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Top-Rezensenten Übersicht

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Kwinsu
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Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 121 Bewertungen
Bewertung vom 24.10.2024
9 Grad
Kolb, Elli

9 Grad


ausgezeichnet

Plötzlich ist alles anders: Josies beste Freundin Rena wird schwer krank und beginnt ihr komplettes Leben in Frage zu stellen. Gleichzeitig lernt Josie Lee kennen, bei dem sie sich unglaublich wohl fühlt, doch er kämpft akut mit einer schweren Depression, was ihren Beziehungsanfang kompliziert macht. Josie selbst hat wenig Selbstbewusstsein, besonders was ihren Körper betrifft. Doch das Schwimmen im kalten Fluss beschert ihr ein ganz neues Lebensgefühl.
Elli Kolb ist mit "9 Grad" ein berührendes, authentisches und zeitgeistiges Buch gelungen, das wunderbar aufzeigt, mit welchen Problemen junge Menschen heutzutage kämpfen müssen. Hier werden Themen behandelt, die woanders oft ausgespart werden - extrem schmerzhafte Regelschmerzen, die nahe ans Delirium führen; psychische Erkrankungen, die für den Betroffenen schwer zu fassen und kaum erklärbar sind; stark überhöhte Erwartungshaltungen, die die eigenen Bedürfnisse kaum berücksichtigen und schließlich auch gestörte Körperwahrnehmungen, die durch gesellschaftlichen Druck verursacht werden und das Selbstwertgefühl nicht wachsen lässt. Es sind viele Themen, die angesprochen werden, jedes mit unterschiedlicher Tiefe, was wiederum ein Zeichen der Zeit ist – bei alledem, was alle zu sein, zu wissen, zu tun, zu leisten haben, bleibt nicht immer Raum für Tiefgründigkeit.

Vor allem ist „9 Grad“ aber ein Roman über Freundschaft und Beziehungen, in all ihren Schwierigkeiten und Komplexitäten. Die Ich-Erzählerin, Josie, struggelt mit vielem, hinterfragt viel, vor allem sich selbst und orientiert sich stets an dem verlässlichsten Menschen in ihrem Leben – Rena. Als diese krank wird, beginnt auch sie ihr Leben zu überdenken. Das Baden im 9 Grad kalten Wasser ist ihr Weg, zu sich selbst zu finden, sich selbst und ihren Körper wieder zu spüren, um danach wieder klar zu sein. Sie geht dabei auch über Grenzen und ihre Freundschaften spiegeln ihr unmissverständlich ihre Torheit wieder. Überhaupt – wie hier Freundschaft beschrieben wird, mit Höhen und Tiefen, mit Ausverhandlungen, Streitigkeiten, aber auch innigem Vertrauen, Zuneigung, Spaß, eingehende Auseinandersetzung und Reflexion des Gegenübers, ist genauso herzerwärmend wie treffsicher. Die Figuren im Roman entwickeln sich im Laufe der Geschichte immer weiter und verstehen schlussendlich, dass Loslassen auch ein wichtiger Schritt zur Weiterentwicklung ist.

Mein Fazit: „9 Grad“ ist ein Roman über Freundschaft und Beziehungen – zu anderen und zu sich selbst. Mit äußerst angenehmem Schreibstil porträtiert die Autorin hervorragend beobachtend und authentisch den Zeitgeist und die vielen Facetten der zwischenmenschlichen Interaktion. „9 Grad“ ist eines meiner Lesehighlights aus diesem Jahr und ich kann dieses schöne Buch nur wärmstens empfehlen!

Bewertung vom 20.10.2024
Das große Spiel
Powers, Richard

Das große Spiel


gut

Vier Protagonist:innen, die im Laufe der rund 500 Seiten auf vielen Zeit- und Irrwegen zueinanderfinden. Im Zentrum steht der Ozean, aber er ist nur ein kleiner roter Faden durch die Geschichte.
Rafi - ein hochintelligenter, bibliophiler junger Schwarzer, der aus seinem sozialen Milieu ausbricht. Todd, der sein Freund wird, obwohl seine Herkunft nicht unterschiedlicher sein könnte. Sie beide verbindet eine seltsame Art der Freundschaft, die vor allem durch gemeinsames Spielen getragen wird. Diese endet, als der Ernst des Lebens beginnt, doch die intensive gemeinsame Zeit soll sie noch lange beschäftigen. Die Künstlerin Ina wohnt und schafft auf der kleinen französisch-polynesischen Insel Makatea und sieht, wie die Übermacht des Menschen die Natur zerstört. Die Kanadierin Evie lebt für das Tauchen in den Ozeanen, um ihre faszinierenden Geschöpfe kennen- und verstehen zu lernen. Alle sind Teil der großen Veränderungen unserer Zeit. Und ihre Schicksale hängen stärker zusammen, als es möglich schien.

Ich bin mir nach wie vor nicht sicher, wie ich Richard Powers "Das große Spiel" fassen kann. Das Ende ist atemberaubend und lässt mich etwas ratlos, aber euphorisiert zurück. Der Weg dorthin hatte für mich aber teilweise extreme Längen, die auch mit Langeweile und Unmut verbunden waren, sodass ich zwischendurch immer wieder zu einem anderen Buch greifen musste.

Der Schreibstill Powers ist sensationell - wunderschön, philosophisch und stellenweise tiefberührend. In der Erzählung wird zwischen den Protagonist:innen abgewechselt. Todd spricht direkt zu den Lesenden, die anderen Figuren werden aus dritter Person erzählt. Ich habe bei "Das große Spiel" bemerkt, dass ich mit zwei Erzählinhalten nicht sonderlich viel anfangen kann: religiöse Welten - auch wenn es wie in diesem Fall Naturreligionen sind - sowie kapitalistische Narzissten. Beide Erzählstränge (Todd & die Inhalte auf Makatea) fand ich immer wieder sehr mühsam zu lesen, besonders weil sie ziemlich ausschweifend beschrieben werden.

Voll in den Bann gezogen hat mich hingegen die Erzählung um Evie - ihre Beschreibungen der Tauchgänge, was sie dort sieht und fühlt, waren für mich zu tiefst berührend und ich konnte mich zu hundert Prozent in die Figur hineinfühlen. Auch ihre schwierige Beziehung zu anderen Menschen, allem voran ihrem Mann und ihren Kindern, sind absolut nachvollziehbar. Der Aufbau der Freundschaft zwischen Rafi und Todd fand ich ebenfalls gut gelungen, auch weil sie wechselseitig zwischen Todd als Erzähler und der distanzierteren Beschreibung von Rafi geschildert wurde. Der plötzliche Bruch, den die Beziehung der beiden erlitt, kann ich ehrlich gesagt nicht wirklich nachvollziehen. Zudem gibt es einen weiteren Protagonisten - den Bürgermeister von Makatea, der eine wesentliche, wenn auch keine verbindende Rolle in der Geschichte spielt. Seinen Unmut gegen sein eigenes Amt und den damit einhergehenden, zu treffenden Entscheidungen fand ich erfrischend und mitunter sogar lustig.

Die zeitlichen Sprünge sind teilweise so unverhofft, dass es einige Zeilen oder auch Seiten dauerte, bis ich sie halbwegs zuordnen konnte und stellen oft einen Bruch in der Geschichte dar, der für mich ab und an zu konstruiert und unnötig wirkte. Wenig nachvollziehen konnte ich die Gewichtung des Erzählten - weshalb wir z.B. zwar viel über die Entwicklung der Freundschaft von Todd und Rafi und Todds weiteren Werdegang erfahren, allerdings kaum etwas über das Post-Freundschaftsbruch-Leben von Rafi und Ina. Beide bleiben für mich im gesamten leider zu wenig gezeichnete Figuren.

Mein Fazit: "Das große Spiel" besticht mit einer großartigen Sprache und einer interessanten Storyline, die leider immer wieder durch langatmiges Erzählen unterbrochen wird. Die Charaktere werden unterschiedlich ausgearbeitet, die Gewichtung des Erzähltes konnte nicht immer nachvollzogen werden. Trotz einiger Schwachpunkte werden mir die Szenen mit der Taucherin Evie und dem nachhallenden Ende noch lange in Erinnerung bleiben.

Bewertung vom 01.10.2024
Aus dem Haus
Böttger, Miriam

Aus dem Haus


gut

"Aus dem Haus" portraitiert das Leben der Eltern einer namenlosen Erzählerin. Beide sind stets unzufrieden mit dem was ist und mit dem was war, doch je ferner die Erinnerung zurück liegt, desto besser war sie dann doch. Im Mittelpunkt des Unmuts steht das HAUS, das sie errichten ließen, das ihnen von Anfang an nicht genügte, das nur Unglück mit sich brachte.

Der Schreibstil von Miriam Böttger ist grundsätzlich eingänglich und gut zu lesen. Trotzdem ist es mir immer wieder passiert, dass ich ganze Seiten wiederholt lesen musste. Einerseits aufgrund einer gewissen Belanglosigkeit des Erzählten, andererseits weil die vielen Schachtelsätze nicht unanstrengend sind. Die Geschichte könnte lustig sein und sich auch so lesen, wäre es nicht so unendlich traurig, dass eine Existenz scheinbar alleinig auf dem Unzufriedensein beruht. Die Mutter - die zentrale Figur in diesem Buch - ergibt sich ihrem Unglück mit leidenschaftlichem Enthusiasmus und gesteht mit ihrer snobischen und durchaus herrischen Art ihrem Ehemann kein Eigenleben ein. Wenn nicht explizit mehrfach auf die von der Hauptfigur so bitterlich gehassten Stadt Kassel hingewiesen worden wäre, könnte man meinen, es wird in dem Buch eine österreichische Familie karikiert (bei uns in Österreich nennt man diese sehr typische Verhaltensweise "Sudern").

Doch es gibt auch einen ernsten Hintergrund - die Mutter dürfte an einer psychischen Erkrankung leiden, vermutlich einer Depression, die es ihr oft nicht ermöglicht das Bett zu verlassen oder sich an etwas zu erfreuen. Da sie mit ihrer negativen Art ihr ganzes Umfeld vergiftet, ist es mir allerdings nicht gelungen, Mitleid mit ihr zu empfinden. Der Vater hingegen scheint gefangen von dem weit geworfenen Schatten seiner Frau und entwickelt kaum ein Eigenleben. Ihn musste ich bedauern, was aber dem klischeehaften Bild der hysterischen Frau in die Hände spielt. Über die Erzählerin erfahren wir kaum etwas, nur einzelne Häppchen werden den Lesenden vor die Füße geschmissen, ein richtiges Mahl wird daraus aber bis zum Schluss nicht.

Am Ende bleibt das "Warum". Warum war das HAUS so falsch und warum wollten sie dann doch nicht ausziehen? Warum kann es nur sein, dass jemand so unzufrieden ist? Warum trennten sich "die Hohepriesterin des Unglücklichseins und ihr stets williger Gehilfe", wie sie die Autorin auf S. 218 selbst benennt, bei all dem Elend ihrer Ehe nicht? Und generell: Warum wurde dieses Buch geschrieben? Warum war ich nicht permanent genervt?Warum hat es mir doch ein bisschen gefallen es zu lesen? Ich weiß es nicht. Um mit dem Schlusssatz der Autorin zu enden: "Es ist, was es ist."

Bewertung vom 01.10.2024
Dudenkonform gendern ohne Genderzeichen

Dudenkonform gendern ohne Genderzeichen


ausgezeichnet

"Dudenkonform gendern ohne Genderzeichen - eine Anleitung" ist ein kurzes Handbuch zum Gendern der beiden Autorinnen Andrea Görsch und Katja Rosenbohm, das nicht nur äußerst praktisch, sondern auch informativ und gedankenanregend ist. In kurzen Kapiteln bieten die Autorinnen verschiedene Möglichkeiten, wie Sonderzeichen beim Gendern vermieden werden können und zeigen leicht verständliche Beispiele auf. Zu jedem Vorschlag liefern sie auch die Vor- und Nachteile der jeweiligen Ausdrucksweise. Im hinteren Teil des Buches finden sich auch zahlreiche Übungen samt Lösungsvorschlägen, bei denen gleich selbst erprobt werden kann, was zuvor gelehrt wurde. Zudem liefert es auch hervorragende Argumente, weshalb Gendern richtig und wichtig ist. Außerdem gibt es genügend Raum für eigene Notizen.

Ich bin von diesem Handbuch sehr angetan, weil es kurz und prägnant tolle Alternativen für gelingendes Gendern bietet, das vielen Widerrednern und Gegnerinnen der geschlechtergerechten Formulierungen den Wind aus den Segeln nimmt. Auch grafisch ist es sehr ansprechend und übersichtlich gestaltet und die große Schreibweise des Textes baut Barrieren ab. Ich habe das Buch schon im Freundeskreis herumgezeigt und bin auf viel positive Resonanz und Begeisterung gestoßen. Ich kann es nur allen empfehlen, die gerne abwechslungsreich und inkludierend Schreiben und offen für neue Denkanstöße und alternative Schreibweisen sind.

Bewertung vom 30.09.2024
Das Haus in dem Gudelia stirbt
Knüwer, Thomas

Das Haus in dem Gudelia stirbt


ausgezeichnet

Gudelia sieht das Leben an ihr vorbeifließen. In einer tragischen Flut schwimmen nicht nur hunderte von Schweinen an der über-80-Jährigen vorbei, sondern auch Menschenleichen. Alle haben das Dorf verlassen, nur Gudelia bleibt in ihrem geliebten Haus. Schließlich verbirgt sich dort ein wohl gehütetes Geheimnis, das nicht ans Licht kommen sollte...

Thomas Knüwer gelingt mit "Das Haus in dem Gudelia stirbt" ein schwarzhumoriger und kurzweiliger Debutroman, der im Entfernten an einem Krimi erinnert, in Wahrheit aber die jahrelange, festsitzende Trauer der Hauptprotagonistin nachzeichnet. Sie hat vor vierzig Jahren ihren Sohn verloren und ist über dessen Tod nie hinweggekommen. In drei Erzählzeiten, nämlich 1984, 1998 und 2024, erfahren wir mehr über das Leben der alten, eigenwilligen Dame, die auf den ersten Blick bösartig erscheint, eigentlich aber ob der ihr passierten Schicksalsschläge eine gebrochene Frau ist. Sie wirkt hart, berechnend und zielstrebig, in ihr weilt aber eine zarte Seele, die sie mit aller Macht verdrängen möchte. Der Autor legt viele Fährten, um den Lesenden genügend Stoff zum Spekulieren um das Geschehene zu bieten und auch wenn einige im Sande verlaufen oder sich als irrelevant herauskristallisieren, ist es doch eine Freude den Gedankengängen der Protagonistin zu folgen. Etliche Vorkommnisse muten krankhaft an und wer keinen Sinn für morbiden Humor hat, sollte um dieses Buch einen großen Bogen machen.

Der Autor besticht regelmäßig mit einer Flut an einfallsreichen, auch tiefgründigen Aussagen und kreativen Metaphern, die oft mit Humor gespickt sind. Seine Sätze sind immer wieder abgehakt, bestehen mitunter aus nur zwei Wörtern und wurden mitunter hart formuliert, das verleiht dem Roman eine ganz eigene Sprachatmosphäre. Beispiele dafür sind: "Ich schreie. Aus voller Kehle. Schreie das Wasser an, das sich nicht für mich interessiert." (S. 286) oder "Ullmann sagt viel und nichts. Das CDU-Feuerzeug, dass er mir letzten Sommer geschenkt hat, wird sein wertvollster Beitrag zu meinem Leben sein." (S. 211) oder "Früher, als Kinder, mussten wir draußen spazieren gehen, damit das Christkind die Geschenke unter den Weihnachtsbaum legen konnte. Heute gehe ich raus, damit mein Mann sich volllaufen lassen kann. Geheimnisse ändern sich." (S. 79) Das Ende ist in gewisser Hinsicht offen, was einigen unbefriedigend erscheinen mag, für mich hätte es aber keinen passenderen Abschluss der Erzählung geben können.

Mein Fazit: "Das Haus in dem Gudelia stirbt" ist ein morbides Psychogramm einer alternden Frau, die nie über den Verlust ihres Sohnes hinweggekommen ist. Es überzeugt durch einen eigenwilligen Schreibstil mit Tiefe, Humor, Übertreibungen und wunderschön formulierten Sätzen und teils abstrusen Handlungen. Ein absolutes Lesemuss für alle, die morbid-humorvolle und etwas abwegig erzählte Geschichten lieben.

Bewertung vom 25.09.2024
Am Himmel die Flüsse
Shafak, Elif

Am Himmel die Flüsse


ausgezeichnet

Arthur hat ein besonderes Talent - sein Erinnerungsvermögen ist außergewöhnlich, jeder Tag seines Lebens ist ihm geistig präsent. Geboren in Londons Armenvierteln des 19. Jahrhunderts, verschafft ihm seine Gabe im Laufe der Zeit gesellschaftlichen Aufstieg. Alles was er will, ist Ninive zu erforschen, jene Stadt Mesopotamiens, die durch steinerne und tönerne Artefakte der Nachwelt erhalten geblieben ist und dessen gefundene und geborgene Schätze die Aufmerksamkeit der interessierten englischen Bevölkerung auf sich zieht. Arthur kann sich die Keilschrift beibringen und erhält den Auftrag des British Museums hunderte Tontafeln zu enträtseln. Nach einer sensationellen Entdeckung scheint Arthur sein Ziel erreicht zu haben: er wird beauftragt, in sein umträumtes Mesopotamien zu reisen, um dort fehlende Textbausteine zu suchen.

Gut 150 Jahre später entdeckt die neunjährige Jesidin Narin auf einem alten Friedhof am Tigris den Grabstein des Engländers und fragt sich, was es mit diesem "König der Abwasserkanäle und Elendsquartiere" auf sich hat. Wie ist ihr Schicksal miteinander verbunden?

Auch die Hydrologin Zaleekah scheint mit den beiden ein Band zu haben, aber das ist lange nicht ersichtlich. Sie kämpft mit der Trennung von ihrem Mann und mit den Erwartungen ihrer Familie, welche sie scheinbar nicht erfüllen kann. Was alle vereint ist ein einziger Tropfen Wasser.

Elif Shafak schafft in "Am Himmel die Flüsse" einen einfühlsamen und schönsprachigen Roman, der durch die unterschiedlichen Zeiten springt und die drei Handlungsebenen schlussendlich stimmig miteinander vereint. Alle Protagonist:innen werden zeitgenössisch portraitiert, sodass es ein Leichtes ist, sich in deren Situation hineinzuversetzen. Die Sprache Shafaks ist oft tiefgründig und philosophisch, oft regt sie zum Nachdenken an. Einer der vielen Beispiele: "Arthur kommt der Verdacht, dass wir mit dem Wort Kultur das wenige bezeichnen, das wir vor einem Verlust retten konnten, an den sich niemand erinnern will." (S. 423)

Vor allem die Geschichte um Arthur, die am ausführlichsten erzählt wird, hat mich in den Bann gezogen. Spannend ist, dass seine Figur eine reale, historische Person als Vorbild hat, auch weitere Protagonist:innen sind an historische Persönlichkeiten angelehnt, wie uns die Autorin im Nachwort ausführlich wissen lässt. Nichtsdestotrotz hat der Roman seine Längen. Besonders die Geschichte um Narin enthält viele Schilderungen, welche die Jesidische Kultur erklären. Zwar finde ich das grundsätzlich äußerst interessant, hier hat mich die Autorin aber aufgrund des Detailreichtums um den (Aber-)Glauben oft verloren, ich empfand es als irrsinnig langatmig und musste das Buch regelmäßig zur Seite legen. Oft habe ich mich gefragt, weshalb sich die Autorin dazu entschieden hat, drei Charaktere in den Fokus zu nehmen. Besonders Arthur, aber auch Zaleekah hätten einen eigenen Roman verdient, ich hätte gerne noch mehr über sie gewusst. Für dieses Buch hätte ich mir aber manchmal etwas knappere Beschreibungen gewünscht, da etliche Schilderungen für den Fortgang der zusammenhängenden Geschichte nicht unbedingt notwendig gewesen wären und für meinen Geschmack eine gewisse Langatmigkeit geliefert haben.

Die Beobachtungen der unterschiedlichen Kulturen und deren Aufeinandertreffen sind Shafak besonders geglückt und hat mich viel darüber gelehrt. Das Buch ist grundsätzlich sehr lehrreich, neben den Kulturen und der mesopotanischen Geschichte, erfahren die Lesenden auch viel über Wasser und Flüsse und wie der Mensch diese geprägt und/oder versucht hat zu unterdrücken. Im Nachwort erfahren wir, dass die Autorin umfangreich recherchiert hat und setzt das Erzählte somit auf eine fundierte Wissensbasis.

Mein Fazit: Am Himmel die Flüsse ist ein schönsprachiger und gedankenanregender Roman auf drei Erzählebenen, der die drei Schicksale der Protagonist:innen langsam aber stimmig zusammenführt. Ein Stück weit betrachtet er unterschiedliche Kulturen, ist sehr lehrreich und philosophisch, weißt aber durch ab und an auftretenden Detailreichtum auch seine Längen auf. Trotzdem: eine absolute Leseempfehlung!

Bewertung vom 08.09.2024
Freunderlwirtschaft
Hartlieb, Petra

Freunderlwirtschaft


sehr gut

Kriminalkommissarin Alma Oberkofler tritt ihren Dienst als Leiterin der Abteilung Leib und Leben mit einem prominenten Todesopfer an: Landwirtschafts- und Tourismusminister Max Langwieser wird tot in seiner Wohnung aufgefunden. Von seiner Verlobten Jessica fehlt jede Spur, schnell gerät sie ins Zentrum der Ermittlungen. Doch es ist nicht klar, ob der junge, aufstrebende Politiker tatsächlich ermordet wurde oder doch einem unglücklichen Unfall zum Opfer wurde...

Petra Hartlieb nimmt uns in "Freunderlwirtschaft" mit in die Welt der jungen, konservativen Politikergeneration Österreichs. Sie versucht nachzuzeichnen, was die mutmaßlich neuen Jungpolitiker antreibt und wie sich ihre hehreren Vorhaben durch die Erlangung von Macht verändern. Die Autorin portraitiert ihre Figuren mit Liebe zum Detail - besonders die beiden Hauptfiguren Alma Oberkofler und Jessica Pollauer bekommen eine umfangreiche Biographie. Abwechselnd erfahren wir mehr über ihren Werdegang, die Zeitebene springen regelmäßig zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Hartliebs Schreibstil ist kurzweilig, die unterschiedlichen Erzählperspektiven bringen Spannung und Bindung an die Charaktere zugleich, sodass der Krimi weggeht wie warme Semmeln. Besonders schön fand ich, dass wir viel über Beweggründe erfahren haben, warum Alma unbedingt Polizistin werden wollte. Da hier einiges offen blieb, hoffe ich auf eine Fortführung der Geschichte dieser sympathischen Kommissarin. Generell gelingt es der Autorin hervorragend eine interessante Entwicklung der Protagonist:innen aufzubauen. Auch Jessicas Handeln wird nachvollziehbar beschrieben, auch wenn diese Figur für mich nicht ganz so greifbar und ich etwas überrascht war, dass die zumeist naiv gezeichnete Protagonistin dann doch ein ziemliches Maß an Gerissenheit an den Tag legt.

Was ich beim Lesen aber festgestellt habe: auch ich bin politikverdrossen. Besonders diese jungen konservativen Politiker verursachen bei mir nicht nur ein ungutes Bauchgefühl, sondern vielmehr Aggression und absolutes Unverständnis. Dafür kann die Autorin nichts, ihr ist es meines Erachtens hervorragend gelungen, diesen Menschentypus gekonnt nachzuzeichnen. Für meinen Geschmack war das etwas zu viel Realität, beim Lesen bevorzuge ich mich daraus eher zu entfernen, zumindest wenn es um Politik geht. Demnach war bei der Verlauf der Geschichte bis hin zu seinem eher offenen Ende ziemlich vorhersehbar.

Mein Fazit: Freunderlwirtschaft ist ein empfehlenswerter Krimi rund um die jungkonservativen Politiker Österreichs ohne viel Gewalt, der einerseits spannend und äußerst kurzweilige geschrieben ist und es andererseits versteht, ein treffendes Portrait seiner Protagonist:innen zu zeichnen. Für Kenner:innen der österreichischen Politik dürften sich die Überraschungsmomente allerdings in Grenzen halten.

Bewertung vom 01.09.2024
Genau so, wie es immer war
Lombardo, Claire

Genau so, wie es immer war


sehr gut

Julia hat in ihrer Kindheit nicht viel Liebe von ihrer trinkenden Mutter mitbekommen, der Vater ist irgendwann verschwunden. Nun selbst Mutter, versucht sie - wie so viele - ihren Kindern ein besserer Elternteil zu sein und sich ganz und gar auf ihre Rolle als liebendes Mutterwesen einzulassen. Doch irgendetwas fehlt ihr im Leben. Als sie die um einiges ältere Helen kennenlernt, ändert sich ihr Leben nachhaltig...

Claire Lombardo analysiert in "Genau so, wie es immer war" die fiktionale Biographie ihrer Protagonistin Julia mit großer Hingabe und kurzweiligen Detailreichtum. Abwechselnd begleiten die Lesenden Julias Gegenwart und Vergangenheit, in knapp 720 Seiten begleiten sie die Entwicklung des Charakters durch seinen bewegten Lebenslauf. Es ist bewundernswert, wie treffsicher, rund und nachvollziehbar die Autorin die lange Geschichte strickt, ohne dass das Erzählte langweilig wird oder der rote Faden reißt. Die verschiedenen Protagonist:innen werden einfühlsam und ehrlich beschrieben, alle vielseitig mit Ecken und Kanten, allesamt neigen sie zu Fehlern und gestehen sich diese - unterschiedlich früh oder spät - ein. So wirken die Figuren aus dem Leben gegriffen und es ist ein leichtes, sich in diese hinein zu fühlen, auch wenn sie durch ihre Schrulligkeit teilweise anstrengend sind. Wie in jedem Leben müssen sie sich durch Höhen und Tiefen hanteln, verlieren sich und/oder ihre Liebsten, doch das Leben geht weiter.

Prinzipiell habe ich das Buch sehr gern gelesen, weil mir einiges auch aus meinem eigenen Leben bekannt vor kam und mich die Geschichte zur Selbstreflexion brachte. Lombardo fokussiert sich nicht nur auf die Entwicklung ihres Hauptcharakters, sondern schildert eingehend die Komplexität von Beziehungen - ob familiär oder freundschaftlich - und deren Entwicklung im Laufe eines Lebens. Wie schon erwähnt, schreibt sie sehr exakt und rund, trotzdem empfand ich das Buch an manchen (wenigen) Stellen als langatmig. Zudem fand ich Julia und auch einige andere Figuren manchmal nervig und ich musste das Buch mal ein paar Tage ruhen lassen, bevor ich die Lust am Lesen ganz verlieren würde. Doch mit Abstand bin ich sofort wieder in die Geschichte hineingekommen und hatte wieder Freude an dem Erzählten.

Mein Fazit: "Genau so, wie es immer war" ist trotz seines beachtlichen Umfangs ein größtenteils kurzweiliger Roman, der besonderen Wert auf eine umfangreiche und detaillierte Charakterbeschreibung setzt. Das Leben einer Frau mit den unterschiedlichen Herausforderungen wird treffend nachgezeichnet. Einen Stern Abzug erhält das Buch, weil es sich ruhig 200 Seiten an Detailreichtum einsparen hätte können. Trotzdem spreche ich gerne eine Leseempfehlung aus!

Bewertung vom 26.08.2024
Das Wesen des Lebens
Turpeinen, Iida

Das Wesen des Lebens


ausgezeichnet

1741: Georg Wilhelm Steller strandet mit einer Expedition auf dem sogenannten Eiland "Behringinsel" und beschreibt dort als erster die später nach ihm benannte "Stellersche Seekuh", die nicht nur riesige, körperliche Ausmaße vorweist, sondern für die Gestrandeten auch noch deliziös schmeckt. 27 Jahre später ist das Tier ausgerottet, aber davon wissen weder ihre Entdecker, noch die nachfolgenden Generationen etwas. Über hundert Jahre später versucht der russische Gouverneur von Alaska, Johan Furuhjelm, die Seekuh wiederzuentdecken, doch während seiner Regentschaft muss er feststellen, dass nicht nur dieses Tier, sondern beispielsweise auch die ehemals stark verbreiteten Otter das Weite gesucht haben, was ihm vor allem wirtschaftlich vor große Probleme stellt. Erneut rund 100 Jahre später kämpft der Ornithologe John Grönvall um den Artenreichtum auf einer ausgelagerten Insel vor Helsinki zu bewahren, was ihm mit viel Geduld auch gelingt. Doch während seine vogelkundliche Arbeit im Laufe der Zeit in Vergessenheit gerät, schafft er es, der Stellerschen Seekuh ein Denkmal zu setzen.

Iida Turpeinen ist mit "Das Wesen des Lebens" ein Meisterwerk gelungen. Sie verknüpft nicht nur Naturwissenschaft mit Kulturgeschichte, sondern bietet auch literarisch eine hohe Kunst. Der Roman spielt auf drei Zeitebenen und in jeder davon wird der jeweilige Zeitgeist so anschaulich festgehalten, dass es den Lesenden ein leichtes ist, sich in die Charaktere und ihre Mentalität hineinzuversetzen. Mag der Umgang mit der Tierwelt für die heutige Zeit grausam erscheinen (weil wir unsere Grausamkeit durch Ignoranz verdrängen), veranschaulicht die Autorin gekonnt die Gedankenwelt der jeweiligen Epoche, die sich oft mit religiösen Glaubenseinstellungen begründen lässt. Genauso weiß sie den gesellschaftlichen Wandel hin zum Kapitalismus unterschwellig aufzuzeigen. Neben der Mensch-Natur-Perspektive thematisiert Turpeinen auch das patriarchale System, in dem Frauen eine untergeordnete Rolle spielten - sie mussten sich fügen und wurden in einer männlich geprägten Welt nicht ernst genommen oder als fähig betrachtet. Weiters zeigt sie historischen Ableismus auf, der Menschen mit Beeinträchtigungen an den Rand der Gesellschaft drängten, egal welche Herkunft sie hatten. Doch all dies geschieht nicht mit einem mahnenden, offensichtlichen Fingerzeig, sondern ist perfekt eingebettet in die Geschichte der Naturwissenschaft in Romanform, die uns die Autorin in nüchterner, zeitgenössischer Sprache darlegt.

Die Erzählung ist nicht nur hervorragend recherchiert, sie liefert auch Erklärungen für Verhaltensweisen, die sich heute für viele nur schwer nachvollziehen lässt. Somit ist sie eine lehrreiche Lektüre, die völlig ohne Offensichtlichkeit arbeitet. Der größte Aha-Moment für mich war, zu erfahren, dass Menschen früher die Möglichkeit des Aussterbens einer Art für unmöglich hielten, lebten sie doch in dem Glauben, dass Gott ihnen die Tierwelt zum reinen Vergnügen und in unerschöpflicher Art und Weise zur Verfügung gestellt hat. Die Erkenntnis darüber sickert nur langsam durch und zieht sich bis in die Gegenwart.

Mein Fazit: "Das Wesen des Lebens" ist für mich ein absolutes Meisterwerk und eines der besten Bücher, das ich den den letzten Jahren gelesen habe (und bestimmt noch etliche Male zur Hand nehmen werde). Die Autorin versteht es gekonnt, die Lesenden in eine mentalitäts- und kulturgeschichtliche Reise über den Umgang des Menschen mit der Natur mitzunehmen, ohne dabei zu offensichtlich zu sein. Ihre literarische Sprache passt sich dem jeweiligen Zeitgeist an und wirkt somit authentisch und nachvollziehbar. "Das Wesen des Lebens" ist ein Buch, dass ich allen ans Herz legen kann, die bereit sind, den Umgang mit unserer Umwelt kritisch zu hinterfragen und sich dabei auf ein vollkommenes Lesenabenteuer einzulassen.

Bewertung vom 20.08.2024
Ein tierischer Fall für den Kommissar (eBook, ePUB)
Ambronn, D. G.

Ein tierischer Fall für den Kommissar (eBook, ePUB)


gut

Kommissar Jörgensen sehnt sich sehr nach seinem in Bälde bevorstehenden Ruhestand. Bedauerlicherweise muss er sich innerhalb kürzester Zeit mit zwei Leichen auseinandersetzen, die auf den ersten Blick nicht viel miteinander zu tun haben. Der eine starb bei einem mutmaßlichen Unfall mit einem Pferd, der andere wurde offensichtlich erschossen und ist noch dazu ein Parlamentsmitarbeiter. Zu den Ermittlungen im politischen Milieu gesellt sich immer wieder eine auffällige Frau, bei der unklar ist, wie sie in den Kontext passt. Die Ermittlungen nehmen Fahrt auf und immer wieder kommt es zu überraschenden Wendungen.

D.G. Ambronn schafft mit "Ein tierischer Fall für den Kommissar" einen kurzweiligen Krimi, der sich vor allem durch seinen schrägen Humor auszeichnet. Die Figuren sind oft bissig überzeichnet, es wird kein gutes Haar an Politiker:innen gelassen, die manch sonderbare Eigenschaften an den Tag legen. Liebevoll ausgewählte Nachnamen aus der Tierwelt wurden vielen Charakteren verpasst und sind wohl einer der Gründe für den Buchtitel. Die Kapitel sind kurz und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählt, was der Geschichte ein angenehmes Tempo und eine gute Abwechslung verpasst. Ein gewisser Lokalkolorit verleiht dem Buch einen erfrischenden Charme. Der Kriminalfall schließt mit einem offenen Ende, das aber das Erzählte gut abrundet.

Die Gründe, weshalb ich bei meiner persönlichen Bewertung zwei Sterne abziehe sind folgende: für mich blieben einige Fragen offen, was damit zu tun hat, dass ich die Jörgensen-Reihe noch nicht kannte und ein gewisses Maß an Vorkenntnissen von Nöten ist, um alle Anspielungen zu verstehen. Der etwas kauzige und berufsmüde Kommissar (mitsamt seiner Frau und dem Kater Salito) ist (sind) mir sehr sympathisch und ich möchte sehr gern die Vorgängerkrimis lesen, weil ich den Schreibstil des Autors sehr mag. Ich bin mir sicher, dass sich dann meine Fragezeichen in Luft auflösen. Einige Figuren waren nach meinem Geschmack zu überzeichnet und zu wertend was das andere Geschlecht betrifft. Die Wertungen mögen zwar bestimmt der Realität entsprechen, es liegt mir persönlich aber nicht so und könnte für mich in der Literatur auch ausgespart werden. Zudem konnte ich teilweise den Humor, vor allem was die Protagonistin Monique betrifft, nicht verstehen. Auch von ihr gibt es schon Vorgeschichten und hier habe ich mir oft schwer getan, ihr folgen zu können.

Mein Fazit: ein tierischer Fall für den Kommissar ist ein kurzweiliger und humoriger Krimi, bei dem es aber von Vorteil ist, wenn man die ersten Teile der Jörgensen-Reihe kennt, um die Geschichte gut nachvollziehen zu können. Wer einen speziellen (norddeutschen) Humor und überzeichnete Charaktere gemixt mit einer spannenden Krimihandlung mag, ist hier gut aufgehoben.