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amara5

Bewertungen

Insgesamt 130 Bewertungen
Bewertung vom 05.05.2022
Automaton
Glanz, Berit

Automaton


sehr gut

Fenster zum Leben
Nach ihrem Erfolgsdebüt „Pixeltänzer“ leuchtet die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Berit Glanz nun auch in ihrem neuen unterhaltsamen Roman „Automaton“ faszinierend die nahtlosen Verbindungen zwischen der analogen und der digitalen Welt aus – und betrachtet feinfühlig die Menschen, ihre Leben und Probleme darin. Dabei lässt sich Glanz konzentriert Zeit beim Erzählen und dem subtilen Aufbauen zweier Erzählstränge aus zwei Frauenleben auf zwei unterschiedlichen Kontinenten, die sich dank der digitalen Vernetzung langsam und hoffnungsvoll verbinden.

Protagonistin Tiff (schöne Anspielung auf das gleichnamige Bildformat) ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes und leidet an starken Angststörungen, die sie an ihre Wohnung fesseln – sie ist Content-Managerin und Clickworkerin, hat für eine große Social Media Firma moderiert und anstößigen Inhalt sowie gewaltvolle Bilder gefiltert, bis sie diese nicht mehr losgelassen haben und sich in ihrem Kopf eingebrannt haben. Gefangen in Armut und prekären Arbeitsverhältnissen arbeitet sie von zuhause aus als Automaton: Über Foren zieht sie sich monotone Jobs, sogenannte Autobs, ans Land, in denen sie Inhalte wie Bilder, Texte oder Videos ansehen und verschlagworten muss. Eine Arbeit, die laut ExtraEye angeblich von KI durchgeführt wird, doch leisten sie in Wahrheit schlecht bezahlte, menschliche Clickworker. Auch hier besteht die Gefahr, dass sie hilflos verstörenden Content ansehen muss, doch die meisten Aufträge erweisen sich zwar als stupide und repetitiv, aber harmlos. In einem Auftrag der Firma ExtraEye überwacht sie Überwachungskamera-Aufzeichnungen einer amerikanischen Lagerhalle – auf mehreren Aufnahmen ist ein bärtiger, obdachloser Mann zu sehen, der seinem Hund liebevoll etwas vorliest und vor den Toren übernachtet. Dann verschwindet der Mann, doch der Hund bleibt verstört und verängstigt zurück, bis auch er nicht mehr zu sehen ist.

Tiff entscheidet diesmal, nicht hilflos zuzusehen, wie die Menschen in den Videos aus ihrem Leben verschwinden und sie nicht weiß, wie ihre Geschichte endet – anders als eine KI hat sie menschliche Emotionen. Entgegen ihrer Existenz- und anderen Ängsten stellt sie sich ihrer Hilflosigkeit und erhält solidarische, digitale Hilfe ihrer Chat-Freunde aus den Automaton-Foren. Gemeinsam gehen sie virtuell auf Spurensuche nach Mr. Beard und seinem Hund – sie wird sie an die amerikanische Westküste zu Stella führen, die den zweiten Erählstrang des Romans ausmacht: Sie arbeitet auch in prekären Arbeitssituationen, aber in der analogen Welt auf einem Marihuana-Feld in Kalifornien und hilft nebenbei in der Suppenküche aus. Auch sie hat mit Traumata aus der Vergangenheit, Einsamkeit und Enttäuschung zu kämpfen, doch der Fall von Tiff aus Deutschland wird auch ihr neue Hoffnung schenken.

Mit einer subtilen Spannung, einem ruhig-eindringlichen Schreibstil, der sich mit mehreren Chatprotokollen mischt, und einer klaren Sprache zeigt Berit Glanz deutlich und empathisch auf, wie sich prekäre Arbeitssituationen in der analogen und digitalen Welt ähneln und unterscheiden. Die Kapitelüberschriften in Tiffs Welt gleichen einer lateinischen Nomenklatur der Tier- und Pflanzenwelt und haben eine puzzleartige Bedeutung in den jeweiligen Kapiteln, bis am Ende der schöne covergebende Hauhechel-Bläuling das Ende berührend abrundet. Die Überschriften in Stellas Leben spielen mit dem Gegensatz der physischen Arbeit in der Natur, größtenteils mit Holz in der Anspielung auf die aussterbende Holzfällerarbeit des Großvaters.

Tiffs Ängste, aber auch ihr Fenster zum Hof (Hitchcock lässt grüßen), ihr Blick durch das Browserfenster hindurch ins analoge Leben eröffnet ihr selbst Heilungs- und Handlungsmöglichkeiten im eigenen Leben. Glanz spielt in ihrem klug arrangierten und vielschichtigen Roman gekonnt mit den neuen Möglichkeiten im digitalen Raum und entwickelt eine zutiefst menschliche Geschichte über Zusammenhalt, Hoffnung und Solidarität in einer W

Bewertung vom 04.05.2022
Der letzte Schrei
Sagiv, Yonatan

Der letzte Schrei


sehr gut

Schrille Sternchen
Der urkomische, bunte und schräg-provokante Debütroman des israelischen Schriftstellers und Wissenschaftlers von hebräischer Literatur Yonatan Sagiv sprengt alle Kategorien, Gender und Genres – in „Der letzte Schrei“ ermittelt der/die neuerkorene Privatdetektiv*in Oded 'Wühlmäuschen' Chefer in der schrillen High Society von Tel Aviv, wenn er/sie sich nicht gerade in vielfältigen, sexuellen Abenteuern verliert. Ein aufstrebendes Teenie-Popsternchen braucht seine Überwachung und ein anderer Fall scheint damit verknüpft zu sein – die scheinbar perfekte Aufgabe für jemanden, der kurz vor dem Abstieg war und nach den Sternen greifen möchte.

Aus der humorvoll-derben Ich-Perspektive des extravaganten und impulsiven Ermittlers erfährt der Leser fabulierfreudig und detailliert viel aus der LGBTQI+-Szene, geschmückt mit szenischem Lokalkolorit aus Tel Aviv und der israelischen Pop-Kultur. Rasant, frivol und chaotisch schlittert Oded dabei in die dunklen Geheimnisse der schrillen Oberschicht und in geheimnisvolle Verbindungen, die er nicht alle für sich behalten kann. Nebenbei erfährt der Leser bildgewaltig einiges aus dem turbulenten, queeren Privatleben des außergewöhnlichen Ermittlers.

Ein moderner, frecher und sprachlich sehr experimentierfreudiger Kriminalroman mit scharfzüngigen Dialogen, der schräg und bissig-humorvoll mit facettenreichen Vorurteilen spielt und skurril-unterhaltsam die rege queere Szene Israels mit Krimi-Elementen verwebt.

Bewertung vom 22.04.2022
Die Knochenleser
Ross, Jacob

Die Knochenleser


sehr gut

Schatten der Karibik
Der britische Autor Jacob Ross entführt mit seinem atmosphärischen und mit dem Jhalak-Preis ausgezeichneten Kriminalroman „Die Knochenleser“ auf die fiktive Antillen-Insel Camaho, angelehnt an seinen eigenen karibischen Geburtsstaat Grenada. Dort gibt es neben scheinbar lässigem Karibik-Feeling viel Korruption, Polizeigewalt und vor allem gnadenlose Brutalität gegenüber Frauen.

Der junge Michael 'Digger' Digson liest zwar viel und ist klug, doch ein Studium liegt aus Geldmangel noch in weiter Ferne – er schlägt sich mehr schlecht denn recht durchs Leben und ist vom mysteriösen Verschwinden seiner Mutter traumatisiert. Seit einer Demonstration gegen Frauengewalt ist sie spurlos verschwunden und Digger vermutet, dass sie gewaltvoll ermordet wurde. Sein Vater ist ein Polizeikommissar mit dunklen Schatten, die Mutter war das Kindermädchen. Als Digger einen Mord an einen jungen Teenager beobachtet, wird er vor Ort mit dubios-renitenten Methoden von Detective Superintendent Chilman für eine Spezialgruppe rekrutiert: Junge Menschen werden schnell ausgebildet und als Detective auf effektive Verbrechersuche mit etwas anderen Methoden geschickt. Unterstützt wird Digger von der charismatisch-scharfsinnigen Miss Stanislaus und zusammen geraten sie in vielfältige Kriminalfälle im lakonisch-direkten Noir-Stil. Seine Position ermöglicht Digger nun auch, in Archiven weiter über seine verschwundene Mutter zu forschen – und auch DS Chilman hat seine eigenen Ambitionen und finsteren Cold Cases aus der Vergangenheit.

