Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kata_____Lović
Wohnort: 
Bremen

Bewertungen

Insgesamt 177 Bewertungen
Bewertung vom 15.08.2023
Hier liegt Bitterkeit begraben
Fleury, Cynthia

Hier liegt Bitterkeit begraben


ausgezeichnet

Oft birgt die Lektüre von Sachbüchern, die nicht für ein Fachpublikum gedacht sind, Enttäuschungen. Sie vereinfachen, behaupten, verkürzen und begründen manchmal zu wenig oder zu unscharf für meinen Geschmack. Ganz anders die Philosophin und Psychoanalytikerin Fleury. Endlich eine Sachbuchautorin, die sich traut, in die komplexen Tiefen eines Phänomens einzutauchen und den Laien-Lesenden damit einiges abzuverlangen. Sie bleibt einladend dabei, den komplexen Theorien und Gedanken zu folgen.

Fleury wendet sich mit »Hier liegt Bitterkeit begraben« dem Phänomen der Ressentiments und den Möglichkeiten ihrer Überwindung auf individueller und gesellschaftlicher Ebene zu. Dabei geht sie wichtige Figuren der Philosophie und Psychologie ab und nähert sich dem Phänomen der Verbitterung zunächst auf sehr konkreter und -wenn wir es so nennen wollen- individualtherapeutischer Weise. Wie schwer es ist, Bitterkeit loszulassen, schildert sie mit Max Scheler, Montaigne, Nietzsche, Winnicott, Rilke, Adorno, Horkheimer, Deleuze und Anderen, sie untersucht ihre Theorien und Haltungen, befragt sie zu ihrem Beitrag zur Überwindung und Heilung von Ressentiments. Je weiter der Text voranschreitet, desto mehr nähert er sich dem Überindividuellen. Mit der emanzipativ-zugewandten gemeindetherapeutischen Haltung und Arbeitsweise Frantz Fanons, der in Algerien so wichtige interkulturelle, postkoloniale und machtperspektiven integrierende therapeutsche Konzepte entwickelte, zeigt Fleury wie es gehen kann.
Fast nebenbei führt die Lektüre von Fleury zu einer inspirierenden Auseinandersetzung mit sich selbst und motiviert ihrer Fassung von Universalismus als offene humanistische Haltung zu folgen. Für Fleury entgeht Universalismus Vereinfachungen und negiert keinesfalls Ungleichheiten, Diskriminierungen und Machtunterschiede.

»Hier liegt Bitterkeit begraben« braucht Anstrengung, schlägt eine Brücke für Menschen mit weniger Vorwissen und lohnt sich viel mehr, als vermeintlich einfacher geschriebene Sachbücher. Ich empfehle Zeit und Mühe in diese Lektüre zu stecken, um danach die lebensbejahenden Früchte zu ernten.

Bewertung vom 15.08.2023
Augustblau
Levy, Deborah

Augustblau


ausgezeichnet

Deborah Levy ist eine der Autorinnen in aller Munde, die ich ohne schlechtes Gefühl an mir vorbei ziehen ließ. Ich vernahm die Begeisterung von mir geschätzter Leserinnen. Aber ach, es gibt so vieles, dachte ich mir, doch da fand sich nun doch ein Weg in meinen Briefkasten.
Das Blau in der Gestaltung des Covers ist Aki-typisch atmosphärisch, aufwendig und ausgesucht. Die Künstlerin Shirana Shahbazi ist spannend. Schon ansprechend, »August Blau«, im Sommer, aber der Inhalt? Zumal ein aktuelles Werk?

Es brauchte nur ein bis zwei Seiten, und alle Skepsis verflog. Wow Deborah Levy, was für ein Gefühl diese Autorin hat für Szenerie und Figuren, wie interessant, intensiv, genau und dabei leicht, wie nebenbei komponiert ist dieser Text, dabei sitzt jede Beobachtung, jedes Wort. Es stören noch nicht einmal die Beschreibungen der Pandemie, die beiläufig eingestreut werden ohne eine Hauptrolle zu spielen, die ich in anderen Romanen bisher oft als gewollt und nicht ganz gelungen empfand.

»Ich berührte das Klavier, und es berührte mich. Ich empfand es wie den Körper meiner Mutter. Wir würden niemals wieder getrennt sein.« | 104

Die Hauptfigur Elsa, nein Ann, oder noch ganz anders, ein Wunderkind der klassischen Musik, löst sich von der Trauer Rachmaninoffs. Sie war unfähig, das ausverkaufte Konzert in Wien zuende zu spielen und bleibt verstört zurück. In Athen findet und verliert sie ihre Doppelgängerin. Sie stiehlt ihren Trilby, die Pferde bekommt sie nicht. Innere Dialoge und flüchtige Begegnungen spiegeln sie in London, in Paris und in Sardinien. In Liebe und Beziehungen ist sie scheu, nüchtern beobachtend. Sich fallen lassen und sich zeigen ist ihre Sache nicht, auch nicht die Freiheit, dabei dreht sich alles um die verlorene Mutter und alles ist da.

Es ist gar nicht die Geschichte, die mich hier begeistert, es ist die Art des Erzählens, der Sound, die lässige Intensität, der Hauch von Abgrund, die Prise Naivität, die Tiefe, die Ahnung der Innenwelt der Nebenfiguren, die ganz andere Geschichten erzählen würden, die Entwicklung der Figur, die nicht erklärt und auch nicht gezeigt wird, sie entpuppt sich.

Bewertung vom 15.08.2023
Gespräch über die Trauer
Martynova, Olga

Gespräch über die Trauer


sehr gut

»Abwesenheit der Gegenwart. Gleichzeitiger Lauf der Vergangenheit und der Zukunft. Dazwischen ein Vakuumkorridor. Eine temporale Anomalie einer Grenzverfahrung.« |7

Die Bachmannpreisgewinnerin von 2012 nimmt es auf mit der Abwesenheit der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Luftleer und erfüllend zeichnet sie die Trauer um Ihren Geliebten Oleg Jurjew. Sie nähert sich über die Literatur einem Thema, das viel sagen möchte und meist laut zu schweigen vermag. Dabei ist schon viel gesprochen, geschrieben und geredet worden über jenen Teil des Lebens, der in unser aller Verstummen enden wird. Wie es ist, zurück zu bleiben, zu trauern, weiterzuleben mit der Trauer und gar nicht das Ziel zu haben, sie wieder loszulassen, darum handelt »Gespräch über die Trauer«.

Wenn Martynova von Gespräch schreibt, meint sie einen inneren Monolog, einen nicht verhallenden Dialog mit ihrem verstorbenen Liebsten und den intertextuellen Gedankenaustausch mit Texten über Trauer, die meist selbst schon verstorbene Autor:innen verfassten. Martynova geht ihrem Trauertext nach, sie mischt dabei eigene Tagebucheinträge, essayistische Gedanken mit jenen von relevanten Anderen. Dabei streift sie Fragen der Identität einer russischen Intellektuellen im Exil in Zeiten des Krieges mit der Ukraine, die den Rückzug und die Wahlverwandtschaft zu ihrem Oleg und den anderen Verstorbenen ihrer Profession intensiviert.

Die Eindringlichkeit des Essays ist von wechselhafter Qualität. Er spiegelt die changierende Intensität des aus der Welt gefallen Seins stimmig, doch fällt der Text selbst in alle Richtungen. Mehr Halt oder weniger Text und Themen, dafür prägnantere Passagen hätten mir noch besser gefallen, aber das bräuchte eine andere Verfassung von Autorin und Text.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 15.08.2023
Zweistromland
zu, Beliban

Zweistromland


sehr gut

»Das Kurdisch ist so natürlich wie der Lauf des Tigris. Die Sprache wurde lange, Hunderte Jahre an diesem Ort gesprochen, sie verweigert den Zusammenhang mit dem Staatsgrenzen. Sie hat keine Ehrfurcht vor der Nation. Stetig fließt sie fort.« |85

Für Dilan ist es die heimliche Sprache ihrer Eltern, verschlossen in einem Sekretär, verschwiegen, schwer und stark bemüht um Vergessen. Türkisch und Deutsch sind die Sprachen ihrer Kindheit am norddeutschen Deich mit ihren Freundinnen Rike und Jelena, die nur in Grenzen die Geheimnisse und das Gewicht des Schweigens in ihrer Familie verstehen. Dilan treibt es zum alten Beruf ihres Vaters, sie wird Juristin, sie gerät an einen schweigsamen Mann, den Schweden Johan, der ihrem Weg nach İstanbul folgt. Doch als ihre Mutter stirbt und sie selbst ein Kind in sich trägt, drängt alles in ihr zum Tigris. Hochschwanger und ohne Gepäck zieht es sie nach Diyarbakır, in die heimliche Hauptstadt Kurdistans, das sie aus den türkischen Nachrichten als Hort des Terrors von Landesverrätern kennt und wo Kämpfe zwischen türkischem Militär und der kurdischen Bevölkerung an der Tagesordnung sind. Entsprechend misstrauisch wird die hochschwangere deutschtürkische Frau mit kurdischem Vornamen von allen Seiten beäugt. Doch sie findet Wege und Verbindung.

Sprachlich stockt Zweistromland und transportiert ein Schweigen, das in seiner Intensität hemmend wirkt und spiegelt damit die Entwicklung der Figur Dilan. Auch wenn ihre Reise kühn und mutig erscheint, verschwindet sie fast hinter den lauten und intensiven Kulissen von İstanbul und Diyabakır. Zweistromland ist ebenso verschlossen wie einladend, sich mit kurdischer Geschichte und Gegenwart in dem Vielvölkerstaat Turkei zu beschäftigen.

Bewertung vom 15.08.2023
Bruder
Khalid, Zain

Bruder


sehr gut

»Bruder« ist immer an der Seite von Youssef, mal nimmt er die Gestalt eines schützenden Hundes an, dann ist er eine mehrköpfige Schlange und oft tritt er zurück hinter den Brüdern, die sich in ihrer Unterschiedlichkeit fest und innig verbunden sind.
Yousefs Ziehvater, der Imam Salim, ist streng und distanziert, voller Geheimnisse und hat nicht nur sein Begehren für Männer mit ihm gemeinsam. Die Eltern seines Bruders Dayo sind aus Nigeria, die Eltern von Iseul aus Korea, mehr wissen sie nicht, Youssef weiß nicht einmal das. Er beobachtet Salim und findet verstörende Hinweise, die sich nur langsam zusammensetzen.

Die Herkunft als Drehbuchautor ist diesem kraftvollen Debüt des New Yorker Autoren Khalid anzumerken. Szenisch und bildgewaltig ist der Sound von »Bruder«, der nicht nur nationale und sprachliche Grenzen sprengt. »Bruder« spielt im reichen Milleu von Staten Island, in Manhattan, in Syrien und in Saudi Arabien. Die Szenerie entblättert sich in Moscheen, in großen Häusern mit geheimen Zimmern, in Universitäten, in Wirtschaftsunternehmen, in Koranschulen und in neuen Palästen. Khalid öffnet eine Welt, die einen Weiß-amerikanischen Blick zurück stößt, die mit Klischees von Fundamentalismus, Kapitalismus und Macht spielt, sich manchmal darin und in Verschwörungstheorien verfängt, ohne den Moment zu verpassen, sich rechtzeitig wieder zu lösen. Denn Plot und Auflösung in diesem krimihaft-dystopischen Roman sind alles andere als simpel und erwartbar.

Neugierig? Dann warte nicht. »Bruder« schreit danach verfilmt zu werden und Khalid wird spätestens dann Fundamentalist:innen nicht gefallen, wobei seine Kritik am westlichen Kapitalismus und Rassismus nicht minder scharf formuliert ist.

Bewertung vom 15.08.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

»...Meinen Blog, mit 4000 darin gespeicherten Texten...Meinen Reisepass, auf dem Weg nach Kreta...Die Cats-2000-Sonnenbrille von Ray-Ban, fünf Mal...Den Inhalt meines Computers, kurz nach der Trennung von meinem Mann... Ein Baby... « |25f

Vergessen, verloren, gelebt hat die namenlose Ich-Erzählerin, die mitten in einer erneuten Veränderung steckt, dabei hasst sie Veränderungen doch. Ihre Kinder ziehen aus, die Wohnung kann sie sich damit nicht mehr leisten. Sie muss sich verkleinern und wohin überhaupt?

