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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Desiree
Wohnort: 
Wanne-Eickel

Bewertungen

Insgesamt 123 Bewertungen
Bewertung vom 03.10.2023
Die weite Wildnis
Groff, Lauren

Die weite Wildnis


ausgezeichnet

Anfang 17. Jahrhundert in Nordamerika, ein Mädchen flieht aus einer Siedlung in die Wildnis. Wäre sie geblieben, wäre sie verhungert oder schlimmeres, denn sie ist nur eine Dienerin und eine Frau noch dazu. Da schein die Wildnis, auch wenn es Winter ist, die bessere Wahl. Die Schrecken, die dort auf sie lauern, nimmt sie lieber in Kauf als die Grausamkeit ihres eigenen Volkes. Sie rastet nur, wenn es sein muss; isst, was sie findet; hastet immer weiter in eine ungewisse Zukunft.
"Die weite Wildnis" von Lauren Groff hat mich tief beeindruckt. Es mein erstes Buch der Autorin und ich freue mich schon auf die Vorgänger und Nachfolger. Eigentlich lese ich nicht so gern historische Romane, aber dieser hat mich schon auf den ersten Seiten überzeugt. Das Mädchen, das zwar einen Namen hat, sich selbst aber so nennt, ist außergewöhnlich und hatte es nie leicht in ihrem kurzen Leben, nicht im Waisenhaus, nicht bei ihrer Dienstherrin und schon gar nicht in der neuen Welt. Vielleicht hat sie deshalb so ein enormes Durchhaltevermögen und eine beispiellose Stärke entwickelt. Sie musste all das Durchmachen, was Frauen widerfährt und noch viel mehr. Sie resümiert ihr Leben auf der Flucht. Durchbrochen werden ihre Gedanken durch ihre Eindrücke der Natur, die so nah geschildert werden, dass ich die Kälte spüren konnte.
Anfangs musste ich in die passend gewählte, altertümlich Sprache finden, aber danach flog ich durch die Seiten wie das Mädchen über die Weite - ebenso gehetzt wie sie, denn ich wollte wissen, was mit ihr passiert und hatte immer die Hoffnung, dass es gut ausgeht. Sprachlich ist es, wie ich erwartet hatte, on Point.
Es ist ein bemerkenswerter Roman, der absolut rund ist und auch wenn er ein trauriges Ende hat, hätte es kein anderes geben können.
Ich frage mich nur, warum das Mädchen diesen blöden Nagel nicht aus dem Stiefel gezogen hat…

Bewertung vom 01.10.2023
Dich zu verlieren oder mich
Qaderi, Homeira

Dich zu verlieren oder mich


ausgezeichnet

Homeira Qaderi schreibt von ihrer Kindheit und Jugend in Afghanistan. Wie sie erst die Besetzung der Russen überstanden hat und später die Gewaltherrschaft der Taliban, die den Frauen, die wenigen Rechte, die sie hatten, auch noch weggenommen haben. Sie wurde verheiratet, damit ein Talib sie nicht entführen konnte und sie zog mit ihrem Mann nach Teheran, wo sie so etwas wie Freiheit erfuhr. Sie studierte, schrieb und konnte endlich leben. Bis ihr Mann zurück wollte, in das Land, das er als Heimat bezeichnete, für Homeira aber nur Einschränkungen bedeutete bis dahin, dass sie eine zweite Ehefrau akzeptieren sollte.
"Dich zu verlieren oder mich" ist das schmerzhafteste Buch, das ich seit langem gelesen habe, denn Homeira Qaderi hat es so erlebt. Sie hat Krieg und Belagerung erlebt, wie Schulen für Mädchen geschlossen wurden und sie das Haus nicht mehr verlassen durften, wie ihnen jede Freiheit genommen wurde, weil Männer das so beschlossen haben. Sie erlebt sexuelle Übergriffe, natürlich, den auch eine Burka schützt Frauen davor nicht. Und sie musste hinnehmen, dass ihr der Sohn genommen wurde, weil die Mutter nichts wert ist und er zu seinem Vater gehört. Diese Schilderungen sind schlimm und mein Herz hat sich oft verkrampft, nur die Briefe an ihren Sohn, die jedes Kapitel beenden und Homeiras Stärke haben mich nicht komplett verzweifeln lassen.
Jedes einzelne Kapitel hat mir nochmal verdeutlich wie privilegiert wir in der westlichen Welt sind, trotz der Ungleichheit, die immer noch herrscht und es zeigt, dass das Patriarchat immer wieder Wege suchen wird, die Freiheit von Frauen einzuschränken. Wir sollten den Blick öfter in solche Regionen richten, um uns zu vergegenwärtigen, dass es natürlich auch schlimmer sein könnte, aber das es endlich Zeit für Veränderung ist und zwar global, nicht nur in unserem kleinen Kosmos.
Ich bin sehr froh, dass ich dieses Buch lesen durfte, denn ich habe eine außergewöhnliche Schriftstellerin kennengelernt.

