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mimitatis_buecherkiste
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Krefeld

Bewertungen

Insgesamt 721 Bewertungen
Bewertung vom 31.10.2021
Every (deutsche Ausgabe)
Eggers, Dave

Every (deutsche Ausgabe)


sehr gut

Der Circle heißt nun Every und ist mächtiger denn je; bisher bestand der Circle aus der größten Suchmaschine der Welt und dem größten Social-Media-Anbieter, nun aber wurde mit dem erfolgreichsten Onlineversandhändler fusioniert. Wo die Macht von Circle riesig war, erscheint die Macht von Every fast grenzenlos. Zur lückenlosen Überwachung kommen nun weitere Apps und Programme hinzu, die in nahezu jedem Bereich den Menschen Anweisungen geben, Vorschläge machen und ihnen Entscheidungen abnehmen sollen, die seitens des Unternehmens klar vorgegeben werden. Sich dagegen aufzulehnen oder zu wehren, erscheint fast unmöglich. Dennoch ist Delaney fest entschlossen, die Firma zu zerschlagen und von innen heraus zu zerstören. Sie bewirbt sich bei Every und wird eingestellt.

Der Circle hat mich letztes Jahr begeistert und so war klar, dass ich die Fortsetzung auf jeden Fall lesen möchte. Natürlich werden im Buch keine echten Namen der Unternehmen, um die es geht, genannt, aber man kommt leicht dahinter, wer gemeint ist. Und wer nicht drauf kommt, der bekommt subtile Hinweise durch den Autor, die mich im ersten Drittel immer wieder schmunzeln ließen.

„Fünf Jahre zuvor hatte der Circle einen E-Commerce-Giganten aufgekauft, der nach einem südamerikanischen Dschungel benannt war. So war das reichste Unternehmen entstanden, das die Welt je gesehen hat.“ (Seite 12)

Dieses Buch eignet sich nicht für Personen, die mit der Technik auf dem Kriegsfuß stehen. Man sollte schon wissen, wie eine Suchmaschine funktioniert, Social-Media zumindest mal ausprobiert und die ein oder andere App benutzt haben. Das Verständnis für elektronische Medien wird hier vorausgesetzt und nicht erst beim lesen vermittelt. Anfangs wurde sogar ich fast erschlagen von der Fülle der Möglichkeiten, die bei Every erdacht, entwickelt, programmiert und auf den Markt geworfen werden. Es gab tatsächlich einige Stellen, wo mich die Story überfordert hat, an denen ich gemerkt habe, dass meine Gedanken abschweifen und meine Konzentration schlicht und ergreifend aufgibt. Die Phantasie des Autors ist unglaublich, allerdings war mir die Menge der in kürzester Zeit vorgestellten Möglichkeiten besonders am Anfang zu viel. Hier hätte ich mir manchmal mehr Story und weniger Tech-Kram gewünscht.

Die Gefahren der Globalisierung, des Klimawandels und der Monopolisierung werden hier überspitzt dargestellt, allerdings empfand ich dies nicht als utopisch, da ich bei vielen Ausführungen das Gefühl hatte, dass die Realität kurz davor ist, die Fiktion zu überholen. Ich wurde bestens unterhalten und könnte mir tatsächlich eine Fortsetzung vorstellen. Von mir gibt es 4 Sterne und eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 29.10.2021
Blutbringer
Cleave, Paul

Blutbringer


ausgezeichnet

Der Polizist Noah Harper ist entschlossen, die siebenjährige Alyssa zu finden, die entführt worden ist. Dazu ist er bereit, jede Grenze zu überschreiten, die nötig ist, er schreckt vor Gewalt und Folter nicht zurück. Er findet das Kind, verliert aber im Gegenzug alles; Job, Frau, Zuhause und ein wenig auch sich selbst. Als er zwölf Jahre später um Hilfe gebeten wird, weil Alyssa wieder verschwunden ist, zögert er nicht lange, schließlich hat er dem Mädchen damals versprochen, dass er sie immer vor dem bösen Mann beschützen wird.

Das Buch katapultiert mich sofort mitten in die Geschichte rein, fasziniert verfolge ich, was Noah tut, um das Kind zu finden. Er findet keinen Gefallen an seinem Tun, ist aber bereit, sehr weit zu gehen, um sein Ziel zu erreichen. Noah ist ein sympathischer Charakter, der nicht grundsätzlich böse ist. Er ist auch kein Übermensch, sondern ein Mann mit Prinzipien. Für seine Lieben geht er über Leichen, im Job gibt er alles. Er hat sich ein neues Leben aufgebaut und trotzdem zögert er nicht, dahin zurückzukehren, wo er nicht erwünscht ist, um ein Versprechen einzulösen, das er gab. Er wird geschlagen und schlägt zurück, trotz aller Widrigkeiten ist er fest entschlossen, die junge Frau zu finden.

Dieses Buch lässt mir keine Pause zum durchatmen. Es ist brutal und es ist blutig, aber trotzdem kommt der Humor, wie in allen Büchern des Autors, nicht zu kurz. Die Story selbst ist nicht neu, schon recht früh habe ich einen Verdacht, was passiert sein könnte, der sich letztlich bestätigt. Trotzdem war es mir eine große Freude, den Thriller zu lesen, der diese Bezeichnung mehr als verdient. Das Ende ist nicht offen, aber ich könnte mir eine Fortsetzung gut vorstellen. Sehr gerne würde ich erneut mit Noah gegen das Böse antreten, so viel Spaß hat es mir gemacht. Von mir gibt es 5 Sterne und eine Leseempfehlung für alle, die auf harte, rasante, aber auch humorvolle Action stehen.

Bewertung vom 27.10.2021
Das Flüstern der Feigenbäume
Shafak, Elif

Das Flüstern der Feigenbäume


ausgezeichnet

Während des Bürgerkriegs auf Zypern verlieben sich Defne und Kostas ineinander. Da sie Türkin und er Grieche ist, ist eine solche Liebe damals nicht nur ungehörig, sondern lebensgefährlich. Die beiden werden während der Unruhen getrennt und sehen sich erst fünfundzwanzig Jahre später wieder. Trotz vieler Jahre des Getrenntseins ist die Anziehung zwischen den beiden sofort wieder da. Kostas will, dass Defne ihn nach England begleitet, wo er seit seiner Abreise von Zypern lebt. Die Vergangenheit aber lässt sich so leicht nicht abschütteln.

Ich habe das Buch beendet und bin traurig darüber, dass es zu Ende ist. Traurig, weil diese Erzählung eine so unglaublich aufregende, unterhaltsame, ungewöhnliche und phantastische Leseerfahrung war, die mir viele tolle Lesestunden beschert hat. Springend zwischen den Zeiten setzt sich nach und nach die Geschichte von Defne und Kostas, aber auch die von Zypern zusammen. Wie außergewöhnlich dieses Buch ist, merkt man schon daran, dass eine Erzählstimme dem Feigenbaum zuzuordnen ist. Dem Feigenbaum? Ja, genau, denn dieser Feigenbaum hat in über hundert Jahren seines Daseins viel gesehen und gehört, woran er uns teilhaben lässt.

Es geht um Heimat, Wurzeln, Herkunft und Familie. Es geht um Glauben und Aberglauben, Frieden und Krieg. Es geht um die Natur und das Klima, die Zerstörung der Welt. Menschen, Pflanzen, Bäume und Insekten, all das kommt im Buch vor. Kaum ein Thema, das die Autorin nicht einbindet in diese phantastische und aussergewöhnliche Mischung aus historischen Fakten, Sagen, Fabeln, Mythen und Märchen, Legenden, Religionen und Traditionen, Weisheiten und Sprichwörtern. Dazu eine Liebesgeschichte zwischen zwei Menschen aus unterschiedlichen Welten, aus verschiedenen Kulturen, mit anderen Sprachen und manchmal auch konträrer Sicht. Eine Liebe, die nicht sein durfte, nicht sein konnte und die trotzdem passiert ist.

Ich habe sehr viel gelernt über die Geschichte von Zypern, aber auch unglaubliche Fakten über Bäume, Insekten und überhaupt die Natur erfahren. Ohne einen erhobenen Zeigefinger hat die Autorin mein Augenmerk auf viele Probleme gelenkt, die mir unbekannt waren und meine Sicht zum Beispiel auf Bäume für immer verändern werden. Eine wunderbare, herzerwärmende Geschichte, von der ich nicht wollte, dass sie endet. Ich habe nicht nur mein Monatshighlight, nein, ich habe mein absolutes Jahreshighlight gefunden. Von mir gibt es 10 Sterne von 5 und eine unbedingte Leseempfehlung. Lest dieses Buch! Es wird euch hoffentlich genauso bezaubern wie mich.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 25.10.2021
Erstaunen
Powers, Richard

Erstaunen


gut

Robbie ist ein besonderes Kind, er ist hochbegabt und weist Asperger-Züge auf, manch ein Arzt weist auf ADHS hin. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Werk seiner toten Mutter weiterzuführen und alles zu tun, um die Natur zu retten. Robbies Vater Theo, von Beruf Astrobiologe, versucht nach dem Tod seiner Frau alles, damit Robbie unbeschwert aufwachsen kann. Der Umgang mit Robbie ist nicht immer einfach, was im Zusammenleben von Vater und Sohn manchmal, in der Schule aber oft zu Problemen führt. Trotzdem tut Theo alles, damit Robbie eine tolle Kindheit hat und will es unbedingt vermeiden, ihn mit Psychopharmaka ruhig zu stellen, wie von vielen Seiten gefordert wird.

„Mein Junge war ein Universum im Miniaturformat, eines, das ich niemals ergründen würde. Jeder von uns ist ein Experiment, und wir wissen nicht einmal, was mit diesem Experiment erforscht werden soll.“ (Seite 12)

Es ist schwer für mich, dieses Buch zu bewerten. Der Klappentext hat mich sehr neugierig gemacht und ich wollte den Autor, von dem ich noch kein Werk kenne, unbedingt kennenlernen. Aber fangen wir von vorne an. Wie Theo mit Robbie umgeht, auf seine Bedürfnisse, Wünsche und Besonderheiten eingeht, das liest sich so schön, dass es eine Freude ist. Natürlich hat Theos Geduld auch Grenzen, nicht immer klappt reibungslos, was sich doch so einfach anhört, aber Aufgeben ist keine Option. Robbies Mutter hat sich unter anderem für bedrohte Tierarten eingesetzt, war Naturschützerin aus Überzeugung, und Robbie eifert ihr nach. Theo unterstützt dies, so gut er kann, und so erfahren wir einiges darüber, was auf unserer Erde so schrecklich schiefläuft. Das ist interessant, aber auch erschreckend. Daneben ist Theo mit Herz und Seele Astrobiologe und dieser Umstand nimmt im Buch viel Raum ein, was mich zum größten Kritikpunkt am Buch bringt. Ich habe nicht damit gerechnet, dass es seitenweise um Planeten und fremde Galaxien geht, dass die berufliche Seite von Theo immer wieder thematisiert wird, sein Werdegang, seine wissenschaftlichen Forschungen so oft Gegenstand der Erzählung sein würden. Vieles habe ich nicht verstanden, vieles hat mich nicht interessiert. Dieses Thema hat im Gegenteil dazu geführt, dass ich immer wieder aus der eigentlichen Story herausgerissen wurde. Dies führt dazu, dass ich zwiegespalten bin, was das Buch angeht. Die Passagen über Theo und Robbie waren toll; diese Vater- und Sohn-Beziehung hat der Autor wunderbar geschildert, was mich begeistert hat. Der Rest aber? Darf ich etwas schlecht bewerten, weil ich es nicht verstehe? Ich denke nicht. Dennoch wollte ich einen Roman lesen und keine wissenschaftliche Abhandlung. So nehme ich die goldene Mitte und vergebe drei Sterne.

Bewertung vom 20.10.2021
Im letzten Licht des Herbstes
Lawson, Mary

Im letzten Licht des Herbstes


gut

Clara ist sieben, als ihre Schwester nach einem Streit mit der Mutter verschwindet. Sie wartet seitdem am Fenster darauf, dass Rose wiederkommt. Das Nachbarhaus ist verwaist, seit die Bewohnerin, die über siebzigjährige Elizabeth Orchard, im Krankenhaus liegt. Clara hat Mrs. Orchard versprochen, sich in deren Abwesenheit um ihren Kater Moses zu kümmern, dafür besitzt sie einen eigenen Schlüsselbund. Als eines Tages ein Fremder ins Haus von Mrs. Orchard einzieht, ist Clara entsetzt. Wer ist dieser Mr. Kane und wann kommt Mrs. Orchard wieder, das sind neben dem Verschwinden der Schwester Fragen, die Clara beschäftigen.

Aus drei Perspektiven wird die Geschichte erzählt. Da ist die kleine Clara, deren Gedanken kindlich und oft chaotisch sind. Daneben Elizabeth, die im Krankenhaus liegt und ihre Gedanken mit ihrem verstorbenen Mann teilt. Und da ist Liam, dem Mrs. Orchard ihr Haus geschenkt und den sie in ihrem Testament als Alleinerben bestimmt hat. Liam, der, frisch von seiner Frau getrennt, alle Brücken hinter sich abgerissen und in die Kleinstadt gereist ist, um ein Erbe anzunehmen von einer Frau, die er das letzte Mal als Kleinkind von vier Jahren gesehen hat.

Alle diese Fragmente, Gedanken, Gefühle und Erinnerungen ergeben erst allmählich ein Gesamtbild. Die Idee ist toll, aber leider ist die Umsetzung schwach. Schon am Anfang verliert sich die Story in Belanglosigkeiten, ein wenig Langeweile kommt bei mir auf. Ein Blatt hier, ein Baum da, dort ein paar Berge, blablabla. Da ist einerseits zwar die Neugier, endlich zu erfahren, warum Elizabeth so an Liam hängt, andererseits dümpelt die Erzählung so lange vor sich hin, dass dies fast nebensächlich wird. Als dann die Lösung präsentiert wird, die Wahrheit endlich ans Licht kommt, geschieht dies so unspektakulär nebenbei, dass die Brisanz dieser Enthüllung vollkommen untergeht. Das letzte Drittel wird hastig abgearbeitet, fast so, als müsste nun in kürzester Zeit das Buch beendet werden. Das fand ich sehr schade und bleibe enttäuscht zurück. Von mir gibt es drei Sterne.

Bewertung vom 18.10.2021
Todesschmerz / Sabine Nemez und Maarten Sneijder Bd.6
Gruber, Andreas

Todesschmerz / Sabine Nemez und Maarten Sneijder Bd.6


ausgezeichnet

Als die deutsche Botschafterin und ihr Sicherheitschef in Norwegen sterben, werden BKA-Profiler Maarten S. Sneijder und Sabine Nemez nach Norwegen geschickt, um der norwegischen Polizei beratend zur Seite zu stehen und die Morde aufzuklären. Sneijder passt dies gar nicht, ist er doch gerade damit beschäftigt, einen Verräter in den eigenen Reihen zu suchen. Die Ermittlungen gestalten sich schwierig, da die norwegische Polizei die Zusammenarbeit behindert. Die Lage spitzt sich zu, als das restliche Team von Sneijder nach Norwegen geschickt, ein gefährlicher Mann auf die Ermittlungen aufmerksam und ein Mitglied von Sneijders Teams lebensgefährlich verletzt wird.

Dies ist der 6. Fall von Sneijder und Nemez und für mich persönlich der beste Teil der Reihe. In diesem Buch ist die Spannung konstant so hoch, dass es eine Freude ist, durch die immerhin 590 Seiten zu rauschen. Zusätzlich zum laufenden Fall erfahre ich in Rückblenden, was Wochen vorher passiert ist. Dies führt aber nicht etwas dazu, dass ich der Auflösung auch nur eine Spur näher komme, weil der Autor es einfach glänzend versteht, mich auf falsche Fährten zu schicken. Immer wenn ich sicher bin, zu verstehen, was passiert ist, wendet sich das Blatt und ich staune, wie raffiniert ich an der Nase herumgeführt wurde. Dieser Fall ist rasant, interessant und packend, aber dazu sehr emotional, denn ohne Personenschäden läuft es auch diesmal nicht ab. Mehr möchte ich nicht schreiben, denn zu groß ist die Gefahr, zu viel zu verraten. Verraten möchte ich an dieser Stelle nur, dass der nächste Teil bereits für September 2022 angekündigt ist und das ist hinsichtlich des Endes eine wunderbare Nachricht!

Für Fans des Autors ist dieses Buch ein Hochgenuss, allen anderen empfehle ich, schon wegen der Entwicklung der Charaktere, die Reihenfolge einzuhalten, wenn auch jedes Buch ohne Vorkenntnisse gelesen werden könnte. Allerdings verpasst ihr dann eine tolle Buchreihe und das wäre schade. Ich sollte vielleicht noch erwähnen, dass der Humor göttlich ist! Ich wurde schon lange nicht mehr so gut unterhalten durch einen Thriller, vergebe 5 Sterne mit Sternchen und spreche eine unbedingte Leseempfehlung aus. Lest es und ihr werdet es lieben!

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 14.10.2021
Grace
Lynch, Paul

Grace


gut

Am Anfang der großen Hungersnot in Irland kann Sarah nicht mehr alle ihre Kinder ernähren. In ihrer Not schneidet sie ihrer vierzehnjährigen Tochter Grace die Haare ab, zieht ihr Männerkleidung an und schickt sie auf die Straße, damit sie Arbeit sucht und sich selbst ernährt. Seit dem Sommer des Jahres 1845 sind die Straßen voll mit Hungernden und Grace ist nun eine von vielen. Unbemerkt von der Mutter ist ihr jüngerer Bruder Colly weggelaufen, um sich Grace anzuschließen. Es folgt eine Wanderschaft, bei der es um Leben und Tod geht, in einem Land, das keine Rücksicht nimmt auf die Ärmsten der Armen.

„Was draußen auf die beiden wartet, ist klirrende Kälte, als hätt sie ihnen extra aufgelauert, wie ein Tier, ein gieriges, im Dämmerschein des Morgens, der tief und grob und grau dort hockt. Noch nicht die richtige Winterkälte, obwohl die Bäume sich dicht aneinanderdrängen, alten Männern gleich, die sich zur Strafe nackt ausziehen mussten, und das abgehärmte Land liegt da und wartet.“ (Seite 12)

Grace ist ein widersprüchlicher Charakter, anfangs ist sie kindlich und naiv, mein Mitgefühl ist hoch. Das Leben auf der Straße in dieser schlimmen Zeit verändert sie und stellenweise ertappe ich mich dabei, Abscheu zu empfinden, eine regelrechte Wut auf die junge Frau, die doch einfach nur das Produkt ihres unbeschreiblich grausamen Lebens ist. Ihre zeitweiligen Gefährten aber bleiben für mich blass, was vielleicht beabsichtigt ist, vielleicht auch nicht. Passend zum Land und Zeit ist die Sprache; teils poetisch und anmutig, schnodderig und frech, aber auch altmodisch und anstrengend sind die Sätze, die mir volle Konzentration abverlangen. Es geht um die große Hungersnot, das Leid der Menschen und das Versagen der Regierung, die nicht in der Lage ist, ihrem Volk zu helfen. Eine Zeit, in der es um das nackte Überleben geht, eine Zeit, in der es keine Gnade und kein Mitgefühl gibt, in der sich jeder selbst der nächste ist.

Die Geschichte von Grace steht im Mittelpunkt, darin kommen irische Sagen und Märchen, Lieder und Sprüche, Geister und Wesen aus einer anderen Welt vor. Dies ist natürlich der Zeit geschuldet, wo Aberglaube weit verbreitet war, für mich aber wirkt alles überladen und so, als wollte der Autor so viel wie möglich in die Erzählung reinpacken, dazu historische Fakten mit Fiktion verweben, und leider geht das für mich persönlich gehörig schief. Sperrige Sätze, oft über eine ganze Seite, führen dazu, dass ich nicht weiß, was wahr und was Wahnvorstellung ist. Mystische Ansätze, die aber nie zu Ende geführt werden, verwirren mich immer wieder und führen dazu, dass ich versucht bin, weiter zu blättern, ganze Absätze zu überspringen. Stellenweise ist die Geschichte zwar sehr spannend und fesselt mich ungemein, dann aber folgen Passagen, die ich nicht verstehe, Sätze, die keinen Sinn ergeben. Das letzte Viertel ist für mich eine Qual. Nach fünf Seiten (im wahrsten Sinne des Wortes) sinnlosen Gebrabbel folgen Kapitel, die meine Aufmerksamkeit auf Null runterfahren. Nun fordert die düstere, fast schon depressiv anmutende Erzählung ihren Tribut und ich bin fast schon froh, das Ende erreicht zu haben, das der Story dann letztendlich den Todesstoß verabreicht und mich traurig und enttäuscht zurücklässt. Mich hat das Buch leider nicht erreicht, lediglich der Anfang und der Mittelteil konnten bei mir punkten. Halb zufrieden vergebe ich 3 Sterne.

Bewertung vom 11.10.2021
Die Früchte, die man erntet / Sebastian Bergman Bd.7
Hjorth, Michael;Rosenfeldt, Hans

Die Früchte, die man erntet / Sebastian Bergman Bd.7


ausgezeichnet

Die Reichsmordkommission wird um Hilfe gebeten, als ein Heckenschütze innerhalb kürzester Zeit mehrere Personen umbringt. Die Toten haben auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun, sodass das Ermittlerteam anfangs im Dunkeln tappt. Der Druck auf die Reichsmordkommission steigt, als es einen weiteren Toten gibt. Währenddessen hat sich Sebastian Bergman an sein ruhiges Leben gewöhnt. Er darf sich um seine Enkelin kümmern, sieht seine Tochter regelmäßig und betreibt in seiner Wohnung eine Praxis. Als ein neuer Patient seine Erlebnisse während des Tsunamis 2004 therapieren möchte, wird Sebastian wegen seiner eigenen Vergangenheit stark getriggert. Und dann gibt es da noch Billy. Billy, der einen dunklen Drang verspürt, den er kaum kontrollieren kann, den er aber kontrollieren will. Kann das klappen?

Selten ist mir der Einstieg in ein Buch so schwergefallen wie hier. Neben der eigentlichen Story gibt es einen Nebenstrang, der zuerst nicht zum restlichen Geschehen passt, der aber irgendwann perfekt in die Geschichte eingeflossen ist. Dazu kommen einige Veränderungen im Ermittlerteam, die mich verwirrt haben, denn zuerst dachte ich, ich würde mich nicht daran erinnern, weil zwischen dem letzten Fall so viel Zeit vergangen ist. Anscheinend sind diese Änderungen aber in der Pause zwischen den Büchern passiert, was sich irgendwann aufklärt. Dies und der Umstand, dass ich unbedingt wissen wollte, wann und wie es nun mit Billy weitergeht, hat aber dazu geführt, dass einiges an mir vorbeigeflossen ist, ohne einen großen Eindruck bei mir zu hinterlassen. Das ist schade, denn im Prinzip ist die Story wirklich gut und auch sehr spannend. Ab etwa der Mitte bin ich dann endlich im Buch angekommen, einige Fragen wurden beantwortet und die Spannung stieg an, und zwar so gewaltig, dass es kaum auszuhalten war. Das letzte Drittel hat mich dann für den schweren Start entschädigt und führt letztendlich dazu, dass ich begeistert von einem Highlight sprechen kann. Und das Ende? Meine Güte, das Ende! Ich hoffe, die Autoren haben das nächste Buch bereits angefangen, denn wieder so lange auf die Beantwortung der neu aufgeworfenen Fragen zu warten, das halte ich kaum aus. 5 Sterne und eine Leseempfehlung sind da das mindeste, das ich vergeben und aussprechen kann.

Dies ist der siebte Teil einer Reihe um Kriminalpsychologe Sebastian Bergman. Ich empfehle dringend, die richtige Reihenfolge einzuhalten und insbesondere bei diesem Buch den Klappentext NICHT zu lesen!

Bewertung vom 06.10.2021
Liebe deine Nachbarn wie dich selbst
Candlish, Louise

Liebe deine Nachbarn wie dich selbst


ausgezeichnet

In dem ruhigen und gepflegten Vorort Lowland Way im Süden Londons ist die Welt noch in Ordnung. Die Nachbarn kennen sich, manche sind eng miteinander befreundet, die Kinder spielen miteinander, an autofreien Sonntagen sogar auf der Straße. Es ist ein regelrechtes Vorstadtparadies. Dies ändert sich, als die Bewohnerin aus Haus Nummer 1 stirbt und das Haus ihrem Neffen hinterlässt, der mit Frau sowie seiner Werkstatt einzieht. Mit den reparaturbedürftigen Autos parkt er die ruhige Straße völlig zu und ist abwechselnd mit den Arbeiten an den Karosserien sowie an dem Haus beschäftigt. Dazwischen besteht sein Leben aus lauter Musik und viel Alkohol. Dies alles führt zu Unmut, Streit und Ärger. Als ein schreckliches Ereignis das Viertel erschüttert, zeigen alle Nachbarn mit dem Finger auf die Neuankömmlinge. Die Polizei aber ist da einer gänzlich anderen Meinung.

