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amara5

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Insgesamt 125 Bewertungen
Bewertung vom 21.01.2022
Erschütterung
Everett, Percival

Erschütterung


ausgezeichnet

Weitverzweigte Rettung

Pulitzer Prize-Finalist Percival Everett erkundet in seinem bewegenden Roman „Erschütterung“ in vielschichtigen Ebenen und mit spielerischer Erzählfreude die Trauerbewältigung eines Mannes um seine todkranke Tochter. Ich-Erzähler ist der melancholische und eher träge Geologe-Paläobiologe Zach Wells – mit der Erforschung von Höhlen im Grand Canyon kennt er sich bestens aus, doch Emotionen meidet er und seine Ehe zu Meg ist mehr eingefroren als lebendig. Seine Liebe und Aufmerksamkeit gilt Tochter Sarah, mit der er gerne lacht, denkt und Schach spielt. Als sie bei einem Schachzug nicht reagiert, beginnt sich langsam eine Tragödie über die Familie zu legen: Sarah leidet an einer tödlichen, degenerativen Erkrankung, der Batten-Krankheit – Aussetzer, Krampfanfälle und ein schleichender Tod.

Hilflosigkeit macht sich breit und Zach sucht Schmerzlinderung und kleine Ausflüchte in sein weit verzweigtes, logisches Denken und Analysieren sowie in assoziative Tagträume und philosophisch-geologische Ausführungen, die ihn immer mehr in ein dunkles Loch ziehen. Aber auch in Unternehmungen außer Haus versucht er Trost und Halt aus dem quälenden Schmerz. Zach kann zwar seine Tochter nicht retten, sucht aber andere außergewöhnliche Wege, um sich selbst und andere zu retten. In seiner Second-Hand-Jacke findet er einen mysteriösen Zettel mit dem Hilferuf „Ayúdame“ – er wird diesem in die Wüste von New Mexico folgen, um krimihaft einer Gruppe zwangsverarbeiteter Frauen zu helfen. Realität, Tagtraum und Fiktion beginnen sich immer mehr zu vermischen und mit Gedanken zu verschachteln – die lange Wanderung und das berührende Ende in New Mexico war Everett in der Originalfassung sogar drei Versionen wert, die im Handel zu kaufen sind.

Percival Everett gelingt es in „Erschütterung“ mit einer herausragend schönen Prosa, existentielle Themen wie Trauer und Tod nicht in einen rührseligen Plot zu verpacken, sondern mit intellektuell-lakonischen Gedankenspiralen und weiteren teils abstrakten Assoziationen von Zach einen ebenso rätselhaften wie intim-packenden Trip in die verzweifelte, menschliche Psyche zu kreieren, der sich tief einprägt und facettenreich interpretiert sowie rezipiert werden kann. Ein außergewöhnlicher, philosophischer und tiefgreifender Roman über Ohnmacht, Schmerz, Trauer und dem Weitermachen sowie den vielen weitverzweigten Gabelungen, Entscheidungen und Wegen, die sie unkontrollierbar in sich bergen.

Bewertung vom 15.01.2022
Der letzte Sommer in der Stadt
Calligarich, Gianfranco

Der letzte Sommer in der Stadt


sehr gut

Melancholie der Rastlosen

Gianfranco Calligarichs atmosphärischer Roman „Der letzte Sommer in der Stadt“ erschien schon 1973, war recht erfolgreich und verschwand dann plötzlich aus dem Buchhandel. Doch schnell avancierte das Buch zum Kult und erscheint nun glücklicherweise erstmals auf Deutsch.

Ich-Erzähler und Protagonist des Romans ist Leo Gazzarra: Im Rom der 1970er-Jahre verkehrt der junge Journalist in der Bohème der italienischen Hauptstadt – es wird gefeiert, geraucht, getrunken, diskutiert oder am Piazza Navona getroffen. Doch bei aller Lust an der Kultur und am Feiern, durchzieht eine leise Melancholie und Selbstzerstörung den Roman, denn Leo wird bald arbeitslos und zieht ziellos im Dunst des Alkohols zwischen Hotels, Bars und den Wohnungen seiner intellektuellen Freunde umher. Als er die fragile und verführerische Arianna kennenlernt, beginnt eine stürmische Liebe zwischen zwei Rastlosen, die nicht wirklich lieben können und sich gegenseitig verletzen. Mit Leos maroden Alfa Romeo fahren sie durch die Nacht nach Ostia ans Meer und philosophieren über Literatur und das Leben. Die Ewige Stadt ist im heißen August wie leergefegt, ein Gefühl der Verlorenheit, des Unwohlseins und der Dekadenz macht sich breit – auf den Straßen und in den Seelen der Protagonisten, denen kein glückliches Ende zu drohen scheint.

Calligarich sind sehr szenische, elegante und metaphorische Beschreibungen der Ewigen Stadt gelungen, in denen sich emotional auch die ambivalenten Gefühle der Charaktere spiegeln. „Wie ein wildes Raubtier“ scheint sie die Menschen teilweise zu verschlingen und ihnen doch eine große Lebensqualität zu liefern. Orte und Szenen der Stadt sind so präzise bildhaft und poetisch hervorgehoben, als stehe man direkt daneben – eine gelungene Hommage, die auch die Schattenseiten hervorzuheben weiß. Ein kleiner Schwachpunkt des Romans ist die Tiefenschärfe der Charaktere und ihre psychologische Entwicklung, die etwas oberflächlich komponiert ist. Und trotzdem folgt man dem selbstbezogen und somnambul wirkenden Gazzarra leichtfüßig und soghaft durch Rom, die unglückliche Liebe und durch seine unerträgliche Leichtigkeit des Seins. Eine erfreuliche Wiederentdeckung und zeitlos in ihrer feinsinnigen Erzählversiertheit, obwohl der Roman schon vor 50 Jahren geschrieben wurde.

„ … denn Rom birgt einen besonderen Rausch in sich, der die Erinnerungen verbrennt. Mehr noch als eine Stadt ist Rom ein geheimer Teil von euch, ein verstecktes Raubtier. Mit ihm gibt es keine halben Sachen, entweder die große Liebe, oder ihr müsst da weg, denn das fordert das sanfte Raubtier.“ S. 16

Bewertung vom 10.01.2022
Auto
Walker, Christina

Auto


sehr gut

Choreografie des Sinns

„Manchmal ist die Zeit ein kalter Hauch.“ – Busch hat jetzt viel Zeit in seinem selbst auferlegten Stillstand, die Zeit und sich selbst sowie das Außenherum detailliert zu beobachten. Er ist aus dem Hamsterrad ausgestiegen – früher war er Vertreter für die Verlagsbranche, kilometerweit ist er mit seinem Mercedes gefahren, bis er beschlossen hat, zu entschleunigen. Erst ist er auf den Zug umgestiegen, bis er ganz ausgestiegen ist. Misstrauisch beäugt von den Nachbarn wohnt er jetzt im stillgelegten Mercedes im Hof – nur zum Essen und Duschen kommt er noch in seine Wohnung, in der seine disziplinierte Frau Susanne und sein Sohn Matti wohnen. Ansonsten ist nun der Hinterhof sein eigener Mikrokosmos geworden, in dem jede Veränderung in der Langsamkeit wahrgenommen wird.

Innerhalb der Familie wird nicht viel über seinen Ausstieg gesprochen, es scheint eine Engelsgeduld zu herrschen, doch das täuscht. Nicht nur sein Psychologe, mit dem Busch wöchentlich telefoniert, möchte ihn zurück auf die 'richtige Spur' schicken, doch er verfolgt einen ganz eigenen Stillstand-Plan mit selbst erteilten Regeln (Regel 2: Alle Eigenbewegung auf das Nötigste und Wichtigste reduzieren. Regel 8: Warten und dankbar sein. Und dankbar fürs Warten sein.) und dem präzisen Beobachten des Himmels und der Ameisenkolonie im Hof – die Tiere folgen ohne Pause oder Hinterfragen ihrer Schwarmintelligenz, jede Ameise hat ihre Aufgabe, innere Ordnung und ihren Sinn: „Ameisen funktionieren in Formation. Da schert keine aus. Und das ist stets sinnvoll und nützlich für sie. Das ist die Choreografie des Sinns schlechthin.“ S. 31

In assoziativen Rückblenden wirft die Autorin Christina Walker kleine, liebevolle Schlaglichter auf den gutmütigen Protagonisten und seine Vergangenheit im Berufs- und Eheleben – sie zeichnet kein vollständig interpretierbares Bild seiner Beweggründe und trotzdem ist ihr eine berührende und tiefgründige Parabel auf unsere Hochleistungs-Gesellschaft mit ihren festgelegten Normen gelungen. Was wird als krankhaft oder normal angesehen? Wie reagiert das unmittelbare Umfeld auf einen Übergang in einem Menschenleben, das beschließt, sich teilweise der Gesellschaft abzuwenden?

Mit subtilem Humor und einer Brise Lakonie sowie einer philosophisch angehauchten Poesie folgt der Leser berührt den teils obskuren und doch so feinsinnigen Gedankengängen von Busch, wenn er nicht nur seinen Körper und seine Befindlichkeiten, sondern auch die Tiere und Menschen aus seinem Rückzugsort Mercedes ins kleinste Detail beobachtet oder wenige abgezählte Schritte zum Supermarkt wagt. Dabei stand sein Auto mal für Schnelligkeit und Mobilität – alles Dinge, denen sich Busch nun entzieht, um vielleicht durchlässig und unsichtbar zu werden. Er betrachtet sein Leben nun aus einem anderen Blickwinkel und tariert das Da-Sein aus. Die einzigen Konstanten in seinem Tagesablauf sind der tägliche Apfel und die Wettervorsage sowie das Beobachten der Ameisen sowie der Schrullen der Nachbarn.

Mit knappen, präzisen und wohlkomponierten Sätzen entwirft Christina Walker eine tragikomische, bewegende und mehrdeutige Geschichte über das Aussteigen und einer Sinnkrise, die zum Nachdenken und Reflektieren einlädt. Und der ruhige Roman sollte entschleunigt gelesen werden, da es so viele subtil-zarte Beobachtungen und lebenskluge Metaphern zu entdecken gibt. Ein feines, weises und lesenswertes Debüt, das sich auf verschiedene Arten interpretieren lässt und so schnell gedanklich nicht loslässt.

„Und er glaubt an die Liebe und daran, dass sie einem Bahnhof gleicht. Hin und her, empfänglich für Zugluft und Hoffnung gleichermaßen. Und manchmal so unsterblich wie ein Ameisenvolk.“ S. 155

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Bewertung vom 30.10.2021
Wenn ich wiederkomme
Balzano, Marco

Wenn ich wiederkomme


sehr gut

Zerplatzte Träume

Der italienische Bestsellerautor Marco Balzano nimmt sich in seinem neuem Roman einem aktuellen und brisanten Thema an: osteuropäische Arbeitskräfte, die in den reicheren Ländern Alte und Kranke pflegen. So auch Daniela, die in einer Nacht-und-Nebel-Aktion ihre Kinder und ihren Mann in einem rumänischen Dorf zurücklässt und nach Mailand aufbricht. Dort durchläuft sie eine Odyssee an Arbeitsverhältnissen – zumeist schwarz, 24 Stunden am Tag, Anschuldigungen und einer Unsicherheit ausgesetzt, wie lange sie „beschäftigt“ sein wird. Das Geld schickt sie ihrer Familie in Rumänien, in der Hoffnung und dem Zwang, dass alle ein besseres Leben erwartet, doch die Kinder und der Mann zerbrechen an ihrer langen Abwesenheit. Zwar kann Sohn Manuel eine Privatschule besuchen, wo er abgleitet, Tochter Angelica kann studieren, was ihr aber nichts wirklich bringt und Vater Filip fängt an, das Haus zu renovieren, um später abzuhauen und die Familie komplett zu verlassen. Als Manuel einen schweren Moped-Unfall erleidet, kommt Daniela zurück und versucht nach ihrer Entscheidung zu retten, was noch zu retten ist.

Marco Balzano gliedert seinen chronologisch gewürfelten Roman in drei Teile und in drei Stimmen – der Leser erfährt zuerst aus Manuels schnoddriger Teenagersicht, wie es ihm nach dem Weggang der Mutter ergangen ist. Er leidet sehr darunter, bricht immer mehr den Kontakt ab und als sein geliebter Opa stirbt, verliert er im wahrsten Sinne den Boden unter den Füßen. Der bewegenste und ausgefeilteste Teil ist das Mittelstück, in dem Daniela ihre Erlebnisse in Mailand schildert - gezeichnet vom Burnout (der Italienkrankheit) und der Angst um ihren Sohn. Am Krankenbett vermischt sie aktuelle mit alten Erinnerungen und versucht, ihren Weggang zu erklären. Der Schlußteil gehört Angelica – die hohe Verantwortung, die auf der großen Schwester lag, hat sie mürbe gemacht. Sie beschließt nach dem Studium zu heiraten und nach Berlin zu ziehen.

Insgesamt ist Marco Balzano ein berührender, aufrüttelnder und sehr realistisch geschilderter Roman über ein wichtiges Thema gelungen – doch den Figuren fehlt es hier und da an Tiefe und sie wirken teils oberflächlich und klischeehaft konstruiert. Doch die eindringlichen Schilderungen von Daniela aus ihrem schlechtbezahlten Alltag als ausländische Pflegekraft, die psychischen wie physischen Strapazen einer ungelernten Hilfskraft, die Entfremdung im anderen Land sowie ihre Schuldgefühle und das Zerbrechen der zurückgelassenen Familie sind feinfühlig, erschütternd und berührend ausgearbeitet. Zusammen mit dem informativen Nachwort von Balzano am Ende des Romans lenkt „Wenn ich wiederkomme“ die Aufmerksamkeit präzise auf das Schicksal von diesen ausgebeuteten Pflegekraft-Frauen sowie ihrer Familien und auf ein marodes Sozialsystem, das darauf basiert.

Bewertung vom 29.10.2021
Wie schön wir waren
Mbue, Imbolo

Wie schön wir waren


ausgezeichnet

Stimmen eines Aufstands

Nach ihrem erfolgreichen Erstlingswerk erzählt die kamerunisch-amerikanische Autorin Imbolo Mbue nun eine kraftvolle, ergreifende und erschütternde Geschichte über ein afrikanisches Dorf, das von einem mächtigen, amerikanischen Ölkonzern sukzessiv vergiftet wird. Zwar ist die über 40 Jahre chronologisch gewürfelte und generationsübergreifende Erzählung fiktiv – und doch könnte sie genau so passiert sein.

Es fing mit trockenem Husten der Dorfbewohner von Kosawa an, dann starben die ersten und es wurden immer mehr – durch die Ölbohrungen wird nicht nur die Umwelt und die Luft verschmutzt und nutzbare Landflächen brach gelegt, sondern auch tödliche Gifte in das Wasser geleitet. Was mit einem Versprechen zu Wohlstand begonnen hat, endet für das afrikanische Dorf in einer kolossalen Ausbeutung und dem Entzug einer Lebensgrundlage. Die eigene Regierung ist korrupt, zieht selbst Gelder aus der Ölgesellschaft und wer sich gegen das Imperium stellt, verschwindet auch mal spurlos. Genug ist genug beschließt die Dorfgemeinschaft und schmiedet einen jahrzehntelangen Plan des Aufstands. Mitarbeiter der amerikanischen Firma Pexton werden als Geisel genommen, doch das ist nicht alles, was diese facettenreiche, politische und gewaltvolle Geschichte, in der es fast nur Verlierer geben kann, zu Tage bringt. Das junge Mädchen Thula beispielsweise wird subtil zur Jugend-Anführerin des Aufstandes und setzt auf Bildung als Waffe – von den USA aus unterstützt sie ihr Dorf. Es kommen aber noch zahlreiche weitere Stimmen zu Wort: Alte, Junge und ein ganzer Chor an Kindern, die ihre Schicksale, Biografien, aber auch von dem Leben im Dorf sowie von der Gier, dem Leid und Tod berichten.

Imbolo Mbues großartiges Talent liegt in der brillanten, weitgespannten und klangvollen Erzählweise über Generationen hinweg: Mehrere individuelle Stimmen aus unterschiedlichsten Perspektiven und Zeiten tragen diesen bewegenden und aufrüttelnden Roman, der auch die Schönheit, den Zusammenhalt und die Traditionen des afrikanischen Dorfes detailliert und bildgewaltig schildert. In Zeitsprüngen und aus vielen Personen heraus bildet sich eine Gesamtstimme, die nicht nur aus Schwarz/Weiß besteht, sondern auch ein kraftvolles Afrika aufzeigt, das von Korruption, Kolonialisierung und Neokolonialismus gebeutelt ist und einen scheinbar aussichtslosen Kampf führt. Mbue packt aktuelle und brisante Themen in eine kluge, feinsinnige und lange nachhallende Geschichte über Ressourcen-Ausbeutung, Gegenwehr und Selbstbestimmung – packend und verstörend zugleich.

Bewertung vom 18.10.2021
Auf Basidis Dach
Ameziane, Mona

Auf Basidis Dach


sehr gut

Weiter Ausblick in Kulturen

Die Journalistin und TV-Moderatorin Mona Ameziane ist in zwei Kulturen aufgewachsen – in Deutschland mit einer deutschen Mutter und einem marokkanischen Vater. Jedes Jahr fliegt die Familie auf Verwandtenbesuch nach Marokko, bestimmt schon 40 Mal war Ameziane dort. In ihrem Debütroman „Auf Basidis Dach“ fasst sie ihre Erinnerungen, Gedanken und Reflexionen über Marokko, das Leben zwischen zwei Kulturen, aber auch zu Herkunft, Migration, Identität und Rassismus zusammen. Humorvoll, sehr persönlich, klug und auch ernsthaft.

Zahlreiche zeitlich buntgewürfelte und szenische Anekdoten reihen sich an Erlebnisse und der Erörterung zu kulturellen Unterschieden und Vorurteilen – gespickt mit hilfreichen Informationen zum Land, Fragen an den Vater und vielen atmosphärischen Reiseberichten wie zur Medina in Fès. In dieser Stadt lebten auch ihre geliebten Großeltern Basidi und Alla – auf der geräumigen Dachterrasse hatte Ameziane immer einen herrlichen Ausblick auf die Menschen, ihrem Zuhause und ihren Gepflogenheiten, auf die Gassen und Dächer, wenn sie ihre Gedanken schweifen ließ und dem Muezzin lauschte. Diese feinfühlige Horizonterweiterung und erneute, abenteuerhafte Spurensuche zusammen mit ihrem Vater in Marokko verwebt die Autorin verspielt und gekonnt mit vielen Rückblicken, Erinnerungen und Gedanken – mit Humor und Ernsthaftigkeit nimmt sie den Leser mit allen Sinnen warmherzig und offen mit nach Marokko.

In kurzen Kapiteln schafft Mona Ameziane einen unterhaltsamen und neugierigen Rundumblick auf Marokko, aber auch auf ihr Heranwachsen zwischen zwei Kulturen, das sie als Geschenk betrachtet. Ein Glossar sowie verschiedene Quellenangaben am Ende runden den Roman zwischen Autobiografie, Hommage an die Familie und Reisebericht ab. Authentisch, reflektiert und lesenswert!

Bewertung vom 18.10.2021
Wenn wir heimkehren
Heuser, Andrea

Wenn wir heimkehren


gut

Durchs Licht strömende Erinnerungen

Die Autorin Andrea Heuser begibt sich mit ihrem epischen Familienroman „Wenn wir heimkehren“ auf autobiografische Spurensuche ihrer eigenen Familie und Großeltern. Über mehrere Jahrzehnte und Generationen hinweg entwirft sie ein authentisches Bild des gebeutelten Nachkriegsdeutschland anhand von weitgestreuten, persönlichen Geschichten durch 80 Jahre Zeitgeschehen.

Im Mittelpunkt stehen Margot und ihre Männer (einschließlich Sohn Fred) in einer schwierigen Zeit. Im Köln der 1950er-Jahre trifft die alleinerziehende, resolute und doch innerlich zerrissene Margot auf den lebensbejahenden Willi, der trotz seelischen und physischen Kriegstraumata nicht die Lebensfreude verliert. Er ist fasziniert von Margot und es entsteht eine jahrzehntelange Liebe voller Widrigkeiten, Auseinanderdriften und Wiederzueinander finden, voller Schuld, Verdrängen und einfach Weitermachen. Heuser erzählt unheimlich detailverliebt, erschafft für jedes Jahrzehnt eine dichte, detailgetreue und gut recherchierte Zeitreise mit viel Lokalkolorit und melancholischen Erinnerungen. Auf den umfangreichen 600 Seiten ist die Geschichte rund um das ungleiche Paar Margot und Willi sowie dem intellektuellem Sohn Fred mit zahlreichen Rückblenden, Anekdoten und Abschweifungen in der Zeitleiste und an verschiedenen Orten versehen, bis das berührende und atmosphärische Epos am Ende in der Gegenwart ankommt. Darüber hinaus streut Heuser zahlