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Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 07.01.2021
Die Ameiseninsel
Kemal, Yasar

Die Ameiseninsel


sehr gut

Vom großen Unglück und vom kleinen Glück, Vertreibung und Krieg, Heimat und Freundschaft.

Yasar Kemal ist ein sozialkritischer und politischer Autor mit Anregungen zum Hinterfragen der Gegebenheiten. Wieso warum wozu weshalb?
Hintergründige Hauptthemen dieses Romans sind die Kaukasusfront des 1. Weltkriegs und der Bevölkerungsaustausch von Griechen und Türken.
Nach dem Zusammenbruch des „Kranken Mannes am Bosporus“ marschierten griechische Nationalisten in Anatolien ein, wurden jedoch zurückschlagen. Der Friedensvertrag von Lausanne von 1923 beinhaltete die Rückkehr von über einer Million Griechen und einer halben Millionen Türken. Alle in der Türkei lebenden Griechen werden nach Griechenland zwangs-umgesiedelt so wie ihr türkisches Pendant von Griechenland in die Türkei. Niemand dieser beiden Volksgruppen ging freiwillig: was sollten sie dort in der Fremde? Und was sollte sie dort erwarten? Offene Arme, freudige „Seid Willkommen“-Rufe? Oder Misstrauen und Missgunst: was wollen die hier, was sollen die hier? Die nehmen uns Land weg, die nehmen uns Arbeit weg…..ein altbekanntes Lied.

Die Protagonisten sind Musa der Nordwind, der ein Haus und eine Mühle kauft auf der Insel kauft und Vasili Atoynaranoglu. Der erste komm als Fremder, um hier ein Refugium, Frieden und eine neue Heimat zu finden, der andere stammt von hier und weigerte sich, zu gehen.
Wunderbare Naturschilderungen, poetisch, leuchtend und duftend, manchmal fast ein bisschen zu schwelgerisch. Eine flügelschlagende, wellenbrechende, blumige Poesie.

Und die Menschen: Panos Valyanos – der beste Fischer weit und breit. Hat allen das Fischen beigebracht. Ohne ihn wäre das Meer kein Meer, die Insel keine Insel, der Fisch kein Fisch. Rais Yani, der alle Steine im Meer kannte, der es anbetete und der die Sprache der Fische sprach. Yordanis Güzeloglu, der einfüßig aus dem Krieg heimkehrte, aber sein Lächeln nicht verloren hatte, der sogar über den verloreren Fuß ein Lied singen konnte. Lena Papazoglu, einstmals besungen und gerühmt: Heute eine alte gebeugte Frau. Hadschi Remzi Bey, der dem Perikles Karagüloglu die goldrandigen Teller, die Kelims und die Sessel und vor allem sein Boot abkaufen wollte. „Und wenn Du es mir nicht verkaufen willst, lasse ich Deiner Tochter Gewalt antun.“
Die menschliche Triebfeder der Habgier: auch hier wiederholt sich Geschichte der ewigen Profiteuere von Vertreibungen.

Vasili wird immer wieder heimgesucht von grauen erregenden Kriegserinnerungen: die Schlacht von Sarikamis: 10.000 erfrorene Soldaten der Allahuekber-Berge. Ein Wald der Schneemänner. Ein Bild, das sich durch die Retina des Lesers in seinem Gehirn abspeichert.

Musa jagte mit seiner Einheit Jesiden, raubte und plünderte, watete in einem Meer aus Blut. Auch hier ein Bild, das einen nicht losläßt: Abgeschnittene Brüste im Wüstensand. Jesiden waren schon damals ein Fremdkörper im „Volkskörper“. Auch hier wiederholt sich die Geschichte. Oder ist die Vertreibung und Mordung der Jesiden durch den IS schon wieder aus dem kollektiven Gedächtnis entschwunden?.
Er findet Ruhe und Heimat auf der Ameiseninsel mit Vasili, der alten Lena und Kapitän Kadri und dessen Mutter. Kadri, der mit sieben Jahren als Lehrling bei Panos, dem besten Fischer, begann.
Ein Roman mit Happy end also? Ein stilisiertes Paradies?

Der Roman ist orientalisch ausschmückend, voller wundersamer Bilder, die im Kopf bleiben. In langen Passagen und langen Weilen erfühlen wir das Glück der Natur, in Düften und Farben, lebensprall, zartblütig. Die Gegenüberstellung menschengemachter Grausamkeit und der Natur: „Die Schönheit der Welt ohne Menschen. Sollte es der Mensch sein, durch die sie hässlicher und schmutziger wird? Aber ohne die Wärme eines Menschen wird die Welt eiskalt“.

