Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
EOS
Wohnort: 
Siegen

Bewertungen

Insgesamt 220 Bewertungen
Bewertung vom 28.11.2022
Als die Welt zerbrach
Boyne, John

Als die Welt zerbrach


ausgezeichnet

Wo sind die Grenzen der Schuld?
Den ersten Teil 'Der Junge im gestreiften Pyjama' fand ich sehr ergreifend, habe den Film dazu mehrere Male geschaut und mich immer wieder gefragt, was wohl mit den Hauptcharakteren nach Kriegsende geschah (natürlich mit Ausnahme von Bruno). Als ich gelesen habe, dass es eine Fortsetzung gibt, war ich sehr gespannt und wurde nicht enttäuscht. Das Buch ist sehr ergreifend und beschäftigt den Leser auch über die Lektüre hinaus.
Brunos Schwester Gretel ist mittlerweile über 90 Jahre alt, verwitwet, lebt alleine in London, hat sporadischen Kontakt zu ihrem Sohn und ein paar anderen Bekannten. Natürlich hat sie nie die dramatischen Ereignisse von damals vergessen können, ganz im Gegenteil haben sie ihr ganzes Leben geprägt. Vor allem empfindet sie tiefe Schuldgefühle, sie kann sich nicht davon befreien, ihr ganzes Leben wird davon durchtränkt und verhindert entspanntes Glücklichsein. "Schuld schlich sich in jeden glücklichen Moment und flüsterte einem ins Ohr, dass man kein Recht auf dieses Glück habe" (S. 139).
Sehr geschickt wechselt der Autor immer wieder die Perspektive zwischen heute und der Vergangenheit, wobei wir nach und nach immer mehr über Gretels Leben erfahren. Dieses Leben war geprägt von Einsamkeit und tiefen Schuldgefühlen. Sie hat zwar immer einzelne Menschen an ihrer Seite, aber nur ganz wenigen gegenüber öffnet sie sich , um ihr Gewissen zu erleichtern und sich zu erklären. Sogar das Verhältnis zu ihrem Sohn ist distanziert, sie kann keine Nähe zu ihrem Kind entwickeln, denn immer ist die Erinnerung an Brunos dramatisches Lebensende präsent und an die furchtbaren Geschehnisse überhaupt. Gretel versucht zu vergessen, aber die Schuldzuweisung an sich selbst ist zu dominant.
Das Buch ist sehr spannend geschrieben, fesselnder als so mancher Krimi. Besonders wenn sich die Lage wieder mal zuspitzt, hält man die Luft an. Auch in Lesepausen beschäftigte mich der Inhalt. Am liebsten hätte ich das Buch nicht aus der Hand gelegt, der zweite Band ist eine gleichwertige Fortsetzung des Vorgängers.
Meine Meinung über Gretel ist zwiegespalten, wobei mir die ältere Gretel deutlich sympathischer ist. Als junge Frau wirkt sie neben ihren Selbstvorwürfen irgendwie selbstverliebt und fordernd, während sie als ältere Frau zwar immer noch dominant ist, aber ein selbstbestimmtes Leben führt.
Das Buch hat mich tief beeindruckt, seine Spuren hinterlassen und verdient zweifellos fünf Sterne.

Bewertung vom 23.11.2022
This Charming Man
McDonnell, C. K.

