor die verschiedenen Ausprägungen von Begegnungen dar: in der Liebe, im Beruf, in der Kultur, etc. Und er zeigt auf, welche neuen Möglichkeiten und Erfahrungen mit diesen Begegnungen einhergehen können, wenn ich dafür offen und zugänglich bin. Herrlich!
Das Buch ist nicht als Ratgeber zu verstehen, sondern eher als philosophische Betrachtung der vielen Möglichkeiten, die Begegnungen mit sich bringen. Sicherlich lassen sich aber aus den Ausführungen für jede Leserin und jeden Leser eigene, individuelle Inspirationen ableiten. Dazu kommt das Büchlein mit einer Vielzahl von Quellen und weiteren Literaturstellen daher, die die Thematik vertiefen oder auch die genannten Beispiele detaillierter darstellen.

Bewertung vom 29.01.2022
Erschütterung
Everett, Percival

Erschütterung


ausgezeichnet

Emotionale Erschütterung und große Leseempfehlung
Wow! Percival Everett konfrontiert uns mit der größten Erschütterung, die Eltern erfahren können. Und trotz einer oftmals eher nüchternen Sprache sind viele Sätze, Gedanken eine Qual, so feinfühlig und gleichzeitig schonungslos ehrlich sind sie.
Der Paläontologe Zach Wells ist ein eher kühler, sachlicher Mensch, der Situationen analytisch begegnet und stets nach Lösungen sucht. Entsprechend nüchtern scheint da auch seine Ehe mit Meg. Allein in seiner Liebe zur gemeinsamen 12-jährigen Tochter Sarah ist er ein anderer, sehr emotionaler und liebevoller Mensch. Als die Eltern die Diagnose einer schweren, nicht heilbaren Erbkrankheit für ihre Tochter erhalten, bricht für Zach eine Welt zusammen. Er flüchtet sich in die wahnwitzige Idee, einem Hilferuf, den er in einer online erworbenen Second-Hand-Jacke gefunden hat, nachzuspüren.
Dieses Buch hat mir das Herz gebrochen! Hier ist ein Vater, der seine Tochter auf das Leben mit all seinen Facetten vorbereiten, sie aufwachsen sehen will. Stattdessen sieht er sich nun mit der ausweglosen Situation konfrontiert, sich selbst auf ihren nahen Tod vorbereiten zu müssen und dabei gegen die Zeit und gegen das Vergessen zu spielen. Sprachlich setzt Percival Everett dies, übersetzt durch Nikolaus Stingl, wunderschön um. Wir lernen den Hochschulprofessor kennen, der stets nüchtern und lösungsorientiert agiert. Der teilweise abgeklärt und grob wirkt. Dann aber eben auch den in seiner ganzen Existenz erschütterten Vater, der in teils sehr feinfühligen, poetischen und vorsichtigen Worten, dann wieder in erschütternd offener Sprache die Realität in Worte fasst. Der uns an seinem unsäglichen Kummer teilhaben lässt und versucht, Worte für das Unfassbare zu finden. Dessen Lebenskonstrukt von einem Tag auf den anderen nicht mehr funktioniert. Der Hilferuf in der Jacke, der mir anfangs wie eine schräge Idee des Autors erschien, fügte sich so im Laufe des Buches quasi wie eins von vielen Puzzleteilen in das Gesamtbild ein.
Selten hat mich Sprache so mitgenommen, selten hat ein einziges Wort, ein Titel, so überwältigend ein Buch beschrieben. Eine ganz große Leseempfehlung, jedoch mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass das Thema Kindstod sicherlich nicht für jede*n Leser*in geeignet ist.