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Raumzeitreisender
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Ahaus
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Buchwurm, der sich durch den multidimensionalen Wissenschafts- und Literaturkosmos frisst

Bewertungen

Insgesamt 765 Bewertungen
Bewertung vom 22.07.2016
Mittelmäßiges Heimweh (eBook, ePUB)
Genazino, Wilhelm

Mittelmäßiges Heimweh (eBook, ePUB)


sehr gut

Gedehnte Betrachtungen eines emotional Unscheinbaren

Wilhelm Genazino besitzt eine gute Beobachtungsgabe und hat ein Faible für die kleinen Dinge des Lebens. Detailbesessenheit, ungewöhnliche Perspektiven und langatmige Betrachtungen belangloser Ereignisse sind Markenzeichen seiner Romane. Es sind die Unzulänglichkeiten und Peinlichkeiten des Alltags, die seinen Romanen Leben einhauchen. Seine Romanhelden sind Lebenskünstler, Tagträumer, Außenseiter oder gescheiterte Existenzen.

In seinem Buch erzählt Autor Genazino aus dem Leben von Dieter Rotmund, der als Controller in einer Arzneimittelfabrik tätig ist und am Wochenende zwischen dem Schwarzwald, wo seine Familie lebt, und der Großstadt, in der er arbeitet, pendelt. Seine Frau trennt sich von ihm, aber er findet sich bald in den Armen von Sonja wieder, der Vormieterin seiner Wohnung. Sonja ist eine seltsame Person voller Geheimnisse.

Kennzeichnend für Rotmund ist seine emotionale Gleichgültigkeit. Dies gilt für seine eigenen Gefühle und auch für die Wahrnehmung seiner Person durch andere Menschen seines Umfeldes. So kann man schon mal ein Ohr verlieren und kaum einer merkt das. Die Reaktionen auf diesen seltsamen Verlust sind an Skurrilität kaum zu überbieten.

Es sind die Sachlichkeit des Ich-Erzählers, seine Beobachtungen und seine Gedankengänge, die wesentlich zur Komik beitragen. Die Lebenskrise des Protagonisten scheint unabwendbar zu sein. Seine unerwartete Beförderung ändert nichts an seiner Mittelmäßigkeit. Rotmund stolpert weiter durchs Leben und führt ein scheinbar langweiliges Dasein voller zufälliger Begegnungen, die seinen Alltag bestimmen.

Bewertung vom 21.07.2016
Selber schuld!
Bonelli, Raphael M.

Selber schuld!


sehr gut

Prinzip Selbstverantwortung

„Opferdasein ist eine psychodynamische Sackgasse“, unterstreicht Raphael Bonelli in der Einleitung seines Buches. Es geht ihm darum, selbst Verantwortung für das eigene Leben zu übernehmen. Das ist eine These, die Zustimmung auch in der Managementliteratur von Reinhard Sprenger [1] findet. Während Sprenger eher Weisheiten aus der Philosophie in seine Werke integriert, sind es bei Bonelli Erkenntnisse aus der Psychotherapie. Bonelli richtet den Fokus auf das Thema Schuld und den Umgang mit dieser, ohne zu moralisieren. Um das Thema für die Leser plastisch darzustellen, stellt er 45 Fälle aus seiner Praxis vor und untermauert seine Thesen mit Beispielen aus der Weltliteratur.

Neurowissenschaftler Bonelli befindet sich mit seinem Werk „Selber Schuld!“ in Opposition zu Thesen bekannter Hirnforscher wie Wolf Singer [2] und Gerhard Roth [3]. Der freie Wille ist umstritten, wie auch aus verschiedenen Beiträgen zum Thema [4] hervorgeht. Bonelli bezieht sich auf Experimente von Robert Cloninger und ist der Meinung: „Der Mensch ist aus naturwissenschaftlicher Sicht letztlich doch frei“. Das ist eine Aussage, die er m.E. nicht hinreichend begründet.

Wer frei entscheiden kann, kann auch Schuld auf sich laden. Der Umgang mit Schuld ist das Kernthema des Buches. So überrascht es nicht, dass Bonelli sich ausführlich mit Dostojewskis Meisterwerk „Schuld und Sühne“ beschäftigt. Dostojewski zeigt auf, wie Protagonist Raskolnikow aus einem Gefühl der Überlegenheit einen Mord begeht, an der Schuld fast zugrunde geht und erst durch ein Schuldbekenntnis und spätere Sühne frei wird. Bonelli erläutert die Zusammenhänge anhand eines einfachen Modells von „Kopf, Bauch und Herz“, welches nicht wörtlich zu nehmen, sondern als Metapher zu verstehen ist.