Bewertung vom 29.09.2023
Die Wahrheiten meiner Mutter
Hjorth, Vigdis

Die Wahrheiten meiner Mutter


schlecht

Johanna hat ihre Familie verlassen. Sie ist vor über 30 Jahren in ein neues Leben aufgebrochen, was sie zum schwarzen Schaf der Familie macht. Sie hat den Kontakt verloren, aber er wird ihr auch verwehrt und sie kann sich nicht von dem Gedanken lösen, was für eine schlechte Tochter sie ist und wie ihre Mutter und ihre Schwester sie sehen könnten.
„Die Wahrheiten meiner Mutter“ von Vigdis Hjorth hatte sich vielversprechend angehört. Mutter-Tochter-Beziehung sind immer interessant, weil sie nie einfach sind, doch der Roman hat mich nicht abgeholt. So wenig, dass ich ihn nach 100 Seiten abgebrochen habe. Erst dachte ich, es muss doch was passieren, jetzt passiert endlich was, aber dann fantasiert Johanna doch nur Tagesabläufe der Mutter, ergeht sich ihn Mutmaßungen, denkt daran zur Mutter zu gehen, ruft sie sogar an, aber ohne tatsächlich in Kontakt zu treten. Alles nur aus Johannas Sicht, keine Resonanz von Seiten der Mutter oder Schwester und beim Vorblättern hab ich auch keine gefunden. Natürlich könnte da noch etwas kommen, aber ich werde nicht noch weitere 300 Seiten lesen, nur um darauf zu warten.
Hinzukommt, dass fast alles erzählend geschildert wird, nur wenige Szenen, die kaum Spannung aufbauen. Ich weiß nach diesen 100 Seiten bereits, was passiert ist, warum es zum Zerwürfnis kam und wundere mich, warum Johanna diese Verbindung plötzlich so wichtig ist, immerhin hat sie die letzten 30 Jahre auch nicht nach einer Lösung gesucht. Sie verbeißt sich lieber in der Verbitterung, die sie Mutter und Schwester unterstellt.
Ich verstehe durchaus, warum Vigdis Hjorth es so erzählt, dermaßen auf diesem Zerwürfnis herumreitet, denn so ist es mit der Familie. Man kann sie nur schwer abstreifen, sich schwer von ihr lösen. Sie bleibt ein Teil von einem. Die Frage ist nur, warum sich darin über 400 Seiten suhlen?