Ironisch, roh und mit viel umgangssprachlichen Slang entwickelt dieser außergewöhnliche und spannende Kriminalfall seinen ganz eigenen filmreifen Sog, in dem eigenwillig-originelle Figuren sich samt ihrer gut beschriebenen Schrullen und Vergangenheiten kraftvoll weiterentwickeln, auf ihre ganz eigene skurril-zynische Art ermitteln und hartnäckig für Gerechtigkeit einstehen. Auch die Beziehung untereinander ist szenisch dicht und mit viel schwarzem Humor herausgearbeitet, ohne je albern zu werden. Im Gegenteil: Jacob Ross erschafft eine düster-nachdenkliche Atmosphäre mit viel Gesellschaftskritik und weisen Anspielungen auf sein Heimatland. Dabei wechseln bildhafte lokale Beschreibungen der bunten Szenerie mit der vielen drastischen Gewalt und Korruption, das Camaho erfährt – und Digger blickt dabei tief in diese intensiven, dunklen Abgründe aller Art.

Ein gelungener, unkonventioneller und klug durchdachter Plot mit Tiefgründigkeit und mit Digger als faszinierend authentisch-ehrlichem Ich-Erzähler auf seinem Weg aus der Arbeitslosigkeit und Trauma zum hartgesottenen Detective mit besonderen Fähigkeiten. Fein, dass Fortsetzungen geplant sind!

Bewertung vom 20.04.2022
Die Molche
Widmann, Volker

Die Molche


gut

Gesetze der Kinderwelt
In seinem Debüt „Die Molche“ taucht Volker Widmann szenisch tief ein in das betrübte Nachkriegsdeutschland und zeichnet mit einer düster-dichten Atmosphäre eine schmerzvolle Lebensepisode des 11-jährigen Max nach.

Dieser ist zusammen mit seiner Familie ein Zugezogener in einem kleinen bayerischen Dorf und findet nur schwer Anschluss – sein Vater ist unter der Woche berufsbedingt abwesend, in sich gekehrt und auch gewalttätig. Auf langen Streifzügen durch die Natur und Wälder beobachtet Max sehr detailliert und poetisch die Schönheiten der Tier- und Umwelt und sucht Trost vor einer unliebsamen Erwachsenenwelt voller Verschwiegenheit, Kriegstraumata und Gewalt. Doch die seelischen Verletzungen wurden auch auf die Kinder weitergegeben und so tyrannisiert der extrem gewalttätige Tschernik zusammen mit seiner Bande die Heranwachsenden im Dorf – und tötet bei einem Überfall Max' verträumten und herzkranken Bruder mit Steinschlägen. Auch hier verschließen die Erwachsenen die Augen und sehen den Vorfall als Unglücksfall eines kranken Jungen, während Max als Beobachter des Geschehens geplagt von Schuldgefühlen und Schmerz tief leidet.

In dem heißen Sommer entdeckt er zudem seine eigene Sexualität und sammelt neben seinen geliebten Molchen auch erste prägende Erfahrungen bei den Mädchen. Mit den ersten Fernsehgeräten, geheimen Spielen und Verstecken wie das verlassene Bahnwärterhäuschen oder ein Schuppen, der als Varieté-Bühne dient, erschaffen sich die Kinder, die viel zu schnell erwachsen werden müssen, ihre eigenen geheimen Gesetze zu mehr Freiheit sowie Aufbegehren und als Max erste richtige Freunde findet, schmieden sie gemeinsam einen Racheplan an Tschernik und seinem Gefolge.

Mit vielen präzisen Beobachtungen und Schilderungen der Nachkriegszeit wie der schweren häuslichen Arbeit, der Gewalt von Kriegsversehrten und in der Schule belegt Volker Widmann sein Debüt mit einer dichten und bedrückenden Atmosphäre aus der Perspektive von Kinderaugen, die durch zahlreiche längere Passagen von poetischen Naturbeobachtungen bereichert, aber auch in der Dramaturgie unterbrochen wird. Die Flucht der Kinder in ihre eigene Welt ist stellenweise packend und doch manchmal nicht authentisch für einen 11-jährigen Jungen, was seine poetisch-melancholische Sichtweise und sexuellen Handlungen betrifft. Auch wirken manche Dialoge etwas hölzern und sperrig.

Und trotzdem ist es eine kraftvolle und faszinierende Coming-of-Age-Geschichte, die den Leser auf eine Zeitreise in die 1950er-Jahre entführt und mit den subtil-feinen und fantasiereichen Entdeckungen der Kinder auf ihren Streifzügen in ruhig erzählten Tönen fesselt. Auch die schwerwiegende Enge und emotionale Vernachlässigung der Kinder in dieser Nachkriegszeit ist berührend zu spüren und das Finale spannend konstruiert. Eine ausgewogenere Gewichtung der ansonsten sehr schönen lyrischen Einschüben, die den Lesefluss weniger bremst und dafür noch feinfühliger in eine Kinderseele blickt, wäre von Vorteil gewesen.

Bewertung vom 13.04.2022
Auf der Zunge
Clement, Jennifer

Auf der Zunge


sehr gut

Wald aus Feuertreppen
Die amerikanische Schriftstellerin Jennifer Clement entführt in ihrem neuen rund 150 Seiten kurzen Werk „Auf der Zunge“ surreal und lyrisch auf einen Spaziergang durch Manhattan, East Village, und in die träumerische Gedankenwelt einer Frau.

Nur als die Frau bezeichnet, verlässt diese ihre Wohnung und begibt sich auf einen mystischen Streifzug durch Alphabet City – die Liebe der Bibliothekarin zu ihrem Anwalt-Mann ist verblasst, sie fühlt sich teils schuldig und sinniert gedanklich über ihre geheimen Träume und Sehnsüchte. Bei ihrem verzweigten Gang in Bars, aber auch auf den Straßen, die in diesem Stadtteil charakteristisch durch viele Feuertreppen geprägt sind, begegnet sie Männern, die sie kurz und auf fantastische Weise in andere Welten versetzen. Kapitelweise als der Arzt, Polizist, Soldat oder Dichter betitelt, sind die mystischen Begegnungen teils poetisch-verwirrend, philosophisch und auch von den assoziativen Gedanken der Männer geprägt, die sich fiebertraumhaft in die der Frau verweben. Daneben fließen auch kleinere Sequenzen über die jüdische Herkunft und lang vergangene Feuerunglücke der Stadt mitein, aber auch sehr eindringlich die Liebe der Bibliothekarin zu Büchern.

„Während sie durch die Regalreihen marschiert, denkt die Frau an Leuchtkraft. Alle Bücher, die sie je gelesen hat, bewegen sich in ihr und bilden Äste in ihren Adern, die ebenfalls Äste sind. Die Bücher beleuchten sie von innen.“ S. 125

Zum Ende des lyrisch-dichterischen, melodischen und faszinierenden Werks verdichten sich die traumgleichen Begegnungen und erscheinen noch unwirklicher – da tauchen ein Astronaut, Räuber und ein Löwenbändiger auf, vermischen sich mit Vergangenem , den Fantasien und Lebensmut der Frau und den repetitiven hohen Feuertreppen, bis die Frau wieder ihre Wohnung erreicht und sich einen Tee zubereitet.

Jennifer Clement, die mit dem bewegenden und bereits verfilmten Roman „Gun Love“ erfolgreich war, hat hier ein außergewöhnliches und sehr sinnliches Werk geschaffen, das sich keinem Genre zuordnen lässt und ein etwas kreatives Einlassen auf die Zeilen seitens des Lesers erfordert. Dann regt es schriftstellerisch versiert zum eigenen fantasiereichen Reflektieren über geheime Träume, Wünsche und Leidenschaften an.

Bewertung vom 07.04.2022
Die Wächterinnen von New York
Jemisin, N. K.

Die Wächterinnen von New York


sehr gut

Die Stadt im Menschen
Die erfolgreiche amerikanische Fantasy-Autorin N.K. Jemisin lässt in ihrem opulenten und spannenden Trilogie-Auftakt die Metropole New York anhand von sechs Superhelden menschlich und organisch werden. In „Die Wächterinnen von New York“ ist die Stadt gerade noch bei der Geburt, als die bösartige Frau in Weiß mit riesigen Tentakeln und sonstigen aggressiven Manövern versucht, alles zu untergraben und zu zerstören. In Gestalt von sehr unterschiedlichen, szenisch-dicht gezeichneten Avataren, die jeweils ihren Bezirk wie Queens, Staten Island, Manhattan, Bronx oder Brooklyn personifizieren und schützen, kommt tatkräftige Hilfe mit vielfältigen Superkräften und Subkulturen.

Jemisin zeichnet dabei die Charaktere sehr lebendig, queer und politisch engagiert – jeder Avatar hat seine eigene Redensart sowie Lebensweise und verkörpert nicht nur mit Leib und Seele einen Stadtteil, sondern auch gesellschaftskritische, soziologische und kulturelle Aspekte, die anfangs ausführlich vorstellt werden. Einer von ihnen ist nicht nur ein Graffiti-Held ohne festen Wohnsitz, sondern auch oberster Beschützer des gesamten New York. Unterstützung und Ratschläge im Kampf gegen die Bedrohung erhalten sie von São Paulo, London und Hongkong in Person – bereits geborene Metropolen.

Gemeinsam treten sie actionreich und filmreif, aber auch in vielen Dialogen hinterfragend in den Kampf, aus dem sie alle verändernd hervortreten und durch ihre individuellen Eigenarten erschafft Jemisin nebenbei noch eine vielfältige und tiefsinnige Hommage an New York und seine Stadtteile. Gekonnt verstrickt sie fantastische Elemente mit der Realität und so haben die Superhelden nicht nur bildgewaltig gegen monströse „weiße“ Tentakel, sondern auch emotional gegen Rassismus, Homophobie sowie globale Immobilienhaie, horrende Mieten und die ausufernde Gentrifizierung zu kämpfen.

Eine kluge, soghafte und politisch packende Urban-Fantasy-Geschichte, die gekonnt mit viel derb-humorvoller Umgangssprache, aber auch wissenschaftlichen Segmenten eine atmosphärische Mischung aus Apokalypse und demografischer Sozialstudie entwirft und den Spannungsbogen mit diversen Angriffen auf mehreren Ebenen rasant hält. Die vielen beschriebenen Örtlichkeiten in New York in dem über 500 Seiten starken und flüssig geschriebenen Epos erfordern entweder etwas Ortskenntnisse oder das Einlassen auf fiktionale Weise. Das fulminant-magische und emotionale Finale mit plötzlichem Ende erhöht die Spannung auf den zweiten Teil, in dem New York atmet, lebt und eine freie Seele hat.

Bewertung vom 04.04.2022
New York und der Rest der Welt
Lebowitz, Fran

New York und der Rest der Welt


sehr gut

Satirisch-pointierte Essays
Nicht erst seit der Scorsese-Netflix-Serie „Pretend it’s a City“ genießt Fran Lebowitz Kultstatus in den USA – schon seit den 1970er-Jahren nimmt die 71-jährige New Yorkerin, Kulturkritikerin und Warhol-Bekannte die Alltäglichkeiten und Absurditäten ihrer Großstadtbewohner sardonisch und scharfsinnig beobachtend aufs Korn. Jahrelang litt sie unter einer Schreibblockade, doch ihre älteren Texte aus den 1970er- bis 90er-Jahren erscheinen nun erstmals auf Deutsch. So hat der Leser nun die außergewöhnliche Möglichkeit einer kleinen facettenreiche Zeitreise, durch die sarkastische und zynische Brille von Lebowitz die Menschen und ihre Angewohnheiten in vielerlei Aspekten zu betrachten und die bissig-präzisen Ratschläge von Fran kennenzulernen.

