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Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Kwinsu
Wohnort: 
Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 73 Bewertungen
Bewertung vom 30.10.2023
Endstation Malma
Schulman, Alex

Endstation Malma


ausgezeichnet

Wunderschöne Traurigkeit

"Die Zukunft ist bereits vorherbestimmt und lässt sich nicht beeinflussen, doch was passiert ist, ist veränderlich, es bewegt sich die ganze Zeit." (S. 206)

Da ist Harriet, ein Mädchen, dass von ihrer Schwester und ihrer Mutter getrennt und allein von ihrem Vater groß gezogen wird. Da ist Oskar, der eine auf Streit basierte Ehe führt, die ihn an seine Grenzen führt. Und da ist Yana, deren Mutter eines Tages verschwunden ist und die nach dem Tod ihres Vaters beginnt, ihr Leben aufzuarbeiten. Alle drei sind auf der Zugreise nach Malma und ihre Schicksale sind enger verwoben, als es zu Beginn den Anschein hat.

Alex Schulman beobachtet in seinem Roman "Endstation Malma" die Entwicklung von Beziehungen - zwischen Vater und Kind, Mutter und Kind, die Beziehung von Schwestern, von einem Liebespaar und immer auch die Beziehung von den Protagonist*innen zu sich selbst. Er ist dabei so schonungslos, so aufmerksam, so ehrlich, dass es teilweise weh tut. Verbale und psychische Gewalt sind allgegenwärtig, meist ohne, dass es den Protagonist*innen selbst bewusst ist. Ein zu wenig und ein zu viel an Liebe sind stete Wegbegleiter. Der Blick ist dabei immer in die Vergangenheit gerichtet, die Zukunft scheint kaum eine Rolle zu spielen. Erinnerungen und Wahrheiten werden ausverhandelt, die unterschiedlichen Blickweisen auf Geschehnisse beleuchtet. Dies lässt die Geschichte ob der teils tragischen Ereignisse stehts traurig und melancholisch, ab und an sogar depressiv wirken. Die zugängliche Sprache und der philosophische Ansatz jedoch verleihen dem Buch eine Schönheit und beeindrucken so, dass ich stets gefesselt war und kaum aufhören konnte zu lesen. Die ein oder andere Träne musste ich ob der rohen Schilderung gewisser Erinnerungen vergießen. Schließlich hat mich das Erzählte auch dazu angeregt, selbst über meine Vergangenheit und meine Erinnerungen zu reflektieren.

Endstation Malma ist ein großartiges Werk, das mir lange in Erinnerung bleiben und bestimmt noch des Öfteren gelesen werden wird. Es ist keine leichte Kost, aber eine absolute Bereicherung für alle, die sich von Schonungslosigkeit nicht abschrecken lassen.

Bewertung vom 20.10.2023
Diamantnächte
Rød-Larsen, Hilde

Diamantnächte


gut

Sprachlos hadern

"Und dann hob ich ab und trieb sanft im Zimmer umher, ganz von allein." (S. 237)

Genauso wie eben angeführtes Zitat treibt die Geschichte der Protagonistin - einmal heißt sie Agnete, einmal Marianne - umher, zwar nicht immer sanft, aber ganz von allein. Wobei, ich bin mir unschlüssig ob es tatsächlich eine Geschichte ist. Vielmehr sind es Gedanken, die wir in "Diamantnächte" mitverfolgen können. Zwar gibt es eine Rahmengeschichte, diese erscheint aber zweitranging. Dabei hadert die Erzählerin ständig - mit sich, mit dem Gesehen Werden, mit einer angeblichen Inkompetenz mit Menschen umzugehen, mit Beziehungen, mit Träumen und Selbstverletzungen. Den roten Faden bildet dabei eine Beziehung zu einem wesentlich älteren Mann - der Vater einer Freundin - die sie Jahrzehnte aufrecht erhält, auch wenn sie immer nur eine flüchtige Begegnung darstellt. Es ist nicht klar: geht es um Sex, um Nähe, sieht sie der Mann, wie sie ist, weil er glaubt, dass er es kann? Was zieht sie immer und immer wieder zu ihm? Was ist so speziell an dieser Beziehung, dass sie deren Geschichte niederschreiben muss? Was ist es, das Agnete, oder Marianne, antreibt und wo will sie überhaupt hin? Mühelos könnte ich noch zahlreiche Fragen formulieren, eine Antwort bekomme ich in diesem Buch aber nicht.

Interessant ist der Aufbau des Buches: es umfasst drei Abschnitte. Im ersten versucht sie sich einer Geschichte anzunähern, wird aber immer wieder von ihren Gedanken unterbrochen. Sie erkennt, dass sie so nicht zum Ziel kommt (welchem???). Bis hierhin ist aus der Ich-Perspektive erzählt. Im nächsten Kapitel plötzlich wechselt die Erzählweise auf eine Erzählung in der Dritten Person. Nun heißen die Protagonist*innen anders, aus Agnete wird plötzlich Marianne und es wird geschildert, wie sie den Mann - hier heißt er nun Alexander und nicht mehr Christoph - kennenlernt. Er ist der Vater ihrer Freundin Jenny, die hier nun aber Sarah heißt. Nachdem sie und Alexander die ersten Intimitäten ausgetauscht haben, endet scheinbar völlig natürlich die Freundschaft zwischen Agnete und Jenny. Im dritten Abschnitt kehrt die Ich-Erzählform wieder zurück, der Mann wird nun schlicht C benamt. Hier tauchen wir mehr und mehr in die Gegenwart der Protagonistin ein - vermutlich versucht sie zu schildern, warum alles so geworden ist, wie es ist. Angenehm ist im Buch, dass die Unterkapitel nur sehr kurz sind, teilweise nur zwei Zeilen und ein neues beginnt immer in der Mitte der Seite - das Buch kann also schnell hinter sich gebracht werden.

"Diamantnächte" macht mich sprachlos und ich hadere. Sprachlos, weil mir nicht eingeht, was das Buch eigentlich erzählen will. Ich verstehe es schlicht nicht. Nichts scheint von Bedeutung zu sein, aber alles ist pathetisch wichtig. Ich hadere, weil der Erzählstrang, die Geschichte wirklich gut sein könnte, würde sie auserzählt werden, würde sie tiefer gehen, würden wenigstens Ansätze von Erklärungen vorhanden sein. Trotzdem ich daran wirklich kaum etwas verstehe, ich mich zwischendurch ob der fehlenden Tiefe und Nachvollziehbarkeit geärgert habe, habe ich das Buch nichtsdestotrotz irgendwie doch gern gelesen.

Bewertung vom 15.10.2023
Das Todesflüstern der Raben
Esser, Frank

Das Todesflüstern der Raben


sehr gut

Nicht ist so, wie es scheint!
Ein Rentner, der gerne an Old- und Youngtimern herumbastelt, wird tot in seiner Werkstatt aufgefunden. Schnell stellt sich heraus, dass es sich um Mord handelt. Erschreckt stellt die Ermittlerin Jana Brinkhorst fest, dass der oder die Mörder einen Origami-Raben am Tatort hinterlassen hat bzw. haben - wie bei zwei ungeklärten Mordfällen, die sich vor rund zwei Jahren ereignet haben. Sind hier Serientäter am Werk? Die Art und Weise, wie die Opfer zu Tode gekommen sind, ähneln sich nicht. Doch prompt taucht das nächste Opfer auf - es muss einen Zusammenhang geben! Schon beginnen intensive Ermittlungen, die das Ermittler:innen-Team vor große Herausforderungen und Rätsel stellt. Zu allem Unglück ist der Neffe des Rentners Polizist und trotzdem er sich im Krankenstand befindet und aus einem anderen Zuständigkeitsbereich kommt, ermittelt Karl Hansen auf eigene Faust, was sich im Laufe der Ermittlungen allerdings als durchaus hilfreich herausstellt. Es beginnt ein Spießrutenlauf zwischen immer neuen Mordfällen, gewonnenen Erkenntnissen, falschen und richtigen Spuren und der Gewissheit, dass es bald das nächste Opfer geben kann...

"Das Todesflüstern der Raben" ist ein kurzweiliger, rasanter Krimi, der es weiß, die Spannung aufrecht zu erhalten und immer neue Wendungen zu bieten. Nichts ist so, wie es scheint und besonders die Auflösung ist unerwartet! Der Krimi zeichnet sich auch dadurch aus, dass er kurze Kapitel hat, die das Tempo sehr schnell erscheinen und viel Spielraum für Unerwartetes und Grübeleien lässt. Für meinen Geschmack hätte er ruhig etwas länger ausfallen können, die Auflösung kommt geballt und komplex, da wäre es schön gewesen, dem mehr Zeit und Zeilen zu widmen. Auch die Auflösung was es mit dem Origami-Raben auf sich hat, war mir etwas zu kurz und zu wenig im Fokus, ist dieser doch titelgebend und Erkennungsmerkmal der Mordserie.

Nichts desto trotz ist der neueste Krimi von Frank Esser fesselnd, abwechslungsreich und sehr unterhaltsam - er macht definitiv Lust darauf, die anderen Werke des Autors zu verschlingen! Absolute, kurzweilige Leseempfehlung!

Bewertung vom 15.10.2023
Lichtspiel
Kehlmann, Daniel

Lichtspiel


ausgezeichnet

Die Überschätzung der Wirklichkeit
"Wären diese Menschen nicht die Verkörperung des Bösen, man wäre immer wieder versucht, von ihrer Hingabe ans überflüssige Detail beeindruckt zu sein." (S. 315)

G.W. Pabst ist Filmregisseur. Bekannt wurde er mit Stummfilmen, etwas schwerer tut er sich mit der Inszenierung des neu aufkommenden Tonfilms. Weil er als Kommunist gilt und die Nazis in Deutschland immer mehr Macht gewinnen, versucht er sein Glück in den USA. Dort wird er dazu überredet, ein schlechtes Drehbuch zu verfilmen, bei dem er sofort weiß, dass es ein Flopp werden wird – nach nur einer Woche Spielzeit wird der daraus entstandene Film aus den Kinos genommen. Nachdem ihm in Frankreich ein Angebot gemacht wurde, kehrt er nach Europa zurück, doch durch die zugespitzte politische Lage, wird er auch hier nicht erfolgreich. Als er mit seiner Frau und seinem Kind zurück nach Amerika will, erhält er einen Hilferuf seiner betagten Mutter aus der Steiermark. Schnell noch will er dafür sorgen, dass sie in einem Sanatorium untergebracht wird und fährt dafür in seine Heimat. Unglücklicherweise beginnt just zu dieser Zeit der Zweite Weltkrieg, der verhindert, dass Pabst und seine Familie Nazi-Deutschland verlassen können. Sogleich wird er vor die Wahl gestellt: entweder er dient dem Nazi-Regime als Filmemacher, um die Menschen bei Laune zu halten, oder sein Weg und jener seiner Familie führt ins KZ. Nach anfänglichem, innerem Widerstand beugt er sich und versucht, das Beste aus seiner Lage zu machen. Immer mehr gewöhnt er sich an die neuen Umstände, seine Frau Trude jedoch scheint daran zu zerbrechen. Pabst versetzt sich in einen Wahn, der die Wirklichkeit nach und nach verdrängen zu scheint.

Daniel Kehlmann kreiert in „Lichtspiel“ neuerlich eine gekonnte Mischung aus Fiktion und Realität. Er führt die Leser:innen mit einer multiperspektivischen Erzählweise an die reale Figur G.W. Pabst heran und zeichnet dabei einen Charakter, der mehr und mehr den Realitätssinn verliert. Die Person G.W. Pabst fokussiert sich auf das Erschaffen des perfekten Films, was ihm den Terror des Regimes vergessen oder verdrängen lässt. Schnell weiß er, was gesagt und was nicht gesagt werden darf. Während Pabst sich darauf einlässt, scheint seine Frau Trude daran zugrunde zu gehen. Pabst versucht immer mehr so unpolitisch wie möglich zu sein, für ihn zählt nur, dass er den perfekten Film macht. Beim großen Showdown kann er die Realität nur noch als Film wahrnehmen und als ihm ein großes Unglück passiert, flieht er in sein eigenes Ich, das ihn fortan von der Außenwelt abzuschotten scheint. Die Protagonist:innen, die Kehlmann vors Publikum holt, sind meist namhafte Schauerspieler:innen und Filmschaffende, die meisten davon gab es in der Realität. In gekonnter Manier überspitzt er ihre Charakterzüge und lässt sie dadurch allesamt als schrullige Personen auftreten. Trotz der Schwere und Bedrückung, die die Existenz des Nazi-Regimes verbreitet, kehrt durch die Besonderheit der Figuren eine amüsante Leichtigkeit beim Lesen ein, die gewagt und sicher nicht jedermanns oder jederfraus Geschmack ist. Besonders die fiktive Figur des Hausmeisters und seiner Familie auf Pabst Schloss in Tillmitsch ist eine Allegorie des Schreckens des Nazi-Regimes und lässt einen die Unmöglichkeit des Entkommens nur allzu gut nachfühlen. Die fortschreitende Wahnhaftigkeit führt dazu, dass Pabst jegliche Moral vergessen zu scheint, er blockt sich nach Außen ab und lässt es auch nicht zu, dass sein unmoralisches Handeln kritisiert wird. Die Wahnhaftigkeit eskaliert und von Pabst bleibt nur mehr die unzugängliche Hülle übrig und seine Frau übernimmt nun die Regie über ihre Leben. Am Schluss war ich beim Lesen so erschöpft, dass ich mir das Ende des Buches dringlichst herbeiersehnt hatte.

Meines Erachtens ist Daniel Kehlmann ein weiteres Meisterwerk gelungen, das es trefflich versteht, die innerliche Zerrissenheit über die gesellschaftlichen Gegebenheiten durch eine komplette Realitätsverweigerung darzustellen. „Lichtspiel“ zu lesen ist teils erheiternd, teils enorm bedrückend, teils kaum auszuhalten und doch eine irrsinnige Bereicherung.

Bewertung vom 01.10.2023
Kajzer
Kaiser, Menachem

Kajzer


gut

Ambivalenz und Aufarbeitung

„[…] wogende Hügel, fette Heuballen, Berge in der Ferne. Ein paar große moderne Häuser, weit genug auseinander, um als Teil der Szenerie durchzugehen. Es fühlte sich vertraut an, oder vielleicht meine ich nicht vertraut, sondern erwartet: So sieht ein Ort mit der schrecklichsten Geschichte aus, so etwas geschieht, wenn die Zeit sich darüber hergemacht hat. Je düsterer die Geschichte, desto opulenter die Landschaft? Schotterwerk hatte zumindest elf Baracken und beherbergte mindestens 1250 Häftlinge. Ich blieb nicht länger; das Malerische verstimmte mich.“ (S. 235)

Menachem Kaiser, kanadischer Autor mit Jüdischen Wurzeln, macht sich auf, die Geschichte seiner Familie zu ergründen. Schnell gerät sein Großvater, den er nie kennengelernt hatte, in den Fokus seines Interesses. Wenig weiß er über ihn, doch plötzlich findet er heraus, dass sich der Vater seines Vaters über 20 Jahre darum bemüht hatte, Restitution für ein Haus in einer polnischen Stadt, welches die Familie durch die Shoa verloren hatte, zu erlangen. Hier beginnt die abenteuerliche Reise, die den Autor zahlreiche Male nach Polen führt; die ihn wundersame Menschen treffen; die berührende Geschichten über seine Verwandtschaft zutage treten und die ihn die schrecklichste aller Geschichten ein Stück weit aufarbeiten lässt.

Die Erzählung über seine Familie und die Idee seines Großvaters, das Haus in Polen wieder in Familienbesitz zurückzuholen, wiederaufzunehmen und selbst dabei sein Glück zu versuchen, beginnt spannend und kurzweilig. Immer wieder lässt der Autor die Leser/innen an seinen teils philosophischen und moralischen Gedankengängen teilhaben. Es ist durchaus erhellend mitzuverfolgen, wie er sich in Polen auf Spurensuche begibt, die Bewohner/innen des mutmaßlichen Familienhauses kennenlernt und sich mit dem Polnischen Justizsystem durchschlägt. Doch dann, nach rund 60 Seiten, beginnen weitere knapp 100 Seiten, die mich fast zur Aufgabe getrieben hätten. Für meinen Geschmack viel zu ausführlich beschreibt er Begegnungen mit sogenannten Schatzsuchern, die eine Obsession mit einem mysteriösen, unterirdischen Nazi-Bauwerk, genannt „Riese“, entwickelt haben und ihr Leben scheinbar der Schatzsuche in diesem Gebilde verschrieben haben. Kaiser fühlt sich wohl von ihnen angezogen als auch abgestoßen zugleich – die Faszination muss aber doch so stark gewesen sein, dass er es wert fand, beinahe 100 Seiten über sie zu schreiben. Warum dies so ausführlich geschehen musste und was das zum Fortgang der Geschichte, die er erzählen mag, beigetragen hat, ist mir nach (doch noch geschaffter) Beendigung des Buches überhaupt nicht klar. Ein kurzes Kapitel darüber wäre meines Erachtens ausreichend gewesen. So habe ich das Buch genommen, ein paar Seiten gelesen, es aus Langeweile wieder weggelegt, pflichtbewusst wieder aufgenommen – und nach kurzer Zeit wieder weggelegt. Immer und immer wieder habe ich mir gedacht, ich muss dem Buch noch eine Chance geben. Und nachdem die Ergüsse über die Schatzsucher ein Ende nahm, wurde ich belohnt: es wurde wieder lesbar! Wie ein Detektiv ergründet er die Geschichten seiner Verwandtschaft – besonders jene von Abraham, einem Cousin seines Großvaters (auf den er zugegebenermaßen durch die Schatzsucher gekommen ist) – seine Erlebnisse sind berührend und unergründlich zugleich. Das Ende des Buches finde ich jedoch irgendwie wieder unbefriedigend. Für mich wirkt es nicht abgerundet – eine Sache bleibt unabgeschlossen – ich möchte hier nicht spoilern, aber er hätte mit dem Abschluss des Buches ruhig noch den Ausgang abwarten können. Auch wenn das noch 20 Jahre gedauert hätte, die erzählte Geschichte hat nichts an Dringlichkeit.

Für mich ist das Buch sehr ambivalent – einerseits hochspannend und stilistisch gut geschrieben, andererseits nervtötend und das Ende nicht zufriedenstellend. Der Autor lässt einen in die Jüdische Lebenswelt eintauchen, bringt den Lesenden aber auch seine Wahrnehmung der Polnischen Gesellschaft näher und gibt Einblicke in den Umgang mit deren Nazi-Vergangenheit. Ich bin überzeugt, dass es bessere Bücher über die Spurensuche in die Jüdische (Familien-)Vergangenheit gibt, nichts desto trotz hat „Kajzer“ seine interessanten und bereichernden Seiten.

Bewertung vom 28.09.2023
Der Wald
Rode, Tibor

Der Wald


ausgezeichnet

Das geheime Leben der Pflanzen

"Haben die Menschen die Natur erschaffen, oder hat die Natur den Menschen erschaffen? Hat die Pflanze weniger Berechtigung, auf diesem Planeten zu leben, als der Mensch? Insbesondere wenn man bedenkt, dass sie offenbar in der Lage ist, sich gegen andere Pflanzen und sogar den Menschen evolutionär zu behaupten?" (S. 280)

Wir befinden uns in einer Dystopie: überall auf der Welt wuchert eine unbekannte Pflanze in rasanter Geschwindigkeit, sie vernichtet alles, was um sie herum wächst und ist auch für Menschen lebensbedrohlich. Sie vereint alle Eigenschaften von den unterschiedlichen Pflanzengattungen und es scheint, als wäre sie unzerstörbar. Im Kampf gegen die Ausbreitung der Pflanze begleiten wir drei Hauptprotagonist:innen: den Pflanzen-Neurobiologen Marcus Holland, der versucht die Pflanze zu verstehen, um ihrer so Herr zu werden; die Archäobotanikerin Waverly Park, die unwissentlich daran beteiligt ist, die „Teufelspflanze“ überhaupt erst zu ihrer Existenz zu verhelfen; und die Informatikerin Ava, die an einem Forschungsprojekt im Kanadischen Urwald arbeitet, das schlussendlich mehr mit der Pflanze zu tun hat, als zu Beginn angenommen werden kann. In einer Reise um den Globus trifft wissenschaftlich Gutes auf kapitalistisches Böses, spielt die Geschichte der Erde und die Geschichte der Illuminaten sowie der Blick in die Zukunft der Künstlichen Intelligenz eine zusammenhängende Rolle und letztendlich ist – fast – nichts so, wie es scheint.

Der Biothriller ist rasant im Tempo und durchgehend spannend, es ist mir sehr schwer gefallen das Buch wegzulegen. Immer wieder tauchen neue Aspekte und Wendungen in der Story auf, die größtenteils unerwartet sind. Tibor Rode schafft es gesellschaftliche Fehlentwicklungen in einer dystopischen Geschichte aufzuzeigen und komplexe Lebewesen zu thematisieren, die in unserer Gegenwart im Bewusstsein eine viel zu untergeordnete Rolle spielen: Pflanzen. Wie das oben angeführte Zitat aus dem Roman darlegt, regt die Entwicklung der Geschichte die Leser:innen dazu an, die gesellschaftlichen Gegebenheiten zu hinterfragen. Es wird ein Bild gezeichnet, das sich durchaus in unserer Welt ereignen kann – eine neue Bedrohung, die die Menschheit in ihrer Existenz bedroht. Es eröffnet einen Horizont, der zugleich realistisch als auch utopisch bzw. dystopisch erscheint.

So fesselnd die Geschichte auch ist, hat das Buch auch seine Schwächen. Einige Geschehnisse sind für die Geschichte völlig unnötig und es ist schwer nachvollziehbar, weshalb diese eingeflochten wurden – der Autor hätte diese schlicht sein lassen können (beispielsweise eine kurz nebenbei erwähnte Liebesgeschichte). Bei anderen Wendungen fragt sich eine, weshalb sie eingebaut wurden, weil sie als ziemlich unrealistisch und für die Story unrelevant erscheinen. Ich möchte nicht näher darauf eingehen, um nicht zu spoilern, aber der Austausch mit anderen Lesenden hat mich in dieser Ansicht nur bestätigt. Teilweise ergeben gewisse Entwicklungen einfach keinen Sinn. Anderes bleibt unerklärt und hinterlässt eine mit dem Gefühl, dass Erklärungen fehlen.

Nichtsdestotrotz spreche ich für „Der Wald“ eine absolute Leseempfehlung aus! Es ist eines der spannendsten Bücher das ich seit langer Zeit gelesen habe und der Autor schafft es, eine so zu fesseln, dass es schwer ist, das Buch wegzulegen und nicht darüber nachzudenken! Er zeichnet eine absolut realistische Dystopie, bei der nur gehofft werden kann, dass sie niemals so eintritt. Ihm gelingt es, dass sich die Lesenden über die derzeitigen global-gesellschaftlichen Entwicklungen hinterfragende Gedanken machen und dazu anzuregen, etwas für die Verbesserung im Umgang mit der Natur zu tun!

Bewertung vom 14.09.2023
Als wir an Wunder glaubten
Bürster, Helga

Als wir an Wunder glaubten


ausgezeichnet

Der Weltuntergang, der nicht kam

"In den Nachbardörfern ist die Welt auch schon untergegangen, aber keiner hat's gemerkt." (S. 13)

1949: Es ist eine Welt zwischen den Welten - in Unnenmoor tickt die Zeit noch anders. Es gibt kaum Strom, überall herrscht Armut und das einzige Telefon ist im Dorfwirtshaus zu finden. Die Menschen leben fest mit dem Moor verbunden, weit verbreitet ist der Glaube an Hexerei und die Moorgeister. Stetes Misstrauen beherrscht das Denken der Dorfbewohner/innen. Das bekommt auch Edith zu spüren, die mit ihren roten Haaren prädestiniert dazu ist, als Hexe verunglimpft zu werden. Besonders Fritz, der Dorfquaksalber, hat es auf sie abgesehen und hetzt ihre ehemals beste Freundin, Anni, und deren vom Krieg stark gezeichneten Mann Josef, aufs Übelste gegen sie auf. Doch Edith glaubt an das Gute und kämpft mutig - gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Theo und ihrer jugendlichen Tochter Betty - gegen die gesponnenen Intrigen an.

Helga Bürster entführt uns in "Als wir an Wunder glaubten" in einen mystischen Mikrokosmos der Nachkriegszeit in der Peripherie, der gleichermaßen brutal wie auch liebenswert ist. Ihren Schreibstil empfand ich als kühl, hart und distanziert, gleichzeitig schaffte sie es aber auch, mich durch die doch vorhandene Herzlichkeit und Wärme einzufangen. Stilistisch erinnerte mich "Als wir an Wunder glaubten" ob der besonderen Atmosphäre an den Schwedischen Schriftsteller Torgny Lindgren. Das Buch liest sich wie ein zeitgeschichtliches Märchen, die Protagonist/innen sind einfach, aber doch komplex gestrickt, die Moral steht stetig als verhandelbare Instanz an der Seite. Der Wahn, der manchen der Figuren innenwohnt, ist greif- und, aufgrund der dunklen Vergangenheit und den damit verbundenen schrecklichen Erlebnissen, nachvollziehbar. Die Natur hat im Roman einen ganz speziellen Stellenwert - das Moor scheint für die Menschen im Dorf eine besondere, magische und zugleich schöne wie auch schreckliche Macht zu sein, die aber letztendlich durch den Fortschritt in ihrer Existenz bedroht ist. Kontinuierlich wird die Vergangenheit und die Zukunft des Dorfes verhandelt, vermutlich um die Gegenwart zu verdrängen. Über allen Charakteren steht die Schuld, die sie im Nationalsozialismus durch aktive Teilnahme oder passive Ignoranz auf ihre Schultern geladen haben - doch gesprochen wird darüber nicht. Die Atmosphäre des Romans ist getragen von Negativität, dem Bösen und dem Unerklärlichen, die durchbrochen werden von dem Glauben an die Zukunft. Die Protagonist/innen sprechen oft in Plattdeutsch, was unübersetzt bleibt, aber so eingebaut wurde, dass es verständlich bleibt. Das spezielle Stil hat es mir anfänglich sehr schwer gemacht, in die Geschichte hineinzufinden, doch je weiter sie voran schreitet, desto fesselnder wurde sie. So schmerzlich es auch ist, die Ungerechtigkeit, die sich die Menschen selbst aufbürden, auszuhalten, so schön und bereichernd ist es, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu begleiten.

Mein Fazit: ein absolut lesenswerter Roman, der etwas Zeit braucht um zugänglich zu werden. Getragen wird er durch eine mystische, düstere Stimmung, über der aber immer Hoffnung schwebt. "Als wir an Wunder glaubten" ist keine Lektüre wenn sich der oder die Leser/in nach einem heiteren, kurzweiligen Roman sehnt, aber umso lohnenswerter, wenn einer/m nach Literatur mit Anspruch zu mute ist.

Bewertung vom 10.09.2023
Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne
Scherzant, Sina

Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne


ausgezeichnet

Vom Sehen und gesehen werden

"Ohne es zu wissen, lechzte ich offensichtlich danach, gesehen zu werden, und die Sehende zu teilen kam nicht infrage."

Katha ist vierzehn und nicht nur ihr Alter garantiert Umbruch, sondern auch das Leben, das sie nicht beeinflussen kann. Ihre Eltern trennen sich, sie ziehen mit Mutter und Schwester in eine neue Stadt und sie hat viel damit zu tun, es allen recht zu machen. Ihre Mutter versinkt in Selbstmitleid, ihre Schwester rebelliert biestig, aber liebenswürdig gegen alles und jeden. In der neuen Schule findet sie auf Anhieb Anschluss, weil sie es perfekt beherrscht, sich einzufügen. Durch ihre neue Clique kommt es zu einer Begegnung, die ihr ganzes Leben, ihre ganze Identität auf den Kopf stellen wird: Angelica, die Mutter der Cliquen-Anführerin Sofie, ist anders; rebellisch, unangepasst, bunt, Frauen liebend. Und sie ist die Erste, die Katha scheinbar sieht.

Sina Scherzant erzählt in "Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne" eine vielschichtige, einfühlsame und feministische Geschichte vom Erwachsenwerden, vom Sich-Finden und vom Empfinden tiefer Verbundenheit, die sich nicht kategorisieren lässt. Haarscharf analysiert sie das Komplizierte an Beziehungen, an Freundschaft, Liebe und der eigenen Identität, verpackt es in einer auto-fiktionalen Erzählung und schafft es gekonnt, die Protagonistin zum Wachsen zu bringen. Die Geschichte ist packend von der ersten Zeile weg, sofort ermöglicht es die Autorin sich in Katha hineinzuversetzen. Die Lesenden fühlen die Zerrissenheit und die Forderung endlich gesehen zu werden; das Für und Wider es allen stets recht zu machen - und den Ausbruch daraus. Der Schreibstil ist kurzweilig und herausfordernd zugleich, denn philosophische und gesellschaftskritische Gedanken begleiten stets den Fortgang der Geschichte. Zwischendurch, in einer Phase der Trauer, werden die Gedanken so selbstzerstörerisch, dass es beinahe unaushaltbar ist. Aber darin liegt die große Stärke des Geschriebenen, denn auch dieser Prozess ist nachvollziehbar und nachfühlbar. Und schließlich versöhnt uns die Autorin mit der Trauer und der Tatsache, dass sich das Leben weiterentwickelt.

Sina Scherzant ist ein ganz großer, einfühlsamer und feministischer Debütroman gelungen, der lange nachhallen wird und es definitiv verdient hat, (mindestens) ein weiteres Mal gelesen zu werden!

Bewertung vom 26.08.2023
Hinter der Hecke die Welt
Molinari, Gianna

Hinter der Hecke die Welt


ausgezeichnet

Wow - was für ein Buch! In den 176 Seiten (E-Book) passiert kaum etwas, trotzdem ist das Lesen dieser Geschichte eine enorm wohlig-traurige Bereicherung!

"Hinter der Hecke die Welt" ist eine Erzählung, die einerseits greifbar macht, wie der Mensch die Erde Untertan macht und unwiederbringbar verändert. Anhand der Reise mit einem Expeditionsschiff in die Arktis und der Protagonistin Dora, die sich an eine unbekannte Welt herantastet und doch deren Veränderungen spürt, wird der Eingriff der Menschheit auf die Natur veranschaulicht. "Vielleicht, sagen sie, gibt es oben im Norden unter dem nun nicht mehr ewigen Eis noch Stellen, die kein Mensch je sah. Vielleicht ist in der Arktis noch mehr Arktis als Mensch."

Andererseits utopisiert und/oder dystopisiert Molinari den Untergang eines Dorfes, das sich kontinuierlich im Schrumpfen befindet; mit all dem Leerstand, der Dorfkasse und den wenigen verbliebenen Menschen, die immer noch weniger werden. Aber auch der Stillstand kommt vor, der nicht sein darf und deshalb akribisch untersucht wird. Nur die Hecke wächst unweigerlich und wird zu DER Touristenattraktion, der einzigen weit und breit. Bis zu einem Ereignis, das dazu führt, dass auch die Besucher*innen ausbleiben... Hier im Mittelpunkt sind die nicht mehr wachsenden Kinder Pina (Doras Tochter) und Lobo, die das Dorf und die Vorgänge darin intensiv und philosophisch betrachten. "Pina und Lobo fragten sich, ab wann ein Dorf als Dorf bezeichnet werden kann. [...] Sie standen auf dem Hügel und hielten sich die Hände so vor das Gesicht, dass sie Teile des Dorfes verdeckten, und überlegten sich, ob das Dorf auch dann noch ein Dorf war, wenn Lobos Haus wegfiel, der Schuppen daneben oder der Steg am Teich."

Um einzelne Gedanken der Protagonist*innen zu unterstreichen, sind Skizzen eingefügt, was der Erzählung auch einen humorvollen Aspekt zukommen lässt. Der Schreibstil ist fast kindlich, die Gedanken oft im Konjunktiv gehalten, was der ganzen Geschichte zusätzliche Phantasterei und magischen Glanz verleiht.

"Hinter der Hecke die Welt" ist sicher kein Buch für jedermann oder jedefrau! Wer ein außergewöhnliches, märchenhaftes Flair in der Gegenwart schätzt, das mit traurig anmutender Gesellschaftskritik und philosophischen Gedankengängen gepaart ist, findet hier jedoch ein Goldstück!

Bewertung vom 24.08.2023
Wellenkinder
Bahrow, Liv Marie

Wellenkinder


sehr gut

Spannend bis zum Schluss, aber etwas schnulzig

In "Wellenkinder" verfolgen wir drei unterschiedliche Menschen - Jan, Oda und Margit. Jan ist scheinbar der Protagonist der Gegenwart, wir erfahren, dass er Eheprobleme hat, aber alles dafür tun will, seine Frau zurückzugewinnen. Oda ist auf der Flucht vor dem DDR-Regime, wird aber dabei erwischt und gefangengenommen. Unklar ist, was mit ihrem in ihr heranwachsenden Kind passieren wird. Und dann ist da noch Margit, ein Mädchen, das auf einem Flüchtlingsschiff im 2. Weltkrieg ein Waisenkind an sich nimmt und versucht, es als Geschwisterchen aufzuziehen. Je weiter die Geschichten gesponnen werden, desto klarer wird, dass sie irgend etwas miteinander zu tun haben müssen. Die drei Fäden werden langsam zu einem und bis kurz vor dem Ende bleibt offen, wie eng sie miteinander verwoben sind.

Die Autorin schafft es die Spannung bis ans Ende aufrecht zu erhalten. Immer wieder treffen unerwartete Ereignisse oder Erklärungen ein. Die einzelnen Charaktere sind so beschrieben, dass die Leserin oder der Leser sich gut in sie hineinversetzen kann. Besonders bei Odas Leid als Gefangene im DDR-Regime glückt es der Autorin ihren Schmerz absolut nachvollziehbar zu machen. Was mich allerdings etwas genervt hat, war die pathetische Liebe, die die jeweiligen Protagonist/innen für jemanden empfanden - immer wieder wird in überschwänglicher Art und Weise betont, wie das Herz der Figur zerspringt oder für jemanden schlägt - für meinen Geschmack etwas zu viel des Guten. Das hat für mich leider die unterschiedlichen Charaktere, die an und für sich schon unterschiedlich ausgearbeitet waren, doch wieder irgendwie gleich werden lassen.

Mein Fazit: Wellenkinder ist ein spannender, unterhaltsamer und kurzweiliger Roman, der sich über die deutsche Zeitgeschichte streckt, absolut lesenswert, aber insgesamt etwas zu schnulzig geraten ist.