This Charming Man


weniger gut

Von Aufregung keine Spur
Vampire in Manchester? Das kann doch nicht sein, und trotzdem gibt es Vorfälle und Anhaltspunkte dafür. Die Polizei in Manchester und die Mitarbeiter der Stranger Times sind in heller Aufregung. Da gibt es Mitbürger, denen plötzlich lange Eckzähne wachsen, und man findet andererseits ausgesaugte Menschen. Man ist sich aber sicher, dass es keine Vampire gibt...
Ich habe mich von dem Hype um dieses Buch anstecken lassen, obwohl Vampirbücher mich schon lange nicht mehr interessieren. Aber immer wieder las man vom schrägen Black Humour, den ich sehr mag, so dass ich das Buch auch lesen wollte.
Leider habe ich mich durch die Seiten gequält, ich fand das Buch recht langatmig und gefesselt hat es mich überhaupt nicht. Vielleicht liegt es daran, dass ich den ersten Teil nicht gelesen habe, so dass mir die Grundlage fehlt. Ich werde das aber sicherlich nicht nachholen.
Gut, es gab Szenen, bei denen ich schmunzeln musste, z.B. in der Bibliothek mit Mrs Corry, aber jegliche Spannung hat mir gefehlt. Vieles empfand ich nur als Füllmaterial, ohne Bezug.
In den Beschreibungen und besonders in den Dialogen findet sich skurriler Humor, der aber in meinen Augen ohne Zusammenhang aneinandergereiht wird. Alle Charaktere haben irgendwelche Marotten, wirklich sympathisch ist mir keine und warm geworden bin ich auch mit keiner.
Alles in allem bin ich bei diesem Buch nie in einen richtigen Lesefluss gekommen und war am Ende einfach nur froh, dass ich es durchgehalten habe. Das passiert mir äußerst selten, und den nächsten Band werde ich mir nicht antun.

Bewertung vom 06.11.2022
Café Leben
Leevers, Jo

Café Leben


ausgezeichnet

Maske der Gleichgültigkeit
Henrietta Lockwood, 32 Jahre alt, lebt nach starren Regeln und scheut Kontakte. Nur ihre Eltern zählen zu ihren festen Kontakten, aber auch dieses Verhältnis ist unterkühlt und wirkt erzwungen. Sie hat ihren Job verloren, da sie anderen Menschen gegenüber empathielos ist und sich auch so verhält. Ihr einziger Freund ist ihr Hund Dave, der auch ein Außenseiter ist, da Henrietta ihn als unverträglich deklariert und mit ihm nur ihre eigenen Wege geht.
Nun hat Henrietta einen neuen Job bei einer palliativen Krebsambulanz gefunden, sie soll die Lebensgeschichten todgeweihter Menschen aufschreiben, damit diese etwas für ihre Nachwelt hinterlassen. Hier kommt nun die zweite Hauptprotagonistin zum Zug, denn Annie Doyle hat nur noch ein paar Wochen zu leben. Sie hatte ein schweres Leben, keine Kinder und möchte ihren Freunden ihre Geschichte präsentieren, die von zwei besonders schweren Schicksalsschlägen geprägt ist. Annies Schwester, mit der sie sich sehr gut verstand, verschwand spurlos und galt als im Kanal ertrunken. Die zweite Katastrophe war ihre Ehe mit einem Mann, der sie ständig schikanierte und sie als sein Eigentum betrachtete. Sie schaffte es nicht, sich von ihm zu lösen, bis das Schicksal sie durch einen Unfall von ihrem Peiniger befreite.
Durch die Auseinandersetzung mit Annies Leben kommen sich die beiden Frauen näher und Henrietta erkennt Parallelen zu ihrem eigenen Leben. Genau wie Annie hat sie einen Verlust erlitten, der ihr Leben geprägt hat. Ganz allmählich freunden sich die beiden Frauen an, doch die Deadline kommt bedrohlich näher. Und so erfahren wir als Leser nach und nach die Lebensgeschichte der beiden Frauen und sehen, was sie geprägt hat.
Und ganz allmählich legt Henrietta ihre Maske der Empathielosigkeit ab und empfindet Spuren von Liebe. Das klingt erstmal kitschig, aber das ist es nicht, man kann regelrecht spüren, wie sie anfängt, sich Sorgen zu machen und Interesse am Wohlergehen von Annie zu zeigen. Henrietta kann zum ersten Mal nach 23 Jahren weinen, was mich sehr berührt hat und was ich gut nachempfinden konnte.
Ich fand das Buch sehr spannend, obwohl es kein Krimi ist, denn die Lebenswege, die sich immer mehr füllten, sorgten für Interesse und Neugier. Teilweise haben die Ereignisse mich so berührt, dass ich in Gedanken noch lange damit beschäftigt war.
Bleibt noch zu sagen, dass ich den Schreibstil der Autorin sehr flüssig fand und mich im Café Leben wohlgefühlt habe. Die Autorin konnte die jeweilige Atmosphäre sehr gut einfangen und hat mit diesem Buch ein überzeugendes Erstlingswerk präsentiert.

Bewertung vom 24.10.2022
Verbrenn all meine Briefe
Schulman, Alex

Verbrenn all meine Briefe


ausgezeichnet

Zu den Wurzeln der Wut
Alex Schulmans 'Die Überlebenden' ist mir in sehr guter Erinnerung geblieben, denn es geht darin um traumatisierende Kindheitserlebnisse. Deshalb war ich sehr gespannt auf den Nachfolgeband und wurde nicht enttäuscht.
Auch hier geht es um das familiäre Miteinander. Alex realisiert, dass seine Familie (seine Frau und seine Kinder) bisweilen Angst vor ihm hat. Dies beunruhigt ihn, denn er ist davon überzeugt, dass er eine Wut in sich trägt, die wegen unerheblichen Anlässen plötzlich ausbricht. Woher kommt diese Wut?
Nachdem er gemeinsam mit einer Psychologin festgestellt hat, dass familiäre Disharmonien sich besonders häufig in der Familie mütterlicherseits befinden, beschließt er, dem Phänomen auf den Grund zu gehen. Er befürchtet, dass diese innerlich festgelegte Wut sonst auch im Verhalten seiner Kinder Fuß fasst. Also beginnt er mit Recherchen und fokussiert diese auf seinen Großvater Sven Stolpe, der ein erfolgreicher Schriftsteller war und in seinen Werken viel Persönliches einfließen ließ.
Der Roman beinhaltet drei Handlungsstränge. Zunächst die Gegenwart, in der sich Alex der Gefahr bewusst wird und handelt.
Sehr signifikant ist das Jahr 1932, denn da lernt seine Oma Karin, die bereits mit Sven verheiratet ist, ihre große Liebe kennen und lässt sich darauf ein. Aber ihre Ehe ist ein Gefängnis, aus dem sie nicht ausbrechen kann, eine 'Amour fou', sehr leidenschaftlich, aber mit folgenschweren Auswirkungen für die Liebenden. Als Sven Karins Untreue bemerkt, macht er ihr das Leben zur Hölle, und es gibt für Karin kein Entrinnen.
Der dritte Handlungsstrang beschreibt persönliche Erinnerungen, die Alex durch Besuche bei seinen Großeltern in den späten 80ern bewahrt hat und die seine Gedanken untermauern.
Der Autor beschreibt atmosphärisch dicht, wie zerrissen sich Karin zwischen den beiden Männern fühlt und wie verfahren ihre Lage ist. Man leidet förmlich mit ihr. Überhaupt empfindet man tiefes Mitleid, denn schon kurz nach der Verlobung fängt sie an, sich Svens Wünschen unterzuordnen und damit ihr eigenes Glück aufzugeben. Sven erkennt ihre prekäre Situation und demütigt sie auf brutale Weise, manchmal nur wegen Kleinigkeiten. Einige Szenen sind sehr berührend, und man muss erstmal darüber nachdenken.
Der Schreibstil gefällt mir außerordentlich gut, denn er vermittelt Spannung so intensiv, wie sie in vielen Krimis nicht entsteht. Deshalb möchte ich eine eindeutige Lese Empfehlung aussprechen.