Bonelli nimmt sich Sigmund Freud vor. Er analysiert, wo seine Thesen heute noch Bestand haben und wo sie als überholt gelten. Er stellt Zusammenhänge und prinzipielle Unterschiede von Psychotherapie und Beichte heraus. Beides sind ritualisierte Gespräche, bei denen es um einen subjektiven Leidensdruck geht. Während der Psychotherapeut dazu beitragen soll, den Patienten frei zu machen, thematisiert der Seelsorger, was der Mensch mit seiner Freiheit anfangen kann. “Denn nur, wenn der Mensch frei ist, kann er sich zwischen Gut und Böse entscheiden ...“ und damit befindet sich Bonelli in Opposition zu Michael Schmidt-Salomon [5], der sich von den archaischen Denkmustern „Schuld und Sühne“ verabschiedet hat und das Böse für eine Wahnidee hält.

Bonelli hat ein wichtiges Buch geschrieben, welches wahrgenommen werden wird. Er macht deutlich, dass es nicht nur die Sicht der Naturwissenschaften gibt. Seine Erklärungen beruhen auf seinen Erfahrungen und klingen plausibel. Er bekennt sich zum Dualismus „Die Seele bedient sich des Gehirns wie der Fahrer des Autos“. Als Leser dieses Buches und auch diesem Buch entgegenstehenden Werken muss ich zugestehen, dass es unterschiedliche Denkmodelle gibt, die (weitgehend) in sich schlüssig sind, aber eben nicht alle richtig sein können. Stellt man wie Paul Watzlawick den Nutzen (und nicht die Wahrheit) diverser Modelle in den Vordergrund, wird manches klarer. Watzlawick [6] spricht von der Möglichkeit, dass der Konstruktivismus eines Tages die Brücke zwischen den Natur- und den Geisteswissenschaften schlagen könnte.

[1] Reinhard Sprenger: „Das Prinzip Selbstverantwortung“
[2] Wolf Singer: „Ein neues Menschenbild?“
[3] Gerhard Roth: „Das Gehirn und seine Wirklichkeit“
[4] Christian Geyer (Herausgeber): „Hirnforschung und Willensfreiheit“
[5] Michael Schmidt-Salomon: „Jenseits von Gut und Böse“
[6] Paul Watzlawick: „Wirklichkeitsanpassung oder angepasste „Wirklichkeit“?“ in „Einführung in den Konstruktivismus“

Bewertung vom 21.07.2016
Nie wieder achtzig!
Hildebrandt, Dieter

Nie wieder achtzig!


sehr gut

Ein Urgestein des Kabaretts

Dieter Hildebrandt beginnt sein Taschenbuch mit einem Nachwort, da sich gegenüber der gebundenen Ausgabe ja einiges geändert haben kann: „Regierungen könnten verscheucht worden sein, Meinungen sich geändert haben, Entscheidungen gefallen sein“. Mit diesem Einstieg thematisiert er den gesellschaftlichen Wandel, auf den nicht nur Politiker, sondern auch das Kabarett reagieren müssen. Sowohl Politik als auch Kabarett sind ein Spiegelbild gesellschaftlicher Strömungen, wobei das Kabarett seinen Fokus darauf richtet, wie Politiker mit gesellschaftlichen Veränderungen umgehen und dieses „wie“ auch überzeichnen darf. - Das Kabarett beginnt bereits im Vorwort.

Kabarettisten wie Dieter Hildebrandt sorgen auf satirische und humorvolle Weise für Transparenz. Sie haben die Nase im Wind, wenn es darum geht, die wahren Absichten unserer Politiker offen zu legen, sie drücken die Finger in die Wunde politischer Unkorrektheiten. Die wirkungsvollste Opposition, so der Eindruck, findet man nur im Kabarett – und Aufklärung tut Not. Leider wird das Kabarett in den Medien mehr und mehr von (unpolitischer) Comedy verdrängt. Hildebrandt, in den 1950er Jahren mit der Münchner Lach- und Schießgesellschaft bekannt geworden, ist ein Urgestein des Kabaretts.