Bewertung vom 24.09.2023
Die Regeln des Spiels
Whitehead, Colson

Die Regeln des Spiels


ausgezeichnet

Ray Carney, aus „Harlem Shuffle“, ist zurück. Diesmal sind es die 70er und Harlem steht buchstäblich in Flammen. Um Karten für ein Jackson 5 Konzert zu bekommen, lässt er sich wieder auf den korrupten Cop Munson ein, obwohl er es besser wissen sollte und eigentlich rechtschaffen geworden ist. Und auch wenn er mit einem blauen Augen aus diesen Verstrickungen herauskommt, ist er zurück in der Welt der Kriminalität.
Das ist nur der erste Teil von „Die Regel des Spiels“ von Colson Whitehead, zwei weitere folgen. Nicht nur Ray Carney taucht wieder auf, sondern auch Pepper. Bekannt eindrücklich entführt Whitehead die Leser*innen in das Harlem der 70er Jahre, wo Gewalt und Korruption an der Tagesordnung sind, Schutzgeld zu zahlen das Leben rettet und es etwas besonders ist, wenn man als POC nichts Kriminelles tut. Whitehead ist ein Meister der Graustufen, nichts ist nur gut oder böse - überall steckt auch ein Funken des anderen drin. Das zeigt er vor allem in seinen Figuren, die einem so auf der Straße begegnen könnten und trotzdem im Gedächtnis bleiben.
„Die Regeln des Spiels“, dessen Titel ich im Original („Crook Manifesto) viel besser finde, thematisiert Grauenvolles und Brutales, aber Whitehead macht das mit so viel Witz, im Szenischen, wie im Sprachlichen, dass es eher wie ein Slapstick-Ganoven-Roman wirkt. Darauf muss man sich einlassen, nicht nur Thematisch. Es ist kein Buch für nebenher, es verlangt Konzentration und manchmal bin ich über komplizierte Formulierungen gestolpert, die allerdings auch der Übersetzung geschuldet sein können.
Ich frage mich ein weiteres mal, wann wird Whiteheads Harlem endlich verfilmt.

Bewertung vom 22.09.2023
Zeiten der Langeweile
Becker, Jenifer

Zeiten der Langeweile


ausgezeichnet

Mila steigt aus. Nicht komplett, aber aus dem Internet. Das ist schwieriger als gedacht. Erst muss sie sich um die ganzen Abmeldung und Social Media kümmern. Doch das ist ihr nicht genug. Sie will sich komplett löschen, jeden digitalen Fussabdruck entfernen, was als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Millennial nicht einfach ist. Danach wird es auch nicht leichter, denn das Internet scheint unverzichtbar, im Alltag , sowie für das Sozialleben. Sie rutscht in die Einsamkeit und in die Paranoia, denn überall wähnt sie sich gefilmt, was ungewollt gepostet werden könnte.
„Zeiten der Langeweile“ von Jenifer Becker ist ein spannendes Buch, welches am Puls der Zeit ist. Es spielt zur Pandemie und befasst sich mit Corona, Querdenkern, dem Krieg und vor allem der Gesellschaft, die mit dem Internet verschmolzen zu sein scheint. Da ist es kein Wunder, dass das Ablösen vom WorldWideWeb schmerzhafter ist als ein offener Bruch.
Jenifer Becker entpuppte sich als erstklassige Erzählerin, die allerdings viel von der Leserschaft im Hinblick auf popkulturelle Kenntnisse und eigene Reflexionen, abverlangt. Sie schenkte mir einen differenzierten Einblick in den Umgang mit dem Internet und Social Media, welches ich zugegebenermaßen mehr konsumiere als bespiele.
Ich habe mich oft in Mila wiedererkannt, was nicht nur am Alter liegt. Ich bin genauso mit dem Internet groß geworden, es war ein schleichender Prozess und zack ist man abhängig. Ich nutze es jeden Tag, es erleichtert mein Leben und es gibt auch von mir uralten Content. Diese Erkenntnisse haben bei mir ein Druckgefühl in der Brust ausgelöst und ich habe vieles hinterfragt. Dadurch das Mila immer mehr in die Paranoia abdriftet, was ich nur am Rande nachvollziehen konnte, wurde ich allerdings davor bewahrt, ähnlich radikale Schritte einzuleiten, aber zum Nachdenken hat es mich dennoch gebracht und ist definitiv ein beachtenswertes Debüt!