Bewertung vom 21.10.2022
Zeiten neuer Hoffnung / Böhmen-Saga Bd.3
Sonnberger, Gabriele

Zeiten neuer Hoffnung / Böhmen-Saga Bd.3


gut

Enttäuschender Abschluss der Trilogie
Die Geschichte der böhmischen Familie, in deren Mittelpunkt Erika steht, geht weiter und verzweigt sich immer mehr. Es kommen neue Personen hinzu, z.B. durch neugeborene Kinder, und in diesem Band sterben auch sehr viele altbekannte Charaktere, teilweise schon sehr jung. Ein bewegtes Familienleben!
Ich hatte mich auf das Buch gefreut, denn Erika mit ihrer Großfamilie führte ein sehr abwechslungsreiches Leben und die Autorin verstand es, den Leser in eine andere Welt zu versetzen. Es war bei diesem Band jedoch so, dass ich mich teilweise zum Lesen zwingen musste, spätestens ab der Mitte. Denn alles wird von einer trügerischen Harmonie überlagert, die man sich so einfach nicht vorstellen kann. Trotz seelischer Tiefs arbeiten sich die Charaktere schnell wieder in ein neues Glück zurück und führen ein erfolgreiches und friedliches Leben. Friede - Freude - Eierkuchen, diese Redewendung trifft hier zu. Die Glückseligkeit mancher Figuren wird teilweise so intensiv beschrieben, dass es langweilig wird.
Die Handlung bzw. die Reaktionen darauf sind oft vorhersehbar, was dem Geschehen die Spannung nimmt. Andererseits wirken manche Handlungsstränge so unrealistisch, dass man nur noch den Kopf schütteln kann. In meinen Augen kann man in diesem Zusammenhang nicht mehr von dichterischer Freiheit reden, denn alles löst sich immer wieder in Wohlgefallen auf, viel zu auffällig konstruiert. Wie im Märchen!
Die Charaktere sind blass, besonders die Hauptprotagonistin Erika wird immer unsympathischer. Nachdem sie jahrelang eine unglückliche Ehe geführt hat, emanzipiert sie sich, um dann wieder einen Riesenschritt zurück zu machen. Mehr möchte ich dazu nicht verraten.
Schade, ich hatte mehr erwartet.

Bewertung vom 15.10.2022
Wünsche werden wahr / Wunderfrauen-Trilogie Bd.4
Schuster, Stephanie

Wünsche werden wahr / Wunderfrauen-Trilogie Bd.4


ausgezeichnet

Wiedersehen und Abschied
Jetzt wird es wohl ein endgültiger Abschied von den Wunderfrauen sein, nachdem ich bereits mit diesem Zusatzband nicht gerechnet hatte. Aber ich hatte mir ein Wiedertreffen erhofft.
Es war wie ein Wiedersehen mit alten Freundinnen, denn die vier Frauen sind mir doch ans Herz gewachsen. Ich fand es interessant zu erfahren, was in den vergangenen 20 Jahren passiert ist, denn mittlerweile sind sie zwischen ca. 60 und 70 Jahre alt. Ihre Freundschaft hat alle Schicksalsfügungen überlebt.
Das Buch ist eine Mischung aus diversen Romantypen, denn vom Kriminalroman bis zur Liebesgeschichte ist alles dabei. Für mich war es sehr spannend zu lesen, genau wie die drei Vorgängerbände. Ich kann mir allerdings vorstellen, dass Leser, die die Reihe bisher nicht kannten, Probleme haben, sich zurechtzufinden.
Dabei hat die Autorin in geschickter Weise alte Erinnerungen geweckt und darin neue Geschichten, auch aus der Vergangenheit, eingewoben. Schon im Prolog bahnt sich ein Kriminalfall an, und man rätselt, wer die Beteiligten sein könnten.
Das Buch macht Hoffnung und schenkt Trost, denn allen Frauen öffnen sich im Alter neue Perspektiven. Und auch diesmal zeigt sich wieder, dass der Zusammenhalt der vier Freundinnen jeder einzelnen Kraft gibt.
Der Schreibstil ist angenehm zu lesen und leicht verständlich. Der Perspektivenwechsel bereichert die Handlung. Auf jeden Fall macht sich auch Weihnachtsstimmung breit, denn alte Bräuche werden liebevoll geschildert.
Auf den letzten 20 Seiten gibt es einen Ausblick auf die neue Romanreihe der Autorin.
Es heißt nun leider Abschied nehmen, aber nicht ohne vorher eine Leseempfehlung auszusprechen, und zwar für die gesamte Reihe.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.10.2022
Kerl aus Koks
Brandner, Michael