Wer nun eine Empty Nest-Geschichte erwartet oder einen sozialen Abstieg in die Altersarmut, eine Alleinerziehendengeschichte oder ein Buch über das Alleinsein, ihr bekommt das alles. Und ihr bekommt eine Figur, die quer lebt zu Klischees, die ihr Leben auf sich zukommen lässt, die Widersprüche stehen lassen kann, sich auseinandersetzt, ihren Wahrnehmungen und Erinnerungen nicht immer traut, sich widersetzt und schließlich das Schöne in den Veränderungen findet.

»Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe« ist ein warmherziges Buch über das unperfekte Leben. Ihre ehemaligen Liebesbeziehungen, naja, ihre Rolle in ihrer Familie, naja, ihr Einkommen, naja und viele Freundschaften sind warm und groß, ebenso wie ihre Liebe für ihre Kinder, was nicht heißt, dass sie sie nicht ziehen lassen kann. Denn es fällt ihr erstaunlich leicht, das Aussortieren, die freie Zeit, die sie Solitude nennt und vergeblich nach einem positiven Wort in deutsch für den Genuss des Alleinseins sucht. Ihr Hund, ihr neues Zuhause, ein Zimmer für sich allein und die Welt draußen, sie ist auch schön, wenn sie Lust darauf hat.

Es ist erstaunlich, wie wenig wir von solchen Figuren lesen, Frauen mittleren Alters im Mittelpunkt einer Geschichte, nicht perfekt, nicht tragisch, dabei klug und lustig und es ist bemerkenswert, wieviel Kritik diese Figur einstecken muss. Ich schätze »Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe« schon deshalb und mir fallen Einige ein, denen ich diese Unterhaltung mit Tiefgang gern in die Hand drücken würde.

Bewertung vom 20.07.2023
Schneeflocken wie Feuer
Conrad, Elfi

Schneeflocken wie Feuer


sehr gut

Wie betrachtet eine heute 80jährige ihre Erinnerungen eines Mädchens? Wie sieht sie auf die 17jährige, die sie einmal war? Eine 17jährige, die in den 1960er Jahren im westdeutschen Harz aufwuchs, in der tiefsten Provinz. Mit einer schwer gezeichneten Mutter, die aus Schlesien geflüchtet war, der aus ihrer hoffnungsvollen Jugend in der Hitlerzeit nur noch das Hinterhaus, die chronischen Schmerzen und die Verbitterung blieb. Mit einem sich entziehenden Vater, der schrie, Gewalt ausübte und Freundinnen hatte. Mit einer kleinen Schwester, für die sie zuständig war. Mit französischen Filmen voller Sexappeal, verinnerlichten Bildern einer kockettierenden Brigitte Bardot, mit Twist, Rock and Roll, Musik, mit einem sexuellen Erwachen. Mit abwertenden Lehrern, mit faden gleichaltrigen Jungs und dem 15 Jahre älteren Musiklehrer, der eine intime Beziehung mit ihr aufnahm. Oder verführte sie ihn?

»Schneeflocken im Feuer« springt in den Zeitebenen zwischen der heutigen Dora, die auf ein Klassentreffen in den Harz fährt und ihren Erinnerungen an ihr früheres Ich. Flüssig las sich die an Ernaux erinnernde Archäologie des Selbsts, in der sich auf Distanz der 17jährigen angenähert wird. Die junge Dora posiert wie Brigitte Bardot, fühlt sich von Lehrern gekränkt, von den Eltern nicht gesehen, da entdeckt sie ihre Macht und Stärke durch männliches Begehren hindurch.
Doch der ambivalent schonungslos nüchterne Blick auf sich selbst, der mich am Anfang begeisterte, löst sich auf. Die 80jährige erzählt die Geschichte der jungen Dora zwar weiter, diese spitzt sich auch zu, doch ist sie zunehmend mit sich selbst und ihrem eigenen reaktiven Begehren auf einen ehemaligen Mitschüler beschäftigt. Eine Bewertung, ob es sich mit dem Musiklehrer um eine Missbrauchsgeschichte handelt, bei wem Macht und Verantwortung zu sehen sind, der Mutter, des Vaters und der sich durch den gesamten Text ziehenden Fixierung auf das männliche Begehren müssen wir Lesende selbst vornehmen.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 20.07.2023
Albanische Schwestern
Arapi, Lindita

Albanische Schwestern


sehr gut

»"Wie läuft's da drüben, in der großen Welt?" "Ich sehe sie vom Fenster aus", antwortete Alba mit einem bitteren Lächeln, doch ihre Schwester schien nicht verstanden zu haben, was sie meinte.« | 58

Alba und Pranvera könnten unterschiedlicher nicht sein. Alba ging in die große Welt, von Albanien nach Österreich. Sie heiratete, doch blieb Alba innerlich hängen in ihrer Vergangenheit, in begrenzenden Rollenbildern, stummen inneren Widerständen und Ängsten. Ihre Schwester Pranvera ist in Albanien geblieben, hat Kinder bekommen und Karriere gemacht. Sie hat sich arrangiert und beschwert sich nicht. Dabei war Pranvera einst die bewunderte, laute und schöne große Schwester, die sich dem Patriarchat nicht zu fügen schien. Bis etwas passierte, das Alba nachhaltiger zu prägen schien, als die pragmatische Pranvera.

Doch der Titel täuscht. »Albanische Schwestern« dreht sich nur am Rande um die Beziehung ungleicher Schwestern. Vielmehr handelt es sich um einen klassisch erzählten weiblichen Entwicklungsroman, in dem sich Alba lange um sich selbst dreht und dabei den Kontakt zur Außenwelt verliert. Nach und nach zieht Alba die Lesenden in ihre Erinnerungen an das ebenso von der Außenwelt isoluerte Albanien ihrer Kindheit und Jugend und vermischt diese mit aktuellen Szenen in Wien. Die Rolle der gut integrierten Migrantin und der bescheidenen Ehefrau funktionieren nicht und sie wird neue Wege finden.

Die Sprache transportiert die Beklemmung und Entfremdung der Figur Alba. Den anderen Figuren hätte mehr Komplexität und Innenschau gut gestanden. Pranvera bleibt eine Fläche für das albanische Patriarchat und die Widersprüche albanischer Frauen, ebenso wie die unsolidarische Mutter. Auch der Vater bleibt schemenhaft, wie ihr hölzerner österreichischer Ehemann, der Nähe eben so wenig kann wie Alba.

»Albanische Schwestern« bot spannende Einblick in die albanische Gesellschaft der Vergangenheit, die einen recht abgeschotteten Weg genommen hatte und in die Gegenwart, in der Migration das Land verwaist. Jetzt muss ich unbedingt Frei von Lea Ypi lesen, das wollte ich schon längst tun.

Bewertung vom 20.07.2023
Meine Mama weiß, was in den Städten vor sich geht
Petrovic, Radmila

Meine Mama weiß, was in den Städten vor sich geht


ausgezeichnet

Die Gedichte von Radmila Petrović sind direkt, laut, fast plauderhaft mit einer im Hintergrund bleibenden Verletzlichkeit und Schmerzen, die sich in Spannung und Wucht übertragen.

1996 ist diese energiegeladene Dichterin geboren, in Užice, Südserbien unweit der Grenze nach Bosnien. 1996, ein Jahr nach Dayton, zwei Jahre vor dem Kosovokrieg und drei vor der Natobombardierung.
Durch Petrovićs Gedichte fahren Traktoren, es duften Wassermelonen, Äpfel werden in der Luft geschossen, Tanten tratschen, Nachbarn kriegen alles mit. Großmütter und Großväter schauen auf ein widerspenstiges Mädchen, das leider kein Junge ist, das keine Kleider mag, aber Messer, das alle Erwartungen mit lebhafter Leidenschaft bricht. Das Patriarchat, die Engstirnigkeit und die Nach|Kriegszeiten scheinen durch die Gedichte bis in das städtische Leben Belgrads hinein, ebenso wie das Rütteln der Erzählstimme an Gendernormen, an der Normalisierung von Gewalt und der Vorgabe, wer wen wie lieben soll und welche Liebe ein teuflicher Import aus dem Westen ist. In ihrer Symbolik und Direktheit ist keine weitere Rahmung nötig, denn Petrović lässt Traditionen stolpern, erzeugt mit forschem Humor Dissonanz, die mit verzögerter Wucht nachhallt.

Ich hörte von grandiosen Auftritten dieser charismatisch-wirbelnden Frau, in Serbien, anderen ExYu-Ländern und in Österreich. Auch in Deutschland hat Petrović Potenzial, ihre Energie transportiert sich, ohne die Sprache kennen zu müssen, also schaut euch diese zart aussehende, mit tief-kräftiger Stimme dichtende Künstlerin an. Ich werde es tun.

Offensichtlich ist diese Veröffentlichung besonders wertvoll für Mišmašmenschen wie mich, eine, der die serbische Sprache nahe am Herzen ist und verschüttet zugleich. Beides nebeneinander lesen zu können, serbisch und deutsch, war ein Geschenk. Es würde mich brennend interessieren, wie sich die Gedichte lesen von Menschen ohne diesen Hintergrund, denn ich versuchte erfolglos zu ergründen, wie sich die Übersetzung für sich stehend liest. Doch dann las ich die begeisterte Rezension von Nadine Lange im Tagesspiegel und erlebte es.

Bewertung vom 20.07.2023
All right. Good night.
Haug, Helgard

All right. Good night.


ausgezeichnet

»Du bist hier, vielleicht aber schon fort. Du bist fort, vielleicht aber noch hier.« |111

Verschwinden ist der Topos dieses stark verschränkten und szenisch überzeugenden Prosa-Debüts der in der Theaterwelt bekannten Autorin, Regisseurin und Mitbegründerin von Rimini Protokoll.
In einem Zwischenraum berichtet eine Tochter in kurzen kreisenden Sätzen vom Verschwinden ihres Vaters in die Demenz und verkoppelt es mit einem anderen unabschließbaren Verlust. Im gleichen Jahr, in dem der Vater sein Wesen zu verlieren beginnt, verschwindet ein Flugzeug samt 239 Personen auf dem Weg von Kuala Lumpur nach Peking vom Radar. Wie verschluckt verlässt im Jahr 2014 die MH370 diese Welt. Die letzte gewisse Spur der Funkspruch "𝐴𝑙𝑙 𝑟𝑖𝑔ℎ𝑡. 𝐺𝑜𝑜𝑑 𝑛𝑖𝑔ℎ𝑡" vom Piloten, alles andere ist reine Spekulation, oder müssen die Informationen nur zusammengefügt werden? Die Tochter beginnt zu recherchieren, sammelt die fragmentierten Informationen über das Verschwinden der MH370, lernt über das Meer, die Luftfahrt und landet immer wieder bei den Geschichten und den Reaktionen der Angehörigen, ihrer Trauer, die im Ungewissen bleibt, die sich verabschiedet, aber zu keinem Abschluss finden kann. Die Spuren des Vaters fragmentieren ebenso, vier Postkarten zum Geburtstag mit exakt dem gleiche Text, zerfallende Erinnerung, zerfallende Sprache, intensive Nähe, unüberbrückbare Distanz und eine sich über Jahre erstreckende Verabschiedung, die zu keinem Abschluss finden kann, es ist ein Ambiguous Loss.

»All Right, Good Night« ist von der Sorte Text, die Fragen stellt, die Dimensionen zusammenbringt, die auf dem ersten Blick nichts miteinander zu tun haben und damit den Blick auf die Welt weitet. Eindringlich und zurückhaltend führt der Roman zu Fragen des Verschwindens, der Zwischenräume von Loslassen und Festhalten und ohne sie direkt zu erwähnen, zu allgemeinen Fragen der menschlichen Existenz. »All Right, Good Night« ist ein kluges Buch, dem die Nähe zum Theater anzumerken ist, ohne den Eindruck zu erwecken, es fehle dem Text in Schriftform eine weitere Dimension. Die Inszenierung entsteht im Kopf.
Große Empfehlung.