Bewertung vom 14.09.2023
Männer töten
Reisinger, Eva

Männer töten


ausgezeichnet

Anna Maria lebt in Berlin, glücklich ist sie nicht. Dass sie das ausgerechnet im österreichischen Engelhartskirchen wird, hätte sie nicht gedacht. Was nicht nur an Hannes, ihrem neuen Freund, liegt, sondern an der Dorfgemeinschaft, die überwiegend aus sich unterstützenden Frauen besteht. Hier fängt Anna Maria an zu heilen, denn aus ihrer letzten Beziehung ist sie versehrt herausgegangen und schlimmer noch, Friedrich lässt sie nicht in Ruhe.
„Männer töten“ von Eva Reisinger wollte ich unbedingt lesen, denn schon der Titel schreit „Smash the Patriarchy“ und Engelhartskirchens Matriarchat ist schon Grund genug zu diesem Buch zu greifen. Eva Reisinger beschreibt die schmerzhafte Realität vor der wir immer noch zu oft die Augen verschließen. Wir wollen nicht, dass Frauen Opfer werde, aber machen sie dafür verantwortlich, wenn es passiert anstatt beim Täter anzufangen. Täter werden noch immer in Schutz genommen, auch von Frauen, dabei hat (meiner Meinung nach!) schon jede (!) Frau Übergriffe erlebt. Aber das wird hingenommen. In Engehartskirchen nicht.
Wie Frauen mit Übergriffen umgehen, wird in Anna Maria, aber auch in den andern auftretenden Frauen deutlich und ist schmerzhaft. Ich finde es am schlimmsten, wenn diesen Überlebenden nicht geglaubt wird, daher freut mich die Solidarität unter den Frauen besonders und erst recht, dass sie zurückschlagen.
Eva Reisinger Stil ließ mich nur so über die Seiten fliegen, beschreibend aber nicht zu ausufernd, kommt sie schnell auf den Punkt. Nur das Ende lässt mich etwas ratlos zurück, wobei nicht das eigentliche Ende, sondern das letzte Kapitel, das ich irgendwie nicht einordnen konnte.
Nichtsdestotrotz freue ich mich, dass „Männer töten“ für den österreichischen Buchpreis in der Kategorie Debüt nominiert ist, denn wir müssen mehr darüber sprechen, lesen, hören!

Bewertung vom 10.09.2023
Kleine Probleme
Pollatschek, Nele

Kleine Probleme


ausgezeichnet

Lars, ist 49, hat einen erwachsenen Sohn, eine Teenagertochter und ist momentan Strohwitwer. Kurz bevor Johanna aus Lissabon zurückkommt und auch Tochter Lina, will er endlich Dinge erledigen. Das fällt ihm schwer, aber er will sich ändern und wann kann man das besser als zwischen den Jahren. Nur leider bekommt er das auch mit der selbst auferlegten Deadline nicht hin und steht am 31. Dezember vor einem Container unerledigter Sachen: Steuern, Haus in Ordnung bringen, Nudelsalat machen, Lebenswerk schreiben. All die Dinge, die er vor kurzem oder sein ganzen Leben lang immer wieder aufgeschoben hat, greift er an.
Nele Pollatschek hat mit „Kleinen Problemen“ ein wunderbaren Roman geschrieben, der mich oft zum Lachen gebracht hat, aber auch zum Nachdenken. Mit Lars konnte ich mich mehr als identifizieren, ich halse mir auch oft zu viel auf, verzettle mich und verfalle in Lethargie, das hat Lars sogar perfektioniert. Prokrastination kennen wir wohl alle, aber Lars Gedanken springen so schnell hin und her, er kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen und wieder zurück, das ich manchmal fast den Überblick verloren hätte. Amüsant war es trotzdem, auch wenn ein wenig Trauer mitschwingt, weil Lars sein ganzes Leben nur geträumt hat, anstatt einfach zu machen und nicht alles zu zerdenken. Das ist auch die Kernbotschaft, die ich aus dem Roman für mich mitnehme.
Nele Pollatschek beweist ihr schriftstellerisches Talent in banalen Alltagssituationen, die sie mit viel Witz beschreibt. Manchmal war es etwas viel, etwas lang, aber genau so ist Lars. Er lebt mit diesen Gedankensprüngen und verfängt sich durch sie in seinem Leben. Anfangs vermutete ich nur eine lustige Geschichte und einen Protagonisten in dem ich mich wiedererkennen kann, aber der Roman ist viel tiefer, wenn man sich darauf einlässt.
Und ein tolles Beispiel, dass Frauen sehr gut mit männliche Protagonisten arbeiten können.

Bewertung vom 04.09.2023
Eigentum
Haas, Wolf

Eigentum


gut

Wolf Haas’ Mutter liegt im Sterben und er rekapituliert ihr Leben. Allerdings nicht in Gänze. Sein Augenmerk liegt auf ihren Erzählungen und er lässt sie selbst oft zu Wort kommen. Er denkt über sie nach, über ihre Eigenheiten und Marotten, über ihre Wünsche. Ihr größter Wunsch, den eines Eigenheims, erfüllt sich erst nach ihrem Tod mit dem eigenen Grab.
Viel zum Inhalt von „Eigentum“ von Wolf Haas kann ich nicht sagen. Es geht halt um seine Mutter. Er wiederholt, was sie ihm erzählt hat, von den Irrtümern ihres Großvaters, der immerwährenden Inflation, vom Servierkurs, von ihrer Zeit in der Schweiz und vom Krieg. Ihr gemeinsames Leben schildert Haas selbst, wobei er ihre Eigenarten hervorhebt, zum Beispiel ihre dreimaligen Wiederholungen beim Sprechen, was zu ihrem Merkmal wurde. Marianne wurde durch seine Schilderungen präsent, erwachte um ihren Tod herum für mich zum Leben.
Auch wenn der Tod eigentlich ein schwermütiges Thema ist, gehört er bei einer 94 Jährigen, die ein ereignisreiches Leben hatte, dazu. Haas erzählt mit viel Liebe und Witz von ihr, was den Roman zu einer Liebeserklärung an die Mutter macht. Sprachlich ist es natürlich gut, Wolf Haas hat unzählige Bücher geschrieben, meist Krimis, aber auch den ein oder anderen Roman, von daher weiß er, was funktioniert und was sich gut lesen lässt. Manchmal fand ich den Dialekt der Mutter, wenn er sie direkt zu Wort kommen lässt, etwas anstrengend, aber das macht es auch authentisch. Es gab einige Längen, gerade zum Schluss, obwohl es nur 157 Seiten sind.
Was ich bemerkenswert fand und was mir sehr gut gefallen hat, war des Fehlen von eher männlich konnotierten Themen (Sexismus, Männlichkeit, Machtgehabe), die auch absolut fehl am Platz gewesen wären und es ist schon traurig, dass mir sowas bei einem Autor direkt ins Auge springt und mir erwähnenswert erscheint. Aber es zeigt auch, es geht auch anders liebe Autoren.

