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SimoneF

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Insgesamt 428 Bewertungen
Bewertung vom 28.10.2024
Die Vegetarierin
Kang, Han

Die Vegetarierin


gut

Yong-Hye führt in Seoul mit ihrem Mann eine durchschnittliche, leidenschafts- und ereignislose Ehe. Er arbeitet meist bis Mitternacht, sie kümmert sich um den Haushalt und hat einen Teilzeit-Job. Eines Tages beschließt sie, Vegetarierin zu werden. Dies erschüttert das Eheleben der beiden und wirkt sich auch auf weitere Familienangehörige aus…

Der Roman besteht aus drei Teilen, die jeweils aus der Sicht eines anderen Familienmitglieds erzählt werden. Der erste Teil nimmt die Perspektive von Yong-Hyes Mann ein, immer wieder unterbrochen durch kursiv gesetzte Einschübe von Yong-Hyes Träumen. Der zweite Teil wird aus der Sicht von Yong-Hyes Schwager geschildert, der dritte aus der Perspektive ihrer Schwester In-Hye.

Sehr interessant war für mich der Einblick in die südkoreanische Kultur. Yong-Hyes Familie ist streng patriarchalisch geprägt, als Frau hat man dem Ehemann zu gehorchen, ihn zu umsorgen und ihm ein angenehmes Heim und nahrhafte Mahlzeiten zu bereiten. Auch als Erwachsene schuldet man dem Vater Gehorsam. Der soziale Druck ist enorm, und wer aus der Reihe tanzt, wird geächtet, weil er Schande über die Familie gebracht hat. In diesem Sinne ist auch eine für uns im Westen so individuelle wie banale Entscheidung, vegetarisch (bzw. in Yong-Hyes Fall sogar vegan) zu leben, ein Affront gegen die Familie, ebenso wie der Entschluss, auf das Tragen eines BHs zu verzichten oder sich nicht zu schminken. Diese Stellen haben mich zum Teil emotional sehr bewegt und auch fassungslos gemacht, ist es für mich doch selbstverständlich, meine Entscheidungen selbstbestimmt zu treffen und hier klare Grenzen gegen Einmischungen Dritter zu ziehen.

Dem gesamten Buch haftet eine düstere, hoffnungslose Grundstimmung an, die Menschen sind einsam, melancholisch, desillusioniert, depressiv. Beziehungen werden aus eher rationalen Gründen denn aus tiefer Liebe geschlossen, man lebt nebeneinander her ohne wirkliches Interesse an den Gefühlen des Anderen, und eine gewisse Todessehnsucht schwingt mit.

Ich hatte zunächst erwartet, eine Erklärung für Yong-Hyes plötzlichen Sinneswandel hin zum Verzicht auf tierische Produkte zu erhalten. Diese folgte jedoch nicht, zumindest nicht in einem rationalen Sinne. Vielmehr durchzieht sämtliche Kapitel eine gewisse Sehnsucht nach der Verschmelzung von Mensch und Pflanzenwelt bzw. der Metamorphose vom Menschen hin zur Pflanze. Diese grotesk anmutende, irrationale und kafkaesk wirkende Komponente war für mich schwer fassbar.

Fazit: Insgesamt fällt es mir schwer, den Roman zu bewerten. Der Schreibstil hat mich durchaus gepackt, und die Einblicke in die koreanische Gesellschaft waren sehr interessant. Allerdings konnte ich mit der Sehnsucht nach der Verwandlung vom Menschen zum Baum nichts anfangen bzw. mir wurde nicht klar, was mir Han Kang damit sagen möchte.

Ich vergebe daher 3,5 Sterne.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.10.2024
Die Lungenschwimmprobe
Renberg, Tore

Die Lungenschwimmprobe


sehr gut

Normalerweise gehören historische Romane nicht zu meinen bevorzugten Genres, aber die Lungenschwimmprobe hat mich sofort angesprochen, da ich mich sehr für Medizin interessiere. Auch das Cover erweckt den Eindruck eines stark medizinhistorischen Schwerpunktes.