Kerl aus Koks


sehr gut

Die neun Leben des Paul Brenner
Mal eben noch dem Tod von der Schippe springen - das hat Paul Brenner nicht nur einmal erlebt, teils selbst verschuldet, teils durch unglückliche Umstände. Aber Paul ist zäh, hat einen enormen Lebenswillen und beißt sich immer wieder durch. Er ist ein Kämpfertyp, der es versteht, aus seinem Leben in jeder Situation das jeweils beste zu machen.
Dieser Roman mit biographischen Zügen wird erzählt von dem Schauspieler Michael Brandner, alias Paul Brenner. Wie es scheint, war sein Leben sehr abwechslungsreich und geprägt von ständigen Höhen und Tiefen.
Der kleine Paul wird von seiner ledigen Mutter in eine Pflegefamilie in Bayern gegeben, wo er sich wohlfühlt und naturverbunden lebt. Aber eines Tages holt ihn seine leibliche Mutter ins Ruhrgebiet, denn sie hat geheiratet und möchte Paul zu sich nehmen. Damit verändert sich Pauls Leben rasant, aber er findet Wege, um das neue Leben zu genießen. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn ist geprägt von ständigen Vorwürfen und Forderungen. Seine Mutter fühlt sich im Pott fehl am Platze, sie hat was Besseres verdient, sagt sie. Sein Stiefvater Helmut ist für Paul ein guter Freund, der zu ihm hält, oftmals auch gegen die Mutter, so dass kein harmonisches Familienleben entstehen kann. Hinzu kommen neue Erfahrungen für den Jungen: er wird sehr krank und spürt Todesnähe.....
Diesen ersten Teil fand ich sehr atmosphärisch. Der Autor beschreibt glaubwürdig und ergreifend, wie es damals nach dem Krieg in den Familien zuging, er beschreibt die Armut, die Raumnot, die Tagesgestaltung. Ich habe diesen Part sehr gern gelesen und mich in einer anderen Welt gefühlt.
Der Umbruch kam für mich, als Paul mit ein paar Freunden in einem alten Opel nach Großbritannien fährt, um Urlaub zu machen. Er gerät in einen regelrechten Freiheitsrausch und bricht die Fachoberschule ab. Es folgen zahlreiche Jobs, viele Liebschaften, Drogenerfahrungen und diverse Wohnungswechsel. Ab hier bleibt alles an der Oberfläche, vieles wird nur angedeutet, es gibt keinen Tiefgang mehr, z.B. wird ein Kumpel aus der Psychiatrie zurückgeholt, aber wie? Man hat das Gefühl, einen Ausflug in eine übersteigerte Fantasie zu machen. Während mich Pauls Leben als Kind und Teenager sehr berührte und spannend war, kamen nun langatmige Passagen, geprägt von einem Paul, der sich einer übertriebenen Selbstdarstellung ausliefert und keine Grenzen kennt. Besonders sein Umgang mit Frauen hat mir nicht gefallen.
Der lebendige Schreibstil mit humorvollen und ironischen Elementen hat mich besonders im ersten Teil sehr angesprochen, z.B. die Szene der Musterung. Leider hat sich diese Lebendigkeit im zweiten Teil verändert. Dieser Part erschien mir hektisch, wie Pauls Leben in diesen Jahren.
Dem ersten Teil hätte ich ohne Zögern fünf Sterne zuerkannt. In Anbetracht des deutlich schwächeren zweiten Teils vergebe ich nun vier. Denn interessant ist das Buch alles in allem auf jeden Fall.