Es ist ein politisches Buch voller Schönheit und Grausamkeit und zugleich eine Hymne auf das Leben.

Bewertung vom 10.11.2020
Die Geheimnisse des Roten Meeres
Monfreid, Henry de

Die Geheimnisse des Roten Meeres


ausgezeichnet

Alles Schrifstellerleben sei Papier, heißt es.

Henry de Monfreid lockte die Liebe zur Freiheit in ein Abenteuerleben am Horn von Afrika unter Piraten, Waffenschmugglern, Perlentauchern und Sklavenhändlern. Er entführt uns in diese entfernte Weltgegend, wo Franzosen, Briten, Türken und Italiener ihre „Claims“ abgesteckt hatten und um Besitz und Einflussnahmen rivalisierten.
Er schreibt autobiographisch, sein Leben speist sich aus Wagemut, Unbekümmertheit und seinem Freiheitsrausch: ohne erfundene Ausschmückungen abenteuerlicher Phantasien wie bei Karl May. Weder Jack London, noch Lawrence of Arabia, Thesiger oder Richard Burton waren bei ihren Reisen so sehr auf die persönliche Freiheit fixiert.

Er kauft eine Dhau, um mit der Perlenfischerei finanziell ein freier Mann zu bleiben. Er trifft er auf windige Händler von Perlen, Waffen, Sklaven und Drogen und auf Piraten. Er bewundert das einfache Leben der Völker und Stämme. Das Leben seiner zivilisierten Zeitgenossen sieht er fremdbestimmt und eingeengt von Gendarmen und Zöllnern, Gefängniswärtern, Soldaten und Gouverneuren. Er kleidet sich wie die Einheimischen, spricht Arabisch und achtet ihr Wesen, ihre Mentalität und Religion. Er konvertiert sogar zum Islam.

Das Buch enthält Sozialkritik und Auflehnung gegen den Hochmut der Weißen, Nachdenkliches über den Einfluss des Westens auf das Leben und die Kultur. Er konstatiert auch bei sich selbst eine koloniale Denkweise, die er aber er hinterfragt. Exotische geographische Namen tauchen auf (Vorschlag an den Verlag: die Integration einer kleinen Karte zur Orientierung). Menschen werden vorgestellt wie Ato Joseph, Jaques Schouchana, Zanni, Said Ali, Cheik Issa, Sergent Chevet, sein Freund Lavigne, Monsieur Cocalis und die verschiedenen Beamten.

De Monfreids Lebensbericht endet durch Intrigen: natürlich ist ein intelligenter freiheitsliebender Mann, der die schon damals üblichen Manipulationen um Macht und Geld aufdeckt, den engstirnigen moralinsaueren Hütern von Recht und Ordnung ein Dorn im Auge.

Dieser Roman ist ein lebenspralles authentisches Werk, nicht zu vergleichen mit der heutigen
Reiseliteratur, die privilegierte Aussteiger-Literatur ist. Anschaulich werden die einzelnen Charaktere der indigenen Bevölkerung wie der ansässigen Weißen skizziert. Meereslandschaften beschreibt er aufwühlend und farbig: Meerespoesie. Aber auch die erdigen und himmlischen Landschaften sind mitreißend poetisch verewigt. Seine Sprache ist malerisch, wie mit dem Pinsel geschrieben.

Wer ein Faible für das Meer hat, wer wahrheitsgetreue virile Abenteuer in exotischen Landstrichen und Meeresbuchten schätzt – dem Seemännischen wird in epischer Breite gehuldigt – wer zudem noch wissbegierig ist zu nicht alltäglichen Fakten, für den ist dieses Buch ein Schatzkästlein.
Dieses ist wahrhaftig kein papiernes Schriftstellerleben, sondern strotzend vor Leben. Es ist ein Beweis für Amor fati.


Interessant, das Damals mit dem Heute zu vergleichen: überall der Orient klischeehaft in Szene gesetzt, kaum noch Ursprüngliches.

Bewertung vom 10.11.2020
Spaziergänger Zbinden
Simon, Christoph

Spaziergänger Zbinden


ausgezeichnet

Ein Mensch, der spaziert, kann überhaupt nicht unglücklich sein.

Ich hätte nicht erwartet, von einem Poetry Slammer einen so wunderbaren, einfühlsamen Text zu lesen. Ein sensibler Text von einem jungen über einen alten Mann. Ein Text, der achtsam und zugleich gekonnt die Erinnerungsebenen mischt, liebevoll, zart und humorvoll, kombiniert mit scharfer Beobachtungsgabe, dem Leser die spaziergängerische Philosophie des Lukas Zbinden nahebringend.

Er mischt die Erkennnisse des alten Lehrers und seines langen Lebens mit den Kurzbiographien seiner Mitbewohner in einem Berner Altersheim, er stellt sie Kazim, von dem man nicht viel mehr erfährt, als dass er Zivildienstleistender ist und rudert, erzählerisch mit ihren Charakteristika und ihren kleinen Macken vor.
Er lässt uns treppauf, treppab durchs Seniorenheim tapern, immer in Begleitung von Kazim. Er erzählt, und was Kazim fragt oder antwortet, bleibt offen. Aber immer und überall, im Vordergrund wie auch im Hintergrund, ist die große Liebesgeschichte von Emilie und Lukas präsent: Denn es gab ein Leben vor dem Altersheim.

„Wenn ich noch hundert Leben hätte, ich würde immer wieder Spaziergänger werden wollen.“
„Aber alles Schwierige, Wahrhaftige, Bereichernde erschließt sich niemals beim ersten, schnellen Gebrauch: Die Orgelwerke von Bach, die Dramen von Shakespeare, die Geheimnisse des Weltraums oder die Decke der Sixtinischen Kapelle. Alles braucht eine tiefe, sich vertiefende, liebevolle Annäherung.“

Man versinkt in einer fast meditativen Lektüre und kann dieser Liebeserklärung an das Leben nur zustimmen. Denn der Spaziergang ist nur eine Metapher für achtsame Wahrnehmung der kleinen Glücksmomente am Wegesrande. Wege wie Perlen auf einer Schnur:
Wege, die eine Ode an die Sonne singen. Schwache Wege, hinterhältige Wege, tyrannische Wege, verspielte Wege, einsiedlerische Wege, verspielte Wege, weise Wege, wohlbeleibte Wege, düstere Wege. Wege als Mikrokosmos im Makrokosmos.

Christoph Simon hat uns wie sein Landsmann Robert Walser mit dessen Erzählung „Der Spaziergang“ ein Kleinod geschenkt: voller Herzlichkeit und Weisheit, voller liebevoller Erinnerungen und auch voller Wehmut.

Bewertung vom 10.11.2020
Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer
Gauß, Karl-Markus

Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer


ausgezeichnet

Reisen en miniature: Pars pro toto.

Karl-Markus Gauß ist ein schreibender und belesener Mensch, der auch in seinen anderen Büchern durch die Welt der kleinen Dinge mäandert. Aus dieser häuslichen Reise wird eine Reise mit weitem Radius, dekoriert mit geschichtlichen und kulturgeschichtlichen Petitessen. Die im Leser Entdeckungsfreude wecken und ihn zu Recherchen animieren, Anregungen zu eigenen Erkundungen durch die Welt der unbelebten Dinge. Denn betrachtet und beschrieben werden sie lebendig.
Dieses kleine Buch ist in vorcoronaren Zeiten geschrieben worden, gewinnt aber durch die JETZT-Situation eine besondere Bedeutung. Wenn man nicht weltläufig reisen kann, reist man ins Innere und sei es in und durch das eigene Zimmer. Damit steht Gauß nicht allein, seine Vorläufer waren Xavier de Maistre mit „Die Reise um mein Zimmer“ und Sophie von La Roche mit „Mein Schreib-tisch“. Sie waren gewiss Anregungen zu dieser ganz persönlichen Exkursion.

Natürlich sind da die wichtigsten Accessoires im Leben eines Schriftstellers - die über 30.000 Bücher, die viel gelesenen, die zerfledderten (auf Flohmärkten wegen ihrer Kuriosität gekauft) und die vielen, vielen anderen. Und der Schreibtisch aus massivem Nussholz. Mit tiefen Schubladen und kleinen Schubfächern. Schreibblöcke, die auf ihre Beschriftung warten. Vom Schreibtisch aus blickt der Autor in die Welt der Dinge: einen Globus-Anspitzer, ein Heiligenbildchen der assyri-schen Christen, ein Boot in Miniaturformat, einer „Ulmer Schachtel“ gleich, mit denen die Menschen donauabwärts fuhren in ein neues Leben, so wie heute die Menschen, die über das Mittelmeer kommen.