Diese Erwartung hat sich nur teilweise erfüllt. Der Roman geht sehr ausführlich auf die Biographien der einzelnen Protagonisten ein und auch auf das historische Rechtssystem. Die medizinischen Aspekte kommen mir hier ein bisschen zu kurz, ebenso wie die des Kindsmordes angeklagte Anna, auf die Renberg erstaunlicherweise relativ wenig eingeht.

Der Schreibstil war zunächst etwas gewöhnungsbedürftig, da er sich an der damaligen Zeit orientiert, doch nach den ersten Kapiteln hatte ich mich gut eingelesen. Tore Renberg wechselt im Buch immer wieder die Perspektive und auch die Zeitebene, geht hierbei auch auf Details seiner Recherche ein. Diese Informationen hätte ich nicht unbedingt im Roman selbst gebraucht, sondern lieber kompakt in einem Nachwort gelesen.

Das Buch hat mitunter durchaus seine Längen, und der Schreibstil ist recht ausschweifend, so dass ich mir manches Mal gewünscht habe, der Autor hätte einige Stellen deutlich gestrafft. Es gab jedoch auch viele Kapitel, die mich richtig gefesselt haben, so dass ich nur so durch die Seiten geflogen bin.

Unverständlich ist mir jedoch, warum am Ende des Buches lediglich ein QR-Code angegeben ist, mit dem man u.a. zusätzliche Informationen über die historischen Figuren und Karten herunterladen kann. Diese wären mir als Anhang im gedruckten Buch lieber gewesen, da ein solcher das Buch komplettiert hätte. Angesichts des Buchumfangs wäre es hierauf auch nicht mehr angekommen.

Bezüglich der Bewertung bin ich etwas zwiegespalten. Was den inhaltlichem Schwerpunkt und Renbergs Erzählstil angeht, schwanke ich zwischen 3 und 4 Sternen. Da Renberg sehr ausdauernd und akribisch recherchiert hat und ich ihm hierfür Respekt zolle, vergebe ich letztlich 4 Sterne.

Bewertung vom 22.10.2024
Kaltblütig
Capote, Truman

Kaltblütig


ausgezeichnet

1959 schockiert der Mord an der vierköpfigen Familie Clotter in Holocomb die USA. Truman Capote widmete sich in "Kaltblütig" den Hintergründen dieses Verbrechens und schuf mit seinem Tatsachenroman ein neues Literaturgenre.
Das Buch besteht aus vier Teilen. Im ersten schildert Capote das Leben der Familie Clotter, im zweiten erfährt man Näheres über die beiden Täter, ihre Kindheit und Jugend, sowie über die Zeit zwischen dem Mord und ihrer Verhaftung. Der dritte Teil widmet sich dem Tathergang, der Polizeiarbeit und Täterermittlung sowie der Verhaftung der Täter. Der vierte Teil beinhaltet den Prozess und die spätere Hinrichtung und geht auf Besonderheiten des amerikanischen Justizsystems ein.

Capote hat akribisch recherchiert, Vernehmungsprotokolle und Akten studiert, und sich eingehend mit den Hintergründen auseinandergesetzt. Er hatte zudem die Gelegenheit, die Täter im Gefängnis zu besuchen und diese ausführlich zu interviewen.

Der Schreibstil von „Kaltblütig“ ist nüchtern, sachlich-neutral; Capote betrachtet alles aus der Distanz, er wertet nicht. Als Leserin war ich dennoch emotional sehr ergriffen. Ich habe mitgefühlt mit der Familie Clotter, die so sinnlos aus dem Leben gerissen wurde, mit ihren Verwandten und Freunden, den Bewohnern von Holocomb, die nach der Tat in großer Angst lebten, bis die Täter nach Monaten gefasst waren. Auch war ich hin- und hergerissen in meinen Gefühlen bezüglich der Täter. Die teils schwierigen Lebensumstände, in denen sie aufgewachsen waren, ließen mich in zweiten Teil immer wieder etwas Mitgefühl für sie empfinden. Dem gegenüber stehen die unfassbare Brutalität und emotionale Kälte, mit der sie eine unschuldige Familie auslöschten.