Als die neuen Nachbarn einziehen, geht bereits das erste Kennenlernen gehörig schief und so zieht sich dieses missglückte Aufeinandertreffen durch das ganze Buch. Die Fronten verhärten sich, Allianzen werden gebildet, Pläne geschmiedet. Ich erfahre sehr früh, dass etwas passiert ist, aber nicht was. Am Anfang jedes Kapitels steht der Name eines der Beteiligten und zu Beginn ein Statement dieser Person gegenüber der Polizei. Nach und nach ergibt sich ein klares Bild, bis die Story in der Gegenwart ankommt, in der das Drama nicht etwa ein Ende findet. Ehrlich, das war so unglaublich gut, ich hätte ewig weiterlesen können!

Wenn ein Buch erscheint, in dem es um Nachbarn geht, muss ich es lesen. Ich liebe Geschichten, die sich um die zwischenmenschlichen Beziehungen drehen und was könnte spannender und aufregender sein, als Menschen, die meistens unfreiwillig ihr Leben nebeneinander verbringen (müssen hihi)? Was es da für Ärger, Streitigkeiten und andere Unannehmlichkeiten gibt; herrlich! Es ist das fremde Leben selbst, das ich aufregend und spannend finde, das vielen aber doch eher öde und langweilig erscheinen könnte. Die Einordnung als Thriller wird vielleicht dazu führen, dass manch ein Leser enttäuscht sein wird, der hier einen knallharten Thriller erwartet, denn davon ist dieses Buch weit entfernt. Solche Geschichten sind selten Thriller, sondern (wie hier) eher Dramen, bitterböse Satiren und Tragikomödien. Ich fand es wunderbar und vergebe gerne 5 Sterne und eine Leseempfehlung.

Bewertung vom 04.10.2021
Im Versteck
Thiesler, Sabine

Im Versteck


ausgezeichnet

Der freischaffende Fotograf Paul Böger verliebt sich in der Toskana in ein abgeschiedenes Haus. Es ist ihm egal, dass dieses Haus mehr eine Ruine ist, die er sich nicht leisten kann, und dass er kaum in der Lage ist, die Renovierung und Instandsetzung durchzuführen. Er ist überzeugt davon, dass dieses Haus heilende Kräfte besitzt und seine Rettung sein wird, denn Paul Böger verspürt einen Trieb, den er nicht kontrollieren kann. Er glaubt, jedem menschlichen Kontakt aus dem Weg zu gehen, sei die Lösung für alle seine Probleme. Als in den toskanischen Bergen ein kleines Mädchen verschwindet, fangen die Probleme allerdings erst an.

Paul Böger ist ein äußerst zerrissener Charakter. Da ist einerseits das Wissen, dass seine Begierde falsch und abartig ist. Er ist intelligent genug, die Krankheit anzuerkennen, weiß um seinen Zustand. Andererseits ist da der Trieb, der ihn beherrscht und den er einfach nicht kontrollieren kann, dem er nachgibt, sobald sich ihm die Gelegenheit bietet. Da ist niemand, dem er sich anvertraquen kann, dem er sich anvertrauen will, und so setzt er sich in den Kopf, durch selbst gewählte Isolation gesund werden zu können. Diesen inneren Kampf schildert Frau Thiesler sehr überzeugend.

Schwankend zwischen Faszination und Ekel, Wut und Abscheu konnte ich der Geschichte folgen. Der Schreibstil der Autorin ist einfach, aber dennoch eindringlich. Sie schafft es, den Figuren Tiefe zu geben und zeigt, dass es nicht nur schwarz-weiß gibt, sondern ganz viele Schattierungen von grau. Immer wieder gibt es überraschende Wendungen, sodass die Spannung konstant hochgehalten wird. Irgendwann war ich so im Buch gefangen, dass ich alles um mich herum vergessen habe. Natürlich gibt es auch ein Wiedersehen mit Neri und seiner Gabriella, die beide immer wieder in den Büchern der Autorin auftauchen. Das Setting, die Charaktere, die ganze Atmosphäre im Buch sind so stimmig, dass es eine Freude ist, diesen Thriller zu lesen, und das trotz des ernsten und wichtigen Themas, das mich erschüttert und stellenweise zum weinen gebracht hat. Der geschilderte Kindesmissbrauch und auch die Gewalt gegenüber Kindern im Buch ist nichts für sensible Menschen. Von mir gibt es 5 Sterne und eine Leseempfehlung.

4 von 5 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.