Wir begegnen Onkel Hugos Traum, Venedig zu sehen, in der Manifestation eines Aschenbechers aus Murano. Mit Tassen aus ganz Europa – Mitbringsel von Freunden – kann der Autor quasi durch ganz Europa reisen: von Göteborg nach Neapel, von Vilnius nach Basel, von Marseille über die Pyrenäen. Am liebsten ist ihm jedoch eine selbst gekaufte, erworben in der moldawischen autonomen Republik der Gagausen,
Die biedermeierliche Wanduhr, ein Brotmesser mit einem lockeren Holzgriff, das Kochbuch seiner donauschwäbischen Großmutter mit 379 Rezepten, das nach der Flucht der Großeltern durch Europa in einem bayerischen Dorf landete und Symbol einer multikulturellen Welt ist.
Natürlich dürfen Briefe und Bilder nicht fehlen. Von einem Maler gibt es 34 landschaftliche Miniaturen.

Immer wieder schweift Gauß ab, begibt sich auf Exkurse zu Kroatien, angeregt durch ein T-Shirt mit dem Konterfei des Partisanen Stjepan Filipovíc, zu Stadtplanung und Arbeitersiedlungen und zum Warten: die verschiedenen Arten des Wartens. Und natürlich in Vino veritas: die Kunst des Rausches. Und auch das „Außen“ – Spaziergänge über die Friedhöfe der Stadt – gerät in sein erzählerisches Visier.

Der ganze Text wird von Wehmut und Heiterkeit zugleich gestreift, er symbolisiert eine Reise, für die man nur offene Augen, wache Sinne und ein gutes Erinnerungsvermögen braucht.
Ein wahres Kleinod für kontemplative Momente.

Bewertung vom 09.11.2020
Sarab
Alem, Raja

Sarab


sehr gut

Der Fanatismus ist das tödliche Metronom, ohne dass die Wiegenlieder des Terrors nie erklängen. (Peter Rudl)

Ist dieses Buch die Beschreibung eines terroristischen Aktes? Eine Seelenbeschreibung zweier junger Menschen? Ein morbider Liebesroman, versteckt hinter politischem Gewand? Ein Abenteurroman gewürzt mit Prisen von Gewalt und Erotik?
Bringt es uns Aufklärung über den Fanatismus Korangläubiger? Über den Fanatismus im allgemeinen? Über religiöse Manipula-tionen? Über die naive Leichtgläubigkeit der Menschen, die sich nach Reinheit und Sicherheit sehnen, nach Gott?
Bleiben wir bei den Fakten:1979 wurde in Mekka DER Heilige Ort des Islam von salafistischen Kämpfern erobert. Pilger aus aller Welt wurden Opfer und Geiseln von Männern, die glaubten, den Mahdi gefunden zu haben und ihn als neuen Herrscher der Welt auf den Thron bringen wollten. Der Mahdi, der Erlöser, der in der Endzeit erscheinen, Gerechtigkeit auf die Erde bringen und das Unrecht auf der Welt beenden sollte. Mahdi – im Judentum der Messias, im Christentum Jesus.
Der Roman beschreibt die fünf Tage der Besetzung. Und bringt das Beduinenmädchen Sarab und den französischen Soldaten Raphael zusammen. Beide leben in ihren inneren Käfigen, dem westlichen und dem orientalischen. Sie gehen zusammen nach Paris. Wir erleben das Sichherantasten des Beduinenmädchens an die „Freiheit“, aber immer wieder blinken Relikte aus ihrer Vergangenheit auf: die zwanghafte Sucht nach seelischer und körperlicher Reinheit. Immer wieder tauchen die Toten des Kampfes auf, auch Raphael wird gequält von Bildern seiner Greueltaten, verbrämt mit Heldenmut und Soldatenehre.
Die Botschaft, der Mahdi sei in Mekka erschienen, wurde von den Pilgern nicht mit frenetischem „Allahu akbar, Gott ist der Größte“, begrüßt. Sondern mit Angst und dem einzigen Gedanken, dem Tod zu entfliehen. Es gab kein Entrinnen. Auch der „Mahdi“ war nur ein Sterblicher.

Beschreibungen der Todeskämpfe, des Blutrausches. Als ob dies ein Zeichen des Lebendigseins wäre. Wieso glauben Fanatiker ihr Weg sei der einzig wahre Weg zum Paradies? Woher der besessene Glaube des Auserwähltseins? Woher nehmen sie das Recht menschliche Lebewesen auszumerzen? Woher der Glaube an das Paradies? Und wozu?

Beduinenmädchen trifft auf männliche „Tötungsmaschine“. Beides kann uns Angst machen. Denn beide sind charakterisiert durch blinde Gefolgschaft. Die inneren Kämpfe der beiden sind recht gut ausgeleuchtet und doch springt der Funken des Nachvollziehbaren nicht über. Sie bleiben fremd. Sollen sie die Wunden von Okzident und Orient versinnbildchen?
Ein Roman aus einer anderen Welt, oft überfrachtet, in vielem zu unglaubwürdig, zu unwahrscheinlich. Aber was ist heute schon glaubwürdig oder wahrscheinlich? Eine intensive Lektüre: eine Liebesgeschichte, die sich mit den historischen Vorfällen verbindet und mit ihnen verstrickt ist. Gekonnt geschrieben, einfühlsam und kenntnisreich. Ein exotischer Liebesroman. Aber: Eine Verschlankung des Textes wäre dem Gesamten zuträglich.

Bewertung vom 09.11.2020
Riwan oder der Sandweg
Bugul, Ken

Riwan oder der Sandweg


ausgezeichnet

Vom Fortgehen und Zurückkehren. Vom Suchen und Sich-Finden.

Der 1999 erschienene Roman wurde den 100 einflussreichsten afrikanischen Romanen zugeordnet. Er schildert uns plastisch und lebendig die Odyssee einer studierten, schönen Afrikanerin, die aus Europa zurückkehrt in ihr Heimatdorf. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, auf der Suche nach sich selbst, nach ihrer ureigensten Identität. Sie fühlt sich zerrissen, zerstört, zerbrochen.
Ein komplexer Roman mit diversen Ebenen: das Leben der Protagonistin, die spirituelle Welt der Muradiya, einer Sufi-Bruderschaft, das polygame traditionelle Frauenleben im Gegensatz zu westlicher Emanzipation, die Traditionen mit strikten Strukturen und Hierarchien, die einengen, aber auch Geborgenheit und Sicherheit geben.


Wir erleben eine jungen Frau, die ihre „weiße Maske auf schwarzer Haut“ (Frantz Fanon) als Fremdkörper empfindet und ablegt und langsam den Weg, ihren Sandweg, zurück zu sich selbst, findet. Im Serigne, den Kalifen der Muradiya-Gemeinde, findet sie einen Vertrauten, einen Freund, mit dem sie in Augenhöhe über alles reden kann. Alles ändert sich, als er sie zur 28. Ehefrau seines Anwesens, seines Lebens erwählt. Zum ersten Mal empfindet sie Liebe, Sanftmut und Zärtlichkeit, in stillem Einvernehmen. Diese Liebe und Zuneigung, dieses Vertrauen lösen einen Heilungsprozess in ihr aus und sie bleibt dem Serigne über Jahre engst verbunden.

Wir erfahren viel über das das Muriden-Kalifat und über den Serigne. Ein Mann mit einer Aura der Güte, des Wissens, des Scharfsinns, der Weisheit und der Freigiebigkeit. Er verkörpert ein Ganzes. Die Ich-Erzählerin erlebt eine ganz neue Art von Sinnlichkeit, von Liebe und Lust. Die manipulativen Spiele der Wolllust und der Stellungswechsel sind weit fort. Sie singt nicht das Lied der Polygamie, aber sie vergleicht sie mit westlichen Liebesprinzipien, früher romantisch konnotiert, heute ein Optimierungs- und Leistungsprozess. Als der Serigne sich nach Jahren eine neue Frau nimmt, geht die Erzählerin ihren eigenen Weg. Sie ist jetzt stark genug und hat sich selbst gefunden. „Ich war zu der geworden, die ich war“. Frei von den falschen Verlockungen und Verführungen des Westens. Fernab vom westlichen Feminismus, der einfach nur eine weitere - ismus-Schublade ist.

Eingebettet in die soziologischen, religiösen, psychologischen und philosophischen Facetten sind die Kurzporträts einiger Frauen. Immer wieder Einsprengsel von sozialkritischen und politischen Protestnoten, fast wie Werbeslogans im Stakkato. Der gesamte Text wird dadurch rhythmisch und lebendiger.

Ken Bugul entführt uns in zwei Welten, in die traditionelle afrikanische und die moderne westliche. Welche ist die bessere? Nachzudenken über Traditionen und Moderne, über weibliche Rollenspiele und Schicksale, dazu regt dieser Roman an und führt vielleicht zu Verständnis anderer Lebensarten und zum Tieferschürfen der eigenen Situation, der persönlichen wie der allgemeinen in Europa.