Sein Buch enthält einen Querschnitt aus mehreren Jahrzehnten deutscher Geschichte. Es geht um Schäubles Sicherheitspolitik, Stoibers Wort-Akrobatik, Gerichtsfälle unserer Deal-Justiz, Doping im Hochleistungssport und um die Spiegel-Affäre, um nur Beispiele zu nennen. Er geht humorvoll mit den Problemen des Alters um, wenn er schreibt: „Ich habe mit einigem Entsetzen festgestellt, dass auch die Weisheit im Alter nicht nachwächst. Das hat man mir, als ich noch jünger war, immer wieder vorgelogen.“

Natürlich ist Kabarett etwas, was man als Zuschauer in einer Aufführung erleben muss. Schauspielkunst, Betonung, Mimik, manchmal angereichert mit Musik, gehören einfach dazu. Das alles weiß man aber, wenn man ein Buch von einem Kabarettisten liest. Das einzige was ich in dem Buch vermisst habe, ist seine eigene, humorvoll aufgearbeitete Biographie, sein Fazit nach Jahren des Schaffens..

Bewertung vom 21.07.2016
So viel Zeit
Goosen, Frank

So viel Zeit


sehr gut

Sex, Drugs and Rock’n’ Roll

Rockmusik spielt in diesem Roman die zentrale Rolle. Sie ist das verbindende Element zwischen fünf unterschiedlichen Typen mittleren Alters, die es, frustriert vom Alltag, noch einmal so richtig krachen lassen wollen. Sie gründen eine Rockband und beginnen Hardrock von AC/DC, Uriah Heep, Deep Purple und Led Zeppelin einzustudieren. Geplant ist ein Auftritt auf ihrem 25-jährigen Klassentreffen in Bochum.

Der Roman gliedert sich in drei Teile. In „Früher“ blickt Autor Frank Goosen auf die Abiturfeier 1982 zurück. Die Atmosphäre und die angedeuteten Wünsche und Ereignisse dieser Zeit bilden den Nährboden für die „Macht der Vergangenheit“ im Hauptteil der Geschichte. Der Roman endet mit einem Ausblick auf die Zukunft aus der Perspektive von Bandmitglied Thomas.

Das Engagement in der Band führt, frei nach dem Motto: „Nichts ändert sich, außer man selbst ändert sich.“, zu neuem Selbstvertrauen und zu Veränderungen im Lebensumfeld der Akteure. Auch wenn dieser Wandel schnell erfolgt und klischeehaft wirkt, hat er doch einen hohen Unterhaltungswert. Aussprachen bringen Klarheit und neue Beziehungen entstehen. Das Leben wird spontan und Lebensfreude kehrt zurück.

Humorvoll beschreibt Autor Goosen die Vorbereitungen auf das erste Konzert. Für die passende Kleidung ist jugendliche Beratung vonnöten und so besorgt sich Bandmitglied Rainer Anregungen von seinem Sohn Daniel. Sollen Anzug und Krawatte eingetauscht werden gegen ein T-Shirt mit dem Emblem von Led Zeppelin? Frank Goosen trifft die Seele des in die Jahre gekommenen Mannes.

Die Charaktere sind markant, die Dialoge wirken erfrischend und die Szenen bewegen sich zwischen Komödie und Tragödie. Wer mit der Rockmusik der 1970er Jahre groß geworden ist oder das Lebensgefühl dieser Zeit kennen lernen möchte, sollte den Roman lesen. Für Träume ist „Mann“ nie zu alt. Frank Goosens „So viel Zeit“ ist unterhaltend wie Sven Regeners „Herr Lehmann“ und Tommy Jauds „Millionär“.

Bewertung vom 21.07.2016
Unten sind ein paar Typen
Dal Masetto, Antonio

Unten sind ein paar Typen


ausgezeichnet

Paranoia

Der Roman spielt im Jahr 1978 in Buenos Aires und beschreibt zwei Tage aus dem Leben von Pablo, einem argentinischen Journalisten. In Argentinien herrschte zu dieser Zeit eine Militärdiktatur Es verschwanden Zehntausende von Menschen spurlos aus ihrem Lebensumfeld.

Pablo vertreibt sich die Zeit in Kneipen, Cafés und Restaurants. Als seine Freundin Ana bemerkt, dass gegenüber seiner Wohnung ein paar Typen im Auto sitzen und das Umfeld observieren, wiegelt er ab. Aber die Saat des Zweifels ist gesät. Wurde nicht in der Vergangenheit sein Telefon abgehört?

Antonio Dal Masetto richtet den Fokus auf die Entwicklung von Pablos Beziehungen zu seinen Freunden und auf seine privaten Aktivitäten. Er verzichtet darauf, den gesellschaftlichen und politischen Rahmen im Argentinien der 1970er Jahre zu erläutern. Die permanente Bedrohung durch das Regime spiegelt sich in den Handlungen der Protagonisten wieder. Die Atmosphäre in Buenos Aires ist düster und von Misstrauen geprägt. Angst und Zweifel werfen ihre Schatten voraus. Die latente Bedrohung führt zur Distanzierung und damit in die Isolation. Pablo leidet unter Verfolgungswahn und schüttelt imaginäre Verfolger ab.

Mit einfachen sprachlichen Bildern, kurzen Dialogen und unkomplizierten Handlungen gelingt es dem Autor auf überzeugende Weise, den Kontrast zwischen der Euphorie der Massen (nach einem Fußballspiel) und der Vereinsamung des Individuums in einer Diktatur spürbar zu machen. Es bedarf keiner brutalen Szenen, um den psychischen Druck der Menschen zum Ausdruck zu bringen. So wie Autor Dal Masetto in seinem Roman „Blut und Spiele“ die Lieblosigkeit einer Gesellschaft thematisiert, inszeniert er in diesem empfehlenswerten Roman die paranoiden Auswirkungen einer permanenten Einschüchterung durch einen Unrechtsstaat.

Bewertung vom 20.07.2016
Das Zimmermädchen (eBook, ePUB)
Orths, Markus

Das Zimmermädchen (eBook, ePUB)


gut

Probleme mit der Identität

Das Buch erinnert ein wenig an Bragi Ólafssons Roman „Die Haustiere“. Auch dort liegt jemand unter dem Bett und lauscht, was in der Umgebung passiert. Während Emil Halldórsson in „Die Haustiere“ auf groteske Weise zum Beobachter seines eigenen Lebens wird, ist Protagonistin Lynn Zapatek in „Das Zimmermädchen“ die manisch getriebene Suchende, die durch das Ausforschen von Intimitäten wissen will, wie sie ihr eigenes Leben in den Griff bekommen kann. Es geht in beiden Fällen um Probleme mit der Identität.

Lynn, die eine Psychotherapie hinter sich hat, muss sich, wie sie selbst meint, „ins Handeln flüchten“. Ihren Drang nach Aktivität lebt sie beim Putzen aus. Sie putzt die Spiegel von hinten und die Stehlampen von unten – sie ist eine Getriebene. Ebenso hat sie zu den Menschen ihrer Umgebung eine zwanghafte Beziehung. Hierzu gehören Heinz, mit dem sie ein Verhältnis hat, ihre Mutter, die sie wöchentlich anruft und mit der sie Belanglosigkeiten austauscht und die Prostituierte Chiara, die sie im Hotel kennen lernt.

Autor Orths verwendet kurze Sätze, die in einigen Fällen durch das Weglassen von Artikeln oder Pronomen abgehackt wirken. Der Text ist jedoch leicht verständlich. Die Brüche in den Sätzen symbolisieren, so der Eindruck, die Frakturen in der Psyche der Protagonistin.

Die Geschichte kann von unterschiedlichen Perspektiven aus betrachtet werden. Der Rahmenhandlung nach zu urteilen handelt es sich um leichte humorvolle Kost. Psychologisch gesehen ist es die eher ernste Geschichte der Lynn Zapatek, die ihr Leben nicht in den Griff bekommt. Der Autor vermischt diese Ebenen, was ihm nur mäßig gelungen ist. Hinzu kommt, dass Autor Orths mit dem Voyeurismus spielt, der nicht nur seine Romanfigur Lynn Zapatek in den Bann ziehen soll, sondern auch die Leser.

Bewertung vom 20.07.2016
Alles Zufall
Klein, Stefan

Alles Zufall


ausgezeichnet

Die Macht des Zufalls

Es ist nicht alles Zufall, aber der Zufall spielt im Leben eine weitaus größere Rolle, als uns bewusst ist. Stefan Klein erläutert im ersten Teil des Buches was Zufälle sind und wie sie entstehen. Er unterscheidet zwei Bedeutungen von Zufällen. Zufällig ist, was wir nicht anders erklären können oder wollen. Die Kausalität ist keinesfalls aufgehoben, nur vermögen wir die Ursachen des Geschehens nicht vollständig zu erklären. Die zweite Bedeutung von Zufall hat etwas mit Koinzidenzen zu tun. Das Zusammenfallen von Ereignissen erscheint uns auffällig. Bei einer Verkettung von Ereignissen können wir nicht wissen, ob diese wirklich zufällig zustande gekommen sind. Man kann den Zufall nicht beweisen.

In „Der Irrtum des Nostradamus“ stellt der Autor fest, dass Prognosen über längere Zeiträume in dynamischen Systemen unmöglich sind, weil anfängliche Unsicherheiten über die Zeit exponentiell anwachsen. Er resümiert, dass es kein Widerspruch ist, dass die Dinge nach (physikalischen) Gesetzen verlaufen und wir sie dennoch nicht vorhersagen können. Bedeutet das, dass alles nach Plan verläuft? Könnte ein Überwesen mit den Fähigkeiten eines Laplace' schen Dämon den Lauf der Welt in alle Zukunft berechnen? Unter diesen Voraussetzungen eines metaphysischen Determinismus wäre Freiheit eine Illusion. Die Zukunft wäre restlos in der Vergangenheit enthalten. - In der Quantenmechanik liegt der Zufall in den Naturgesetzen begründet. Damit ist dem Laplace' schen Dämon der Garaus gemacht.

Der zweite Teil des Buches steht unter dem Motto „Der Zufall als Schöpfer“. Hier geht es u.a. um die Bedeutung des Zufalls während der Evolution. Hier tritt der Zufall in Form von Mutationen auf. Autor Klein erläutert anhand von Beispielen den Unterschied zwischen der zufallsbedingten Evolution und einer Evolution nach Plan. Der Zufall fördert Kreativität und erweist sich als Motor der Evolution. Der Preis dafür ist Unberechenbarkeit und damit Unsicherheit. Aber anders ist Freiheit nicht zu haben. Darwin hat den Menschen die Vorstellung genommen, dass die Entwicklung allen Lebens nur auf ihn abzielte.

Im dritten Teil des Buches geht es um den Umgang mit Zufällen. Wir neigen dazu Zusammenhänge zu sehen, wo es keine gibt. Das Gehirn interpretiert ständig und ständig verwechseln wir Koinzidenz mit Kausalität. Muss man sich da noch wundern, dass Verschwörungstheorien wie Pilze aus dem Boden schießen? Die selektive Wahrnehmung zählt zu den wichtigsten Tricks des Gehirns, den Zufall zu leugnen. Auch räumt Autor Klein mit der Vorstellung auf, dass Tumore eine Folge verdrängter Sorgen seien. Klein lässt Erkenntnisse der Hirnforschung und der Psychologie einfließen, setzt sich mit Fragen der Wirtschaft auseinander und rügt den übergroßen Wunsch nach Verlässlichkeit als die eigentliche Ursache der deutschen Krankheit, die dem Land ein niedriges Wirtschaftswachstum und eine hohe Arbeitslosigkeit beschert.

Der vierte Teil des Buches zeigt Wege auf, sich vor verhängnisvollen Fehlschlüssen zu schützen. Wir können uns den Zufall zum Freund machen. Wenn aber harmlose Details auf unvorhergesehene Weise zusammenwirken, sind wir machtlos. Kleinigkeiten können zur Katastrophe führen, wie der Autor anhand von Beispielen erläutert. Es ist daher kein Zufall, dass die NASA bei ihrem Raumfahrtprogramm mit alten Rechnern arbeitet, da man deren Fehler kennt. Auch ist es nicht immer sinnvoll, Straßen zu begradigen, weil dann die Wachsamkeit nachlässt und eher mehr als weniger Unfälle passieren. Als wichtiges Rezept bei komplexen Abhängigkeiten empfiehlt der Autor, kleine Schritte zu gehen. Die Evolution ist ein Beispiel für dieses Erfolgsrezept.

Stefan Klein deckt eine große Bandbreite ab. Er beleuchtet den Zufall aus unterschiedlichen Perspektiven. Auch wenn viele Erkenntnisse aus anderen Büchern schon bekannt sind, ist es doch diese besondere Fokussierung, welche das Buch lesenswert macht.

Bewertung vom 20.07.2016
Abscheu vor der Weltgeschichte
Chargaff, Erwin

Abscheu vor der Weltgeschichte


ausgezeichnet

Ein Wissenschaftskritiker rechnet ab

Erwin Chargaff, Biochemiker von Weltrang, starb 2002 im Alter von 96 Jahren. Er gilt als einer der Pioniere auf dem Gebiet der Erforschung der Struktur der DNS und wurde in späteren Jahren zu einem der kompetentesten Kritiker der naturwissenschaftlichen Forschung. Bezeichnend für ihn war, neben seinem enormen Fachwissen, sein hohes Maß an klassischer Bildung.

Was ist Wahrheit? Der eine sucht die Wahrheit mit dem Kopf und der andere mit dem Herzen. Nach Erwin Chargaffs Interpretation strebt die Naturwissenschaft zwar nach Wahrheit, kann aber nur Wahrscheinlichkeitsaussagen machen. Was Leben ist, kann die Naturwissenschaft nicht erklären. Dass sie für viele zu einer Art Religionsersatz geworden ist, schränkt sie eher ein. Wie sieht es dagegen mit der Wahrheit in der Literatur und der Kunst aus? Große Werke der Literatur und der Kunst zeichnen sich durch Schönheit aus, nicht durch Wahrheit. Chargaff zitiert Nietzsche, um seine Ansicht zu untermauern: „Wir haben die Kunst, damit wir nicht an der Wahrheit zugrunde gehen.“

Chargaff untersucht die Verhältnisse in seiner Wahlheimat Amerika und entdeckt an vielen Stellen chronischen Hass. Ein T-Shirt mit der Aufschrift „Kill a Commie for Mommy“, das manche Kinder tragen, ist für ihn Einstieg in das Thema. Harmlose Graffiti? Der Hass ist nicht immer eindeutig erkennbar, aber er ist vorhanden. Chargaff dehnt seine Überlegungen auf Europa aus und findet auch hier zahlreiche negative Beispiele. Die Ursachen sieht er im Patriotismus, der sich schnell zum Nationalismus entwickeln kann.

Die Völker haben ihre Traditionen verloren. Es gibt nach Chargaff zu viele Spezialisten und zu wenige Generalisten. Ist damit das Bildungsniveau gestiegen? Bildung, so wie Chargaff sie versteht, setzt Wissen quer durch die Literatur und die Sozial-, Geistes- und Naturwissenschaften voraus. Hieran mangelt es in unserer modernen Zeit. Traditionsbewusstsein, entstanden aus dem Vermächtnis unzähliger Menschen, gibt es heute nicht mehr.

Historiker schreiben Bücher, die zum Erbe ihrer Sprache und der Kultur ihres Landes gehören. Was ist, wenn diese Vergangenheit voller Schande ist? Der Abscheu vor der Weltgeschichte wird am Holocaust besonders deutlich. Was ist, wenn dunkle Phasen der Geschichte verdrängt werden? Das Gedächtnis des Volkes hat nur einen beschränkten Lagerraum für nationale Schande. Folglich werden Verdrängungsmechanismen in Gang gesetzt. Geschichte wird gefälscht, nach dem Motto: Glücklich ist, wer vergisst.

Chargaff setzt sich kritisch mit den Naturwissenschaften auseinander. Die Geschwindigkeit, mit der technische Neuerungen in die Wirtschaft einfließen und auch das Gemütsleben Einzelner beeinflussen, ist ein besonderes Merkmal dieser Zeit. Warum sind die Früchte vom Baum des Wissens tödliche Früchte? Hiroshima, Tschernobyl, Bhopal und Seveso sind Beispiele dafür, dass die Menschheit in ihrem Wissensdurst schon viel zu weit gegangen ist. Chargaff zitiert Kierkegaard: „Alles Verderben wird zuletzt von den Wissenschaften ausgehen“. Dass die Erde den Menschen nur geliehen wurde, scheint in Vergessenheit geraten zu sein.

Erwin Chargaff thematisiert Grenzüberschreitungen der Menschheit und führt einen Kampf gegen das Vergessen. Seine Analysen sind messerscharf und seine Gesamtschau rüttelt an Grundfesten. Sein extremer Pessimismus lässt keinen Spielraum für eine positive Zukunft. Trotzdem – oder gerade deshalb – sollte man sich mit Chargaff auseinandersetzen. Seine Thesen sind hoch aktuell.