Bewertung vom 03.09.2023
All die Liebenden der Nacht
Kawakami, Mieko

All die Liebenden der Nacht


sehr gut

Fuyuko ist 34 und geht ganz in ihrer Arbeit als Korrekturleserin auf. Das ist nicht schwer, denn sie geht nicht aus, hat keine Freund*innen, keine Hobbys. Erst als sie über ihre neue Arbeit Hijiri kennenlernt, beginnt sie ein wenig aufzutauen. Dafür nutzt sie Bier und Sake und wird dadurch zu einer anderen Person, naja nicht komplett anders, aber sie traut sich mehr, unternimmt Dinge, lernt sogar einen Mann kennen, in den sie sich verliebt. Doch ihre Gefühle scheinen so verkümmert, dass sie ihnen nicht traut.
„Alle Liebenden der Nacht“ von Mieko Kawakami ist mein erstes Buch dieser zurecht gefeierten japanischen Autorin und ich bin froh „Brüste und Eier“ bereits auf meinem Sub liegen zu haben. Mit Fuyuko hat sie eine Protagonistin geschaffen, die durch die Welt schwebt ohne anzuecken, aber auch ohne sich selbst richtig wahrzunehmen, da hilft auch der Alkohol nicht. Dabei verherrlicht der Roman mitnichten dessen Konsum. Sehr zart schildert Fuyuko als Ich-Erzählerin ihre Zweifel, ihre Suche, Ängste und Erfahrungen, die durch eben dieses Zartheit besonders ans Herz gehen.
Doch in dem Roman steckt noch viel mehr. Er ist bereits 2011 in Japan erschienen und enthält feministische Themen, die heute vielleicht in aller Munde sind, aber damals noch eher in abgegrenzten Bubbles zu finden waren. Diese sind ganz subtil in die Geschichte eingeflochten, man nimmt die Botschaft beiläufig auf: wie unnötig Zickenkrieg ist, wie eine Frau zu sein hat, was Partnerschaft, Ehe und Kinder zu bekommen bedeutet. Es wird die Lebensrealität von Frauen geschildert, die sich durchbeißen, aber auch die sich anpassen. Es ist ein Einblick in die weibliche japanische Kultur und wie Frauen untereinander agieren. Das alles schafft Mieko Kawakami mit der schüchternen Fuyuko, was umso eindrucksvoller ist.
Und obwohl es sich lange so anfühlt als wäre „All die Liebenden der Nacht“ eine Liebesgeschichte, so enthält sie doch einen viel wichtigeren Kern: das Erkennen des eigenen Selbst.

Bewertung vom 01.09.2023
Nichts in den Pflanzen
Haddada, Nora

Nichts in den Pflanzen


ausgezeichnet

Leila versucht ein Drehbuch zu schreiben, die Betonung liegt auf versucht, denn es gelingt ihr einfach nicht. Alles fängt gut an. Durch Leon, ihren neuen Freund, bekommt sie Kontakt zu Produzentin Lenka, die das Drehbuch verfilmen will, aber Änderungen verlangt und die Fertigstellung. Also versucht Leila es, mal mehr, mal weniger. Alles lenkt sie ab, erst Leon, dann Partys, ein andere Mann. Immer wieder verfällt sie in einen Arbeitsrausch aus dem nichts hervorgeht. Und dann ist da auch noch Aischa, die in allen Belangen eine direkte Konkurrenz für Leila darstellt.
„Nichts in den Pflanzen“ von Nora Haddada wollte ich unbedingt lesen, weil Benedict Wells einen Blurb geschrieben hat und ich wurde nicht enttäuscht. Anfangs war ich verwirrt, denn es las sich wie eine Liebesgeschichte, auch wenn Leila Leons Katze auf dem Gewissen hat. Aber mit Liebe hat das nichts zu tun, Leon ist nur Mittel zum Zweck und zwar die ganze Zeit, so wie alle Menschen in Leilas Umgebung. Die Oberflächlichkeit und das Geschwafel der Kreise in der Leila sich bewegt, ist ansteckend und daher auch kein Wunder, dass sie es nicht schafft sich hinzusetzen und voranzukommen. Ihr fliegt schon alles zu, aber sie erkennt es nicht und schöpft ihre Inspiration aus dem Leid der Anderen, vielleicht auch aus ihrem eigenen. Sie ist kaputt.
Leila würde ich ungern begegnen, ich habe sie nicht gemocht. Ihre Berechnung, ihre Gehässigkeit, ihre Ignoranz und ihr Überzeugung, dass es alle besser als sie haben, obwohl sie es nicht leichter haben könnte. Ich hab mir gewünscht, dass sie endlich auf die Fresse fliegt, mal Konsequenzen erfährt und das tut sie.
Nora Haddada hat ein beeindruckenden Roman abgeliefert, was nicht verwunderlich ist, da sie schon viel Erfahrungen gesammelt hat, die sie offensichtlich hat einfließen lassen. Sie ist eine neue erfrischende Stimme in der Literatur und ich freue mich schon mehr von ihr zu lesen.