Abschließend ein Satz von Fernando Pessoa: Nie eine Haremsdame gewesen zu sein.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 09.11.2020
Viva
Deville, Patrick

Viva


ausgezeichnet




Das Festmahl der Synapsen.
Der Gastgeber ist der Autor Patrick Deville, der für seine Schreib- und Fabulierlust bekannt ist. Deville platziert seine illustren Gäste mit Platzkarten ganz comme il faut, lässt aber auch viel Platz am üppig gedeckten Tisch für „Zaungäste“. Deren Namen flattern en passant wie Appetizer umher. Delikatessen und Petitessen aus den überbordenden Biographien der Hauptgäste bilden die Essenz des Buches : die Curricula vitae sind wie ein Bouquet einer untergegangenen Welt, deren Kul-minationspunkt Mexiko ist. Der Leser landet in einem Strudel aus biographi-schen, politisch-geschichtlichen und kulturellen Details: der Roman ist vielleicht keine Heldenreise, aber auf jeden Fall eine Bildungsreise. Ein Menü gegen die Amnesie. Und regt an zum Recherchieren und Nachlesen – ach, wer was das noch, doch schon mal gehört?! Leo Trotzki. Malcolm Lowry. B. Traven. Frida Kahlo. Tina Modotti. Diego Rivera. Und last not least eine kurze Hommage an Lázaro Cardenas. Er nahm Flüchtlinge und Verbannte auf, aus dem Spanischen Bürgerkrieg, aber auch viele Deutsche. Initiierte Reformen, verstaatlichte die Ölindustrie. Heute wäre er ein Präsident fernab des politischen Mainstreams. Und hier einige der „Zaungäste“: Sandino. Zapata. Picabia. Blaise Cendrars. Juan Rulfo. Octavio Paz. Victor Serge. John Reed. Majakowski. Sancho Villa. Jules Verne. Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg. Pablo Picasso. Sergej Jessenin. Walter Benjamin. Blaise Pascal. Geoge Orwell. Antonin Artaud, Georges Simenon, Saint-John Perse. Simone Weil. Roland Barthes. Jorge Luis Borges, André Breton. Sacco und Vanzetti. John Dos Passos. Pablo Neruda. Che Guevara, Subcomandante Marcos. André Malraux. Ganze zehn Jahre ist Patrick Deville auf den Spuren seiner Gäste gereist: Von Mexiko nach Sibirien. Und überlässt den Lesern einmal mehr ein faszinierendes Epos, das zeigt, dass Geschichte mehr ist als nur ein paar Jahreszahlen. Dass Geschichte Menschen sind und Geschichten, die miteinander verbunden, verflochten und verwoben sind. Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen. William Faulkner Und zuletzt die Frage: Was wäre aus der Weltgeschichte, aus der Sowjetunion und aus dem Kommunismus geworden, wenn Trotzki statt Stalin die oberste Machtposition innegehabt hätte?

Bewertung vom 09.11.2020
Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe
Kopf, Uwe

Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe


gut

Das Land des Lächelns. Das Land des Verschweigens.

Der Roman beginnt mit den Vorbereitungen für einen Mord. Der Protagonist Tom wirft noch einmal mit Sunil verfeinerte Wäsche in die Maschine, bestellt sich Pizza und Bier und packt ein Geschenk ein.
Die letzte Etappe seines Lebenswegs, eines Lebens auf emotionaler Sparflamme, bevor er sich im Mai 1998 selbst mordete. Für ihn galt nicht: die Hoffnung stirbt zuletzt. Er hatte keine Hoffnung mehr 40 Jahre nach seiner Geburt.

Der Autor beschreibt das Leben der Brüder Tom und Sören. Mal in der 1., mal in der 3. Person. Meist in ziemlich schnoddrigem Ton, mit versteckter Sensibilität.
Tom und der etwas ältere Sören sind zwei ungleiche Brüder, aufgewachsen mit einer schönen Mutter und einem alkoholkranken Vater mit SS-Vergangenheit. Andere Männer folgten: der Holländer, ein libidinöser Schlagzeuger, der Schläger Hans. Mutter, Oma und die 2 Brüder leben in einer Vorstadt von Hamburg. Die Mutter arbeitete bei der Post, wo auch Tom landete. Sein Bruder Sören machte Karriere als Redakteur, war bei den Frauen beliebt. Während Tom 12 Jahre mit der Puppenbastlerin Tanja zusammenlebte, ohne sie je penetriert zu haben. Erst mit 33 Jahren verlor er seine Jungfernschaft.
Über die Freundin seines Bruders lernte er Eva kennen. Sie verliebte sich in Tom und er in sie: er war besoffen von ihr. Für ihn war diese Liebe für die Ewigkeit, eine Zukunft ohne Eva: unvorstellbar. „Mit Eva hatte ich eine ganze Welt, eine neue Welt.“ Aber sie entfloh dieser Enge und dieser eifersüchtigen Inbesitznahme.

Immer wieder werden wie die Streusel eines Kuchens Namen, Begriffe, Orte und Song-, Buch- und Filmtitel der damaligen Populärkultur eingestreut. Und immer wieder Songs des bewunderten Rory Gallagher.
Toms nihilistisches Denkschema kreiste um „Lieber ein Nichts, bevor ich zum Mittelmäßigen aufsteige.“
Der Roman ist Zeitgeschichte und Spiegelbild der späten Nachkriegszeit, das Porträt einer gescheiterten Generation. Die Traumata der Älteren pflanzten sich unbemerkt fort, ummantelt von Schweigen.
Es ist eine Choreographie des Scheiterns, eine schleichende Tragödie, eine Sinfonie des Ennui, der Ausweglosigkeit und des Lebensüberdrusses, ohne Pathos und ohne Happy end. Ein mumifiziertes Leben ohne die heute so gepriesenen Selbstoptimierung.

Uwe Kopf gelingt es, in all dieser Tragik eines ungelebten Lebens, die Mitreisenden im Karussell, Lori, Rollo, Mads, Herr Börme, Herr Hirtz humorvoll und lebendig zu beschreiben. Sein Stil ist plastisch, lebendig und trifft realistisch den Jargon jener Zeit. Man gerät in den Sog, immer weiter zu lesen.
Und erst zum Schluss öffnet sich die Tür, die dem Leser Zugang zu Toms Trauma, zu seiner Lebensverweigerung öffnet. Ein Abschluss, mit dem zumindest ich nicht gerechnet habe. Ein Abschluss, der uns das Unaus-sprechliche einer verletzten Seele, die von tiefer Angst, Ekel und Leere erfüllt war, vorführt.
Uwe Kopf ist mit seinem einzigen Roman ,er verstarb im Jahre 2017, ein eindrucksvolles menschliches und zeitgeschichtliches Dokument gelungen.

Bewertung vom 09.11.2020
Frühstück mit der Drohne
Saif, Atef Abu

Frühstück mit der Drohne


ausgezeichnet

Stell Dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.
Das waren progressive Sprüche. Seit 1945 gab es keinen Krieg mehr in Europa. Krieg gibt es in Hollywoodfilmen und in Romanen. Die letzten Balkankriege? Am Rande des Kontinents, fast tatarisch fremd. Und die in Ruanda, im Kongo, im Irak, im Yemen, was gehen sie uns an? Da konnten wir den menschenrechten Zeigefinger mahnend erheben und Worthülsen von Frieden in den Medien platzieren. Und im syrischen Krieg, da gab es sogar eine Zeitlang offene Grenzen und Loyalität. Aber ein Krieg in Gaza? Der ging uns nun wirklich nichts an. Hatten die nicht selbst Schuld mit ihrer bösen Hamas, die das gute Israel angriffen? Und ist israelische Politik nicht die des rohen Eies? Bloß nichts sagen, nichts tun, was dieses Ei beschädigen könnte.
Atef Abu Saif, Schriftsteller und Politologe, in Gaza geboren und lebend und seit April 2019 Kultusminister des palästinensischen Staates, beschreibt in seinem Buch nicht die üblichen Kriegserlebnisse aus Zeiten, als Heere einander bekämpften, sondern er schreibt in Tagebuchform seine Erlebnisse nieder, seine Ängste und Hoffnungen. Er schreibt von seiner Familie, von Freunden und Nachbarn, von zerbombten Häusern, von brennenden Äckern, Olivenbäumen und Orangenhainen, von zerfetzten Leichen, von der Auslöschung ganzer Familien, von der psychischen Zersetzung der Menschen. Deren Traumata die Sockel einer künftigen Gesellschaft sein werden. Eine zusätzliche Zermürbungstaktik zu der Angst um das eigene Leben, um die Familie und um die Freunde: die Kalamitäten des Alltags – wann gibt es wieder Wasser? Wann Strom? Wann können wir Essen einkaufen? Und immer wieder die Frage: warum lebe ich noch? Wann sterbe ich? Wann trifft der Tod mich? Da fällt mir die arabische Anekdote ein: Ein Mann sieht auf dem Marktplatz von Bagdad den Tod. Der Tod winkt ihm zu und der Mann flieht nach Samarra. Dort treffen sie sich wieder. Fazit: Es gibt kein Entkommen.
Die Notizen von Atef Abu Saif sind wie ein Mosaik des Krieges und des Todes, der Angst und der Verzweiflung, aber auch der kleinen Freuden: einen Kaffee trinken, eine Shisha rauchen, eine Melone essen. Die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch wenn die Zeilen eher wie eine Reportage zu lesen sind, klingt in ihnen tiefe Menschlichkeit und Empathie mit: die Toten bleiben nicht namenlos. Atef Abu Saif gibt ihnen ein Stück Leben zurück durch die Nennung ihrer Namen und ihres Alters.
Das Sirren der Drohne, wie ein Perpetuum mobile, wie eine mutierte Riesenmücke, ist ständige Begleitung, gesteuert von einem Menschen, der „nur seine Pflicht tut“, der womöglich vor Langeweile gähnt, Kaugummi kaut, Spaß an der Jagd hat oder Frust, weil seine Frau gestern Nacht nicht mit ihm ficken wollte oder weil die Bank ihm den Kredit verweigert hat.
Die Drohne ist das Symbol dieses Krieges und aller künftigen: ein Big Brother-Szenario, gegen das der Einzelne machtlos und dem er ausgeliefert ist. Ich habe dieses Buch wie eine Hymne an das Leben und die Hoffnung gelesen. Jenseits aller politischen Verflechtungen.

Bewertung vom 09.11.2020
Wie Baptiste starb
Blottière, Alain

Wie Baptiste starb


ausgezeichnet

There was a missing person inside myself and I needed to find him
Was ist dieses kleine Buch? Ein Abenteuerroman? Eine psychologische Studie auf der Suche nach einem verschütteten Leben? Die Geschichte eines Mentizids?
Es beginnt und endet in Frankreich in Form eines Dialogs zwischen Baptiste alias Yumai und einem Therapeuten, unterbrochen durch Textpassagen, die das Leben des jungen Protagonisten in einer Extremsituation beschreiben.
Baptiste, 14 Jahre alt, kann sich nur bruchstückhaft erinnern: seine Eltern, seine Brüder und er sind unterwegs in der Wüste. Er selbst nennt sich Yumai und behauptet, Baptiste sei gestorben, nachdem sie ihm diesen Namen gegeben hätten. Sie, das sind die Entführer, die sich ein hohes Lösegeld erhoffen. Für Yumai war die Wüste nicht die Hölle, sondern eine unberührte Landschaft, nur von Wind und Sonne geformt. Er verspürte tiefe Einsamkeit, aber auch tiefe Glücksgefühle.

Er erinnert Details wie die magischen Sterne der Nacht, das Glücksgefühl des Schattens, der Frische des Wassers. Und die Faszination der Höhle, in der er einige Tage allein verbringen musste: deren Felszeichnungen gaben ihm Trost und Freude. Die Entdeckung der Tausenden von Händen, von exotischen Tieren und von jagenden, tanzenden, schwimmenden Menschen.

Immer wieder bohrt der Therapeut nach und ganz langsam lösen sich die Gedächtnislücken auf. Baptiste hatte kein enges Verhältnis zu seinen Eltern. Vielleicht führte diese Distanz dazu, dass er sich immer mehr an sie gebunden fühlte. Eine Art Stockholm-Syndrom. Und natürlich die Mut- und Glückspillen, mit denen sie sich voll pumpten. Ihm wurde beigebracht zu töten. Keine Gedanken mehr an die Eltern nach der Trennung voneinander, nur des kleinen Bruders Louis letzter Blick voller Schrecken und Entsetzen verfolgte ihn und er fragte sich, was ihm geschehen war….
Ein zweiter Aufenthalt in der Höhle. Er schnitt und ritzte sich mit seinem Messer, das schon blutgefärbt war. Wovon? Eine Hand im Inneren der Grotte, so groß wie seine, daneben eine kleinere, auf die er seine blutbefleckte Hand legte. Immer wieder zog es ihn zu seiner blutbe-sudelten Hand auf dem Fels.

Man fand Yumai/Baptiste bewusstlos, vollgepumpt mit Schlafmitteln neben einem Brunnen. Mit einem Video-Chip in der Tasche. Von seiner Familie keine Spur….


Ein aufwühlendes Buch. Man kann sich hinein fühlen in die verlorene Seele eines Kindes, das sich der Manipulationen durch Pillen, Hasch und Predigten nicht erwehren kann, vielleicht auch nicht erwehren will? Was versprachen sie ihm? Das Paradies wie die Assassinen? Viele offene Fragen, die zum Nachdenken anregen über Extremsituationen, über die Naivität mancher Reisender, über religiöse und psychologische Gehirnwäsche, über die eigene Standhaftigkeit, über das Sterben und den Tod: „Bei uns stirbt man im Bett, im Krankenhaus oder Altersheim. Meine Großmutter hat schon das Heim besichtigt, wo sie sterben wird. Das ist die sanfte Version eines zum Tode Verurteilten, den man sein eigenes Grab schaufeln lässt.“