Im Vergleich zu vielen effekthascherischen True-Crime-Büchern der heutigen Zeit, die auch einen gewissen Voyeurismus bedienen, empfand ich Capotes ausgewogenen, sachlichen Stil als sehr angenehm. Man spürt, dass er Wert darauf legt, allen Beteiligten gerecht zu werden und eine Stimme zu geben. Er hat einen wegweisenden Tatsachenroman geschaffen, der auch nach über 50 Jahren nichts von seiner Faszination eingebüßt hat.

Bewertung vom 22.10.2024
Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel / Heißmangel-Krimi Bd.3
Franke, Christiane;Kuhnert, Cornelia

Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel / Heißmangel-Krimi Bd.3


ausgezeichnet

Mit „Frisch ermittelt: Der Fall Hartnagel“ folgt der dritte Band der Krimireihe um Martha Frisch, die im ostfriesischen Leer der 1950er Jahre eine Heißmangelstube betreibt. Ich habe bereits die beiden Vorgängerbände gelesen und freue mich jedes Mal, die „alten Bekannten“ wiederzutreffen.

Dr. Hartnagel war ärztlicher Leiter des örtlichen Kinderheimes, in dem kleine Kinder für Erholungskuren untergebracht waren. Eines Tages wird er tot im Park der Einrichtung aufgefunden. Marthas Neffe Hans ist als Wachtmeister wieder in die Ermittlungen eingebunden, Martha hält in ihrem Salon Augen und Ohren offen, und auch ihre Enkelin Annemieke hat eine Idee, wie sie zur Lösung des Falles beitragen kann…

Dem Autorinnenduo gelingt es, die Atmosphäre der frühen Bundesrepublik wieder aufleben zu lassen: Rock’n’Roll und Milchbars mit Jukebox, Ahoi-Brause und zelebrierte Fernsehabende mit Häppchen – alles Dinge, die ich nur aus den Erzählungen meiner Mutter kenne. Aber auch ernste Themen werden nicht ausgespart, und so wird auch der Mief, der noch in der Gesellschaft steckte, sichtbar: Die Verschickungskinder in den Kinderheimen standen unter dem strengen Regiment der Ärzte und Schwestern. In vielen Köpfen herrschte noch das alte Gedankengut, Seilschaften aus der Nazi-Zeit existierten noch immer, für den Erhalt des Persilscheins wurde geklüngelt. Und auch wenn mit dem Inkrafttreten des Gleichberechtigungsgesetzes 1958 ein erster wichtiger Schritt getan war, ist diese noch lange nicht in allen Köpfen angekommen, und die Frauen mussten sich weiterhin ihre Rechte erkämpfen.

Mich hat der Krimi so gefesselt, dass ich ihn in einem Rutsch binnen eines Tages komplett gelesen habe. Ich konnte ganz in die 50er Jahre abtauchen und habe bis zum Schluss mitgerätselt. Sehr gut gefällt mir auch, dass sich durch alle Bände ein kleiner horizontaler Erzählstrang rund um Martha und die Menschen aus ihrer Umgebung zieht. Dennoch kann man auch als Neueinsteiger/in mit Band 3 starten; hilfreich ist dann sicherlich das Personenverzeichnis ganz am Ende des Buches.

Ich freue mich jetzt schon auf ein Wiedersehen in Band 4!

Bewertung vom 22.10.2024
Die Winterschwestern
Bertrand, Jolan C.

Die Winterschwestern


gut

Das wunderschön gestaltete Cover versprach eine nordisch-märchenhafte Wintergeschichte, die uns in der Zeit der Wikinger entführt. Auch die Gestaltung des Buchinneren ist sehr ansprechend, die stilistisch außergewöhnlichen Illustrationen sind durchgehend farbig, und eine Landkarte zu Beginn hilft bei der Orientierung.