Bewertung vom 02.10.2022
Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1
Blum, Charlotte

Die Nachricht des Mörders / Fräulein vom Amt Bd.1


gut

Das Fräulein vom Amt ermittelt in Baden-Baden
Bei diesem Buch handelt es sich um einen Soft-Krimi, in dem ein Fräulein vom Amt auf Verbrecherjagd geht.
Alma Täuber ist Telefonistin in den 1920ern, und in ihrem Beruf bleibt es nicht aus, dass sie manchmal Gespräche oder Teile davon mithört. Ein besonders auffälliger Sprachfetzen lässt ihr keine Ruhe, denn dort ist von einem erledigten Auftrag die Rede, sogar mit Ortsangabe. Und genau dort wird tatsächlich eine Leiche gefunden. Almas Sherlock-Holmes-Gespür ist erwacht und sie beginnt mit ihren Ermittlungen. Außerdem muss sie Überzeugungsarbeit bei der Polizei leisten, denn dort glaubt ihr keiner bis auf einen Kommissaranwärter....
Was mir sehr gut gefallen hat, war die detaillierte Darstellung der damals glamourösen Stadt Baden-Baden mit ihren Casinos und ihrer Pferderennbahn, ein Treffpunkt der High Society. Man fühlt regelrecht das Flair der Stadt und kann sich die Örtlichkeiten ausmalen. Gleichzeitig kommt auch der Zeitgeist von damals durch, z.B. die beginnende Emanzipation der Frau, die Armut dieser Zeit nach dem 1. Weltkrieg und auch die Sehnsucht nach Ablenkung und Vergnügen.
Auch erhält der Leser Einblicke in den Beruf der Telefonistin in dieser Zeit, was bestimmt eine Herausforderung war: hektisch, monoton und unter strenger Kontrolle.
Allerdings hatte ich nach einer anfänglichen Leseprobe mehr Spannung erwartet, die aber lange auf sich warten ließ. Der Spannungsbogen bewegte sich, wenn überhaupt, am unteren Rand, und erst gegen Ende des Buches wurde es richtig spannend mit Actionszenen und Showdown. Bis dahin gab es leider auch recht langatmige Passagen, z.B. ein Waschtag oder die Beschreibung von Automobilen. Das hat mich enttäuscht, weil des öfteren der Anreiz zum Weiterlesen fehlte.
Auch erscheinen mir Almas Ermittlungen oft zu unrealistisch. Sie wird in die Polizeiarbeit einbezogen, darf an Verhören teilnehmen und selber Fragen stellen. Das klingt mir dann doch sehr illusorisch. Kommissar Zufall steht immer parat.
Das Buch ist der Auftakt einer neuen Reihe, und man kann nur hoffen, dass es den Autorinnen gelingt, in den nächsten Band mehr Spannung einzuflechten. Ansonsten kann ich das Buch Softcrime-Freunden empfehlen.

Bewertung vom 18.09.2022
Intimitäten
Kitamura, Katie

Intimitäten


gut

Die Grenze zur Nähe
Wo ist die Grenze der Nähe zu anderen bzw. wie nah kann ich wirklich meinem Gegenüber kommen. Die Protagonistin in diesem Buch, die bis zum Ende namenlos bleibt, ist ständig auf der Suche nach Nähe, aber man gewinnt den Eindruck, dass sie sobald sie ihr Ziel erreicht hat, misstrauisch wird und sich verschließt.
Inhaltlich geht es um eine junge Frau, die bislang ihren Eltern zuliebe in New York gelebt hat und nun eine Stelle als Dolmetscherin am Internationalen Gerichtshof in Den Haag . Der neue Job ist interessant und als sie Adriaan kennenlernt, scheint sich ein Zuhause-Gefühl einzustellen, wonach sie schon lange sucht. Bei ihm fühlt sie sich geborgen, denn er sorgt sich um sie. Doch bald erfährt sie, dass Adriaan verheiratet und Familienvater ist. Ihre Welt gerät wieder ins Wanken....
Ich konnte mit diesem Buch nicht richtig warm werden, der rote Faden ist recht schwach und bleibt am Ende offen. Da sind Personen, deren Auftritt an der Oberfläche bleibt und keine Vertiefung findet. Es gibt Passagen, die recht ausführlich und langatmig beschrieben werden, z.B. die Bilder in der Galerie.
Die Protagonistin ist sehr misstrauisch und überlegt ständig, was in anderen vorgeht, wie sie denken und welche Beweggründe sie haben. Dadurch manipuliert sie indirekt ihr eigenes Verhalten und geht wieder auf Distanz, wirkliche Nähe verträgt sie nicht.
Interessant fand ich die Einblicke in die Arbeit am Internationalen Gerichtshof und seine Zuständigkeiten. Auch habe ich mir die entsprechenden Bilder angesehen, um die Beschreibung im Buch zu vervollständigen.
Auch die Passagen über die Kunst des Dolmetschens fand ich aufschlussreich, da es dabei ja nicht um das reine Übersetzen geht, sondern auch die Vermittlung der jeweiligen Gefühlslage. Außerdem ist die körperliche Nähe ein bedeutender Faktor in diesem Beruf, wie sich im Buch in den Szenen zeigt, als ein angeklagter Ex-Präsident, der viele Menschenleben auf dem Gewissen hat, der Dolmetscherin gefährlich nah kommt und sie vereinnahmen will.
Alles in allem bin ich mit anderen Erwartungen an diese Lektüre gegangen und wurde enttäuscht. Trotzdem konnte ich einige Erfahrungen machen, die mich zum Nachdenken brachten und mir gefallen haben. Letztendlich hätte ich mir mehr Tiefgang gewünscht.

Bewertung vom 14.09.2022
Der Klang der Erinnerung
Browning Wroe, Jo

Der Klang der Erinnerung


ausgezeichnet

Spannend, anrührend und voller Überraschungen
Ich wurde auf das Buch aufmerksam, da es um die dramatischen Ereignisse in Aberfan/Wales geht, von denen ich durch die Serie 'The Crown' zum ersten Male gehört hatte. Somit hatte ich einen historischen Roman erwartet, aber dieses Buch hat bei weitem mehr zu bieten. Es hat mich regelrecht in seinen Bann gezogen, ich konnte nicht aufhören zu lesen. Der Spannungsbogen war durchweg hoch, obwohl es kein Kriminalroman ist.
William Lavery, der Protagonist, hat in seinem jungen Leben schon einige traumatisierende Erlebnisse zu verzeichnen. Da ist als erstes der frühe Tod seines Vaters, der ihn besonders stark an die Mutter bindet, die ihn auch sehr vereinnahmt. William kann außerordentlich gut singen und wird Chorknabe in Cambridge, wo er seine Fähigkeiten so positiv entwickelt, dass er die Chance bekommt, ein berühmtes Solo zu singen. Doch auch hier kommt es zu tragischen Erlebnissen und William beschließt, Einbalsamierer zu werden, was ihn ins Familienunternehmen eintreten lässt. Auch hier ist er einer der besten, und er hat kaum seinen bravourösen Abschluss, als es ihn zu seinem mutigen Einsatz im Katastrophengebiet von Aberfan lockt, wo besonders viele Kinder starben. Seine Leistungen dort sind heldenhaft, aber hinterlassen Spuren, die Auswirkungen auf sein weiteres Leben haben....
Was mich sehr angenehm überrascht hat ist die feinfühlige Sprache, die die Autorin anwendet, um die verschiedenen, teils sehr extremen Situationen zu beschreiben. Ich fühlte mich immer in die jeweilige Szenerie hineinversetzt durch die sprachintensiven Elemente. Da ist z.B. das Heimweh, das William empfindet, als er das Internat in Cambridge besucht, es springt förmlich aus den Zeilen heraus und steckt den Leser an. Oder der 'blutergussblaue Himmel', den man sich gut vorstellen kann. Alles sehr beeindruckend!
Auch habe ich meinen Wissenshorizont erweitert, denn der Beruf des Einbalsamierers war mir aus der Neuzeit nicht bekannt. Das historische Erleben von Aberfan hat mich sehr betroffen gemacht.
Alles in allem hat mich das Buch total überzeugt, auch wenn das Ende ein wenig kitschig ist. Aber irgendwie ist dies der passende Ausgleich zu der Ernsthaftigkeit zuvor.
Ich kann das Buch nur empfehlen, es hat sich bei mir fest eingeprägt, und ich hoffe, dass noch viele Leser in diesen Genuss kommen.