Fran analysiert und kommentiert in ihren pointiert-intelligenten Essays alles und alle mit bitterbösem und messerscharfem Humor – nichts und niemand ist vor ihr und ihrem opulenten Wortwitz sicher. Ob Rauchen, Kinder und Haushalt, Essen, Beruf, Kunst und Kultur, Wohnungssuche, Mode, Literaturbetrieb etc. – in „New York und der Rest der Welt“ lässt sie sich mit tiefsinniger Komik nicht nur über ihre Mitmenschen und ihre Ticks, sondern auch über ihre eigenen Schrullen sehr amüsant und mit kreativ-assoziativen und schnell aufeinander folgenden Sprachgedanken aus. Dabei sind die hintersinnigen Kurzgeschichten und Betrachtungen unterschiedlich kurz und nicht jede ist in ihrer Treffsicherheit gleich stark und interessant. So manch böser Witz bleibt dem Leser auch im Halse stecken, während andere brillant zum weiteren Reflektieren über eigene Lebensmuster oder anderem gesellschaftlichen Irrsinn anregen.

Lebowitz' kluge, schonungslose und zeitlose Satire aus der Ich-Perspektive ist sehr unterhaltsam, selbstironisch und rasant – und ist am besten in kleineren Happen zu genießen, um das gesamte intellektuelle und gesellschaftskritische Hinterfragen in dieser Zeit zu erfassen. Ihre literarisch eigenwillige und angriffslustige Lebensberatung mit Blick auf das urbane Leben und der Selbstbeobachtung ist ein scharfzüngiger Ratgeber der humoristischen Art und könnte auch in Deutschland zum Kult werden.

Bewertung vom 30.03.2022
Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten
Jamalzadeh, Elyas;Hepp, Andreas

Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten


sehr gut

Geboren um zu Flüchten
Wie das Unfassbare in Worte fassen, wenn wiederkehrende Albträume und die Angst vor tiefen Gewässern immer noch präsent sind? Elyas Jamalzadeh gelingt mit seinem Freund und Co-Autor Andreas Hepp in einer frischen, modern-jugendlichen Sprache, die zwischen Tragik und Situationskomik changiert, in „Freitag ist ein guter Tag zum Flüchten“ genau das: Gemeinsam erzählen sie die schmerzhaften und unglaublichen Fluchtepisoden von Elyas so direkt, authentisch und unmittelbar-ungeschönt, dass sie spür- und erlebbar sowie durchaus unterhaltsam jedem Leser ins gemütliche Wohnzimmer transportiert werden, während Menschen auf dem Mittelmeer um ihr Überleben kämpfen. Dabei sticht vor allem die lakonische Selbstironie von Elyas hervor, mit der er die schlimmsten Situationen schwarzhumorig beschreibt und die Leser auch direkt anspricht und miteinbezieht – diesen könnte manchmal das Lachen zwar im Halse steckenbleiben, doch am Ende siegt der unbeschreibliche mutmachende Lebenswille und zielstrebige Tatendrang von Elyas.

Die Familie Jamalzadeh lernt bereits in ihrem Heimatland Afghanistan die todbringenden Schrecken des Taliban-Terrors kennen und muss in den Iran flüchten, nachdem ihr Haus in die Luft gesprengt und eine Tochter entführt wurde. Dort kommt Elyas zur Welt und muss sich als illegaler Geflüchteter ohne Papiere bereits in sehr jungen Jahren ohne Schulbildung durchs Leben kämpfen und den Unterhalt seiner Familie mit illegalen Mitteln bestreiten, nachdem seine Brüder schon geflohen sind. Doch dann gerät er in Abschiebehaft in einem Gefängnis, das der Hölle gleicht. Er kann zwar freikommen, doch gemeinsam mit seinen Eltern beschließt Elyas über die lebensgefährliche Mittelmeer-Route nach Griechenland und über Land nach Österreich zu fliehen – eine menschenverachtende Tortur voller 'Games' (Fluchtversuche über die Grenze), Rückschlägen und korrupten Schleppern nimmt seinen Lauf, bei denen Elyas nicht nur in eigener, sonder auch in Todesangst um seine gebrechlichen Eltern schwebt.

In Österreich angekommen, durchlebt die Familie ein turbulentes Auf und Ab in Flüchtlingsheimen, aber auch unglaubliche Hilfsbereitschaft in Goisern – dort wird Elyas seine große Liebe und eine Schulbildung finden. Doch das Glück währt nicht lange und Interpol steht vor der Tür, um die Familie sicherheitsbedingt wieder umzusiedeln: Der Terror verfolgt sie bis in die neue Heimat. Und Elyas erhält zudem noch die schreckliche Diagnose eines Hirntumors. Doch er lässt sich nicht unterkriegen und geht seinen Weg in die Hoffnung – Elyas wird heiraten und in Eferding eine Lehrstelle zum Friseur erhalten.

In einem kreativen und eigenwilligen Sprach-Spiel mit Reimen, Quizfragen, Gedichtszeilen, originellen Überschriften und der direkten Ansprache des Lesers ist es Andreas und Elyas gelungen, nicht nur eine individuelle und persönliche Lebens- und Fluchtgeschichte bewegend, realitätsnah und horizonterweiternd zu vermitteln, sondern ein universelles und eindringliches Narrativ über die Lebenslinien von Geflüchteten zu schreiben und was jeder Einzelne gesellschaftlich zu deren Integration leisten kann. Die Lektüre ist vom frech-facettenreichen Erzähl-Stil vorzugsweise an Jugendliche gerichtet, doch auch jeder erwachsene Leser wird nicht unberührt diese Geschichte, die auch viele Kindheits- und Jugenderinnerungen aus anderen Kulturen sehr szenisch, anekdotenhaft und dicht schildert, weglegen und weiter darüber nachdenken, wie privilegiert wir Menschen sind, die nicht geboren wurden, um zu flüchten. Eine lesenswerte und packende Romanbiografie, bei der man zwischen Lachen und Weinen stark und nachhallend mitfühlt. Und bei der ein Teil der Erlöse Geflüchteten zugute kommt!

Bewertung vom 28.03.2022
Die Diplomatin
Fricke, Lucy

Die Diplomatin


sehr gut

Politisch brisante Irrwege
Lucy Frickes neuer Roman „Die Diplomatin“ taucht im modern-rasanten Ton tief in die diplomatischen Gefilde ein und zeigt eine authentische und tiefenscharf gezeichnete Botschafterin, die ambitioniert um ihre Ideale an die Diplomatie und Freiheit kämpft – am Ende auch mit ungewöhnlichen Mitteln.

Diplomatin Friederike Andermann, genannt Fred, hat 20 Jahre lang ihre berufliche Laufbahn im Auswärtigen Amt vorangetrieben, um mit Ende Vierzig endlich eine Position als Botschafterin zu erhalten. Doch in Montevideo/Uruguay ticken die Uhren noch anders und Fred ist mehr mit Event-Management als mit relevanten Aufgaben beschäftigt. Als die Tochter einer sehr einflussreichen deutschen Verlegerin in Uruguay verschwindet, nimmt Fred das Anliegen weniger ernst und hält strikt bürokratische Abläufe ein. Ein Fehler, wie sich später herausstellt und Fred wird als Konsulin nach Istanbul versetzt, wo sie ganz andere Seiten an sich entdeckt.

Dort kommt sie bei den autoritären Strukturen und politischen Machenschaften samt bilateralen Verknüpfungen an die Grenzen ihres Glaubens und setzt sich für die Freilassung einer inhaftierten Kuratorin kurdischer Abstammung samt ihres aus Deutschland angereisten Sohnes ein. Da diplomatische Absprachen nicht gehalten werden und der offene Dialog nicht stattfinden kann, beschließt Fred, die Dinge auf anderen Wegen in die Hand zu nehmen und ein sehr spannend-unterhaltsamer Polit-Krimi nimmt seinen brisanten Lauf mit vielen Verstrickungen und Wendungen. Und auch Freds private Angelegenheiten werden feinfühlig-humorvoll angesprochen: Eine männderdominierte Berufswelt, eine fehlende Familie samt einem Mann, der alle vier Jahre in ein anderes Land folgt sowie eine komplizierte Kindheit und verkappte Gefühle.