Mein Sohn (10) und ich haben das Buch gemeinsam gelesen. Der Prolog um die beiden Winterschwestern beginnt märchenhaft und macht neugierig auf mehr. Danach beginnt die Geschichte um den zehnjährigen Wikingerjungen Alfred, der gerne Streiche spielt und in Gott Loki einen Bruder im Geiste hat. Als in Alfreds Dorf immer mehr Dinge verschwinden und die Bewohner die Trolle als Diebe in Verdacht haben, macht sich Ragnar, Alfreds Onkel (und eine Trans-Person), auf den Weg, um die Trolle zu finden und ihre Raubzüge zu beenden. Alfred folgt ihm heimlich nach…

Ab hier wird der Plot zunehmend mystisch, und die Erzählung ist insbesondere für die jungen Leser/innen teilweise recht verworren. So ist es in Kapitel 4 schwer zu unterscheiden, ob Alfred eine Vision hat, träumt oder Teile wirklich erlebt. Die Handlung wird in den folgenden Kapitel sehr fantastisch, Menschen verwandeln sich in Tiere, Himmelskörper werden von Tieren verschlungen usw. Mein Sohn verlor ab diesem Zeitpunkt die Lust und wollte nicht mehr weiterlesen, und ich kann ihn verstehen. Wir schätzen Bücher mit magischen und phantasievollen Elementen, aber die Handlung selbst muss für uns logisch nachvollziehbar und einigermaßen glaubhaft sein. Das war hier leider nicht der Fall. Auch die Geschichte an sich wirkte eher oberflächlich und zuweilen holprig, ein echter Lesefluss, der uns ein vollständiges Eintauchen ermöglichte, kam nicht zustande. Sprachlich ist das Buch eher einfach gehalten und die Charaktere haben wenig Tiefe.

Fazit: Wer sehr gerne in mystische Winterwelten abtaucht, ein Faible für Übersinnliches hat und gerne die Grenzen der Logik überschreitet, wird sicherlich Gefallen an diesem Buch finden. Wir gehören leider nicht dazu.

Bewertung vom 18.10.2024
Wohnverwandtschaften
Bogdan, Isabel

Wohnverwandtschaften


sehr gut

Die Zahnärztin Constanze trennt sich von ihrem Freund und zieht aufgrund des schwierigen Hamburger Wohnungsmarktes in eine WG mit Murat, Jörg und Anke. Erst mal, vorübergehend. Denn eigentlich möchte sie eine klassische Zweierbeziehung, keine Erwachsenen-WG.

Isabel Bogdans Schreibstil ist ungewöhnlich. Jedes Kapitel wird aus der Perspektive eines WG-Mitglieds erzählt, folgt in dessen Sprachduktus seinem Gedankenstrom, seinen Gefühlen und Erinnerungen. Hierdurch erfährt man als Leser sukzessive mehr über das Leben der Person, erhält kleine Einblicke in seine Vergangenheit, während gleichzeitig vieles im Ungewissen bleibt. Im Gegensatz hierzu sind immer wieder einzelne Kapitel in Dialogform geschrieben und geben Gespräche der WG-Bewohner aus ihrem Alltag wieder.

Ich muss gestehen, dass ich anhand der Kurzbeschreibung nicht erwartet hatte, dass das Buch das Thema „Demenz“ als Schwerpunkt hat, und immer wieder habe ich mich gefragt, ob die Kapitel aus Sicht des demenzkranken Protagonisten tatsächlich der Realität entsprechen könnten. Was geht im Kopf Demenzkranker vor? Merken sie in lichten Momenten, dass ihr Gedächtnis schwindet, wie es das Buch suggeriert? Die Frage ist wohl schwer zu beantworten.
Es ist schön zu lesen, wie harmonisch und fürsorglich sich alle um den Erkrankten kümmern, doch habe ich leise Zweifel, dass dies im realen Leben auch so wäre. Ich nehme an, dass die WG viel eher auseinanderbrechen und jeder seiner Wege gehen würde.

Auch wenn sich das Buch in eine für mich unerwartete Richtung entwickelte, hat es auf mich einen regelrechten Sog entwickelt. Ich habe es tatsächlich an einem halben Tag ausgelesen und war ganz erstaunt, als ich die letzte Seite erreicht hatte.

„Wohnverwandtschaften“ ist ein warmherziges, einfühlsames Buch über eine alternative Wohnform auch jenseits der Studentenjahre, die im besten Fall zu einem verantwortungs- und rücksichtsvollen Miteinander führt und vor Vereinsamung bewahren kann.

Bewertung vom 17.10.2024
Mami braucht 'nen Drink - erst recht an Weihnachten / Tagebuch einer gestressten Mutter Bd.5
Sims, Gill

Mami braucht 'nen Drink - erst recht an Weihnachten / Tagebuch einer gestressten Mutter Bd.5


sehr gut

Weihnachten - kein anderes Fest ist so sehr mit Erwartungen aufgeladen und bietet dementsprechend so viel Potential für Enttäuschungen. Auch Ellen hat jedes Jahr wieder ihre idealisierte Vision eines Weihnachtsfestes mit der Familie vor Augen – rotwangige Kinder, die mit freudestrahlenden Augen vor dem festlich geschmückten und hell erleuchteten Weihnachtsbaum stehen, glockenhell Weihnachtslieder singend, dazu ein opulentes, perfekt gelungenes Festmahl an der festlich gedeckten Tafel, während draußen der zarte Pulverschnee vom Himmel fällt und alles in ein märchenhaftes Weiß taucht. Doch Jahr für Jahr kommt alles anders, und dieses Jahr kommen nicht mal die inzwischen erwachsenen Kinder.

Gill Sims nimmt mit viel Sinn für Humor den alljährlichen Weihnachtsstress aufs Korn. Ellens skurrile Mischpoke, die die ganze Bandbreite abdeckt von der durchgeknallten Hippie-Schwägerin, die gerne spärlich bekleidet Naturgottheiten huldigt, bis zur hysterisch-perfektionistischen Schwester, sorgt zuverlässig für Chaos. Auf übersteigerte Erwartungen folgt die Ernüchterung, die alljährlich mit Baileys, Gin Tonic und Whiskey kompensiert wird. Die Figuren und Situationen sind hierbei stark überspitzt gezeichnet. An der einen oder anderen Stelle wäre mir ein etwas subtilerer Humor lieber gewesen, da sich die Übertreibungen mit der Zeit etwas abnutzen, aber das ist sicherlich Geschmackssache.

Der Roman bietet aber nicht nur leichte, kurzweilige Unterhaltung, sondern wartet auch mit ernsteren Untertönen auf. Vermutlich wird sich jede Leserin auf die ein oder andere Weise in Ellen wiederfinden und sich an Weihnachtsfeste erinnern, bei denen die hoffnungsvolle Vorfreude mit der harten Realität kollidierte und es statt weihnachtlicher Eintracht vor allem Streit, Tränen, ein misslungenes Essen und enttäuschte Beschenkte gab. Gill Sims zeigt, dass die idealisierte und romantisierte Vorstellung von Weihnachten ein Konstrukt der Konsumindustrie ist, das vor allem gegenüber Müttern einen hohen Druck aufbaut und unerfüllbare Erwartungen stellt, die letztlich nur enttäuscht werden können und schlimmstenfalls zu großen Selbstzweifeln führen. Dabei würde ein bisschen mehr Gelassenheit zu deutlich entspannteren und damit für alle harmonischeren Festtagen führen.

In diesem Sinne ist „Mami braucht ‘nen Drink – erst recht an Weihnachten“ eine wunderbare Lektüre zur Vorweihnachtszeit, die uns humorvoll daran erinnert, das Weihnachtsfest lockerer anzugehen und uns von äußeren Zwängen freizumachen. Dann stehen die Chancen für ein vielleicht etwas chaotisches, aber heiteres Weihnachtsfest im Kreise der Familie gut – und für alle Fälle gibt es Glühwein!

Bewertung vom 17.10.2024
Die Schule der Mitternachtswelt 1
Desard, Maëlle

Die Schule der Mitternachtswelt 1


ausgezeichnet

Simeon ist ein Halbvampir mit Sonnenallergie, der in der Mitternachtsschule eingeschult wird. Dort trifft er auf allerlei andere magische Wesen, unter anderem die Werwölfin Eir. Da Vampire und Werwölfe traditionell verfeindet sind, ist Simeon ihr gegenüber zunächst skeptisch, zumal sich an der Schule merkwürdige Vorkommnisse häufen und immer mehr Schüler verschwinden.

Simeon beginnt, auf eigene Faust Nachforschungen anzustellen. Mit der Zeit gelingt es ihm, seine Vorurteile gegenüber Eir zu überwinden und sich mit ihr anzufreunden. Überhaupt haben Freundschaft, Zusammenhalt und Unvoreingenommenheit einen hohen Stellenwert im Buch, und die Autorin zeigt sehr schön, wie wichtig und bereichernd es ist, Vorurteile abzubauen und vermeintlich Trennendes zu überwinden.

Von der ersten Seite an war meinem Sohn (10) und mir Simeon richtig sympathisch, und seine oft ironischen und lakonischen Bemerkungen sorgen für gute Unterhaltung. Der Schreibstil ist flott, lebendig und humorvoll, und das Abenteuer ist geschickt aufgebaut, mit zahlreichen überraschenden Wendungen, so dass es bis zum Schluss spannend bleibt. Mein Sohn war zudem ganz besonders angetan vom Cover, bei dem bestimmte Elemente mit spezieller Farbe gedruckt sind, so dass diese im Dunkeln leuchten.

Maëlle Desard ist ein abwechslungsreicher Auftakt zu einer neuen Fantasy-Reihe gelungen, der nicht nur für Spannung sorgt, sondern auch wichtige Werte wie Toleranz, Offenheit und Freundschaft vermittelt. Wir freuen uns schon sehr auf den zweiten Teil!

Bewertung vom 15.10.2024
Ein tugendhafter Mann
Brookner, Anita

Ein tugendhafter Mann


gut

Anita Brookers „Ein tugendhafter Mann“ erschien erstmals im Jahr 1989 unter dem Titel „Lewis Percy“. Lewis ist zu Beginn des Romans, 1959, Anfang zwanzig und lebt nach einem kurzen Forschungsaufenthalt in Paris wieder mit seiner Mutter zusammen. Für seine Promotion beschäftigt er sich mit dem Helden in der Literatur des 19. Jahrhunderts, in der Realität ist er ein verzagter, unsicherer Mann. Seine Kenntnisse über Frauen bezieht er aus Romanen.

Es fiel mir sehr schwer, in den Roman hineinzufinden, da dieser selbst für sein Erscheinungsdatum recht antiquiert wirkt. Auch Lewis selbst scheint nicht in die 60er und 70er zu passen und hängt Idealbildern aus dem vorangehenden Jahrhundert nach. Die Rollenauffassungen sind äußerst konservativ, und ich muss gestehen, dass es mir stellenweise schwerfiel weiterzulesen, weil ich zu keiner Figur einen Zugang gefunden habe und weder mit Lewis noch seiner Frau Tissy oder seiner Angebeteten Emmy mitfühlen konnte. Insbesondere Lewis‘ Art, allein aus kleinsten Äußerlichkeiten auf die Lebensgeschichte und den Charakter von Menschen zu schließen, ohne sich mit diesen jemals ernsthaft auf ein Gespräch einzulassen und echte tiefgreifende Beziehungen einzugehen, verärgerte mich zunehmend.
Fraglos ist „Ein tugendhafter Mann“ von hoher literarischer Qualität, doch Lesevergnügen kam bei mir leider nicht auf. Zu weit weg waren hierfür für mich die Thematik und Figuren des Romans und zu langatmig die Erzählweise.

Bewertung vom 15.10.2024
Die Formel des Widerstands
Viciano, Astrid

Die Formel des Widerstands


sehr gut

Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde in der Physik durch bahnbrechende Entdeckungen im Bereich der Kernphysik geprägt, und maßgeblich beteiligt waren Marie und Pierre Curie sowie Irène und Frédéric Joliot-Curie. Kurz nachdem Otto Hahn und Fritz Straßmann 1938 erstmals eine Kernspaltung gelang, brach der Zweite Weltkrieg aus, und rasch wurde klar, dass diese Entdeckung militärisch bedeutsam war, da eine Atombombe den Kriegesverlauf entscheidend beeinflussen würde. Das Nazi-Regime setzte alles daran, diese zu entwickeln, und nach der Besetzung Frankreichs wurde auch das Labor von Frédéric Joliot-Curie unter deutsche Kontrolle gestellt. Es verfügte, im Gegensatz zu deutschen Forschungseinrichtungen, bereits über ein Zyklotron, das fortan deutsche Wissenschaftler für ihre kernphysikalischen Experimente nutzen wollten. Für die Überwachung der französischen Kollegen wurde Wolfgang Gentner entsandt, der bereits zuvor mit Joliot-Curie zusammengearbeitet hatte und mit ihm befreundet war. Für Gentner beginnt nun ein riskantes Spiel: Nach außen hin muss er im Sinne des deutschen Uranprojektes arbeiten, verdeckt schützt er seinen Freund Joliot-Curie, der eine wichtige Rolle in der Resistance innehat, und weitere französische Wissenschaftler im Widerstand.

Astrid Viciano beschreibt eindrücklich die Atmosphäre im besetzten Paris und die Situation in den Forschungsinstituten. Viele Wissenschaftler hatten sich dem Widerstand angeschlossen, waren Teil antifaschistischer, kommunistischer oder links-intellektueller Bewegungen, u.a. Frédéric Joliot-Curie, Jacques Solomon und Paul Langevin. Unter Lebensgefahr widersetzten sie sich den Besatzern und sabotierten das Atomprojekt. Gentner hält seine Hand über sie und setzt sich für die Freilassung von verhafteten Wissenschaftlern ein.

Der Fokus des Buches liegt klar auf den historischen Aspekten, die kernphysikalische Forschung wird nur sehr rudimentär angerissen. Es lässt sich daher auch für naturwissenschaftliche Laien problemlos lesen. Da die Autorin den Fokus auf mehrere Personen legt, springt das Buch sowohl zeitlich als auch räumlich immer wieder hin- und her, teilweise gibt es kleinere Redundanzen. Hier hätte ich mir vor allem zeitlich eine etwas stringentere Umsetzung gewünscht, zumal Viciano offenbar selbst etwas durcheinanderkommt. So schreibt sie, nachdem Frédéric Joliot-Curies Freund Jacques Solomon im Mai 1942 von den deutschen Besatzer ermordet wurde am Ende des fünften Kapitels: „Frédéric Joliot-Curie ist von der Ermordung Solomons so erschüttert, dass er beschließt, Mitglied der kommunistischen Partei zu werden. […] Er wählt dafür einen denkbar ungünstigen Moment. Werden die Deutschen doch einen Monat später, im Juni 1942, den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion brechen, indem sie gen Osten marschieren.“. Der Nichtangriffspakt wurde jedoch bereits ein Jahr zuvor, am 22. Juni 1941, also deutlich vor der Ermordung Solomons, aufgekündigt. Im sechsten Kapitel geht es dann verwirrenderweise auch am 29. Juni 1941 mit der Verhaftung Frédéric Joliot-Curies weiter.

Abgesehen davon bietet das Buch jedoch sehr interessante Einblicke und verdeutlich die Brisanz der physikalischen Forschung zur damaligen Zeit sowie die Rolle der französischen Forscher in der Resistance. Sehr lesenwert!