Im typisch brillant-trockenen und treffsicheren Fricke-Ton hat die Autorin einen höchst aktuellen und politischen Roman entworfen, dem sie mit ihrer präzisen und langen Recherche in der Diplomatenszene eine detaillierte, reale und dichte Atmosphäre einhaucht. Zudem sitzen die knappen Dialoge auf den Punkt und changieren zwischen Lakonie, schwarzem Humor und sehr kluger Beobachtung der verschiedenen Ebenen in der Diplomatie. Der Roman beginnt nonchalant in Montevideo und entwickelt sich in Istanbul zu einem nervenaufreibenden, bedrohlichen und soghaften Plot, der sehr realitätsnah die gesellschaftlichen Schrecken in der Türkei und aufrüttelnd die Grenzen der Diplomatie aufzeigt. Und doch verliert die Autorin in ihren verdichteten, klaren und pointierten Sätzen dabei nie ihren Hang zur Ironie und Lebensweisheit.

Ein sehr lesenswerter, hochaktueller Roman über eine Diplomatin zwischen Ernüchterung, Hilflosigkeit und Vorwärtsgehen sowie beruflichen und privaten Problemen.

Bewertung vom 14.03.2022
Die Kinder sind Könige
Vigan, Delphine

Die Kinder sind Könige


sehr gut

Reich des Konsums
Die erfolgreiche und feinsinnige Autorin Delphine de Vigan bleibt ihren gesellschaftskritischen Themen treu und behandelt diesmal die gefährliche und übertriebene Zurschaustellung von Kindern im Internet – einziges Ziel dieser Influencer-Eltern sind Geld, Klicks und Konsum, auch wenn darunter das eigene Familienleben in Mitleidenschaft gezogen wird.

Mutter Mélanie Claux war früher fasziniert von Reality-TV-Shows und Fan von Loana, die durch diese Programme und besonders durch Loft Story berühmt wurde. Doch der eigene Erfolg in diesem Genre war Mélanie nicht vergönnt und so muss ihre eigene Tochter Kimmy herhalten, die zusammen mit ihrem Bruder mittlerweile zum Star des Instagram- und Youtube-Kanals Happy Récré mit unzähligen Werbeverträgen geworden ist. Alles was die Kinderkönige in ihrem eigentlich privaten Reich machen, wird online inszeniert, verkauft und zur Schau gestellt – eine Privatsphäre ist nicht mehr vorhanden, denn Millionen von Fans wollen mit ihrer Sucht nach Bildern bedient werden. Kimmy wird zunehmend abweisender und genervter von diesen vielen Inszenierungen – und dann wird sie bei einem Versteckspiel entführt, was zur Haupthandlung dieses brisant-spannenden Romans wird.

In abwechselnden Passagen verknüpft Vigan brillant und gekonnt protokollartig die nüchtern-akribische Ermittlungsarbeit der engagierten Kriminal-Polizistin Clara mit der psychologisch-soziologischen Innenschau in die Familie, bei der die Leere des eigenen Lebens durch die suchtartige Faszination der ständigen Online-Exposition der Kinder kompensiert wird. Wie mit einem Schlag ins Gesicht, aber ohne belehrend oder wertend zu sein, erschafft die Autorin ein gesellschaftskritisches Zeitbild unseres Konsumverhaltens und über den Umgang mit Influencer-Kinderkönigen im Netz. Sensibel, intensiv und präzise sprengt sie literarische Genres, um fast dokumentarisch-wissenschaftlich den Finger in die Wunde eines hochaktuellen Themas zu legen.

Wie wirkt sich der Drang nach dem eigenen Leben in der Virtualität samt Dopamin-Sucht mit jedem Klick und Like auf unser Leben und das unserer Kinder aus? Warum brauchen wir den Blick und Kommentar des anderen im Netz, während unser wirkliches Leben in der Langeweile versinkt? Ein direkter, kraftvoller und flüssig-tiefgründig geschriebener Roman mit scharfen Beobachtungen über die Konsequenzen und Folgen dieser zur Schau gestellten Kinder und deren gestohlenen Leben, der zum weiteren Nachdenken anregt und auch medienrechtliche Themen versiert recherchiert integriert. Außergewöhnlich auch das Ende, in dem die Autorin ins Jahr 2031 und auf die erwachsenen Kinderstars blickt und ein bewegendes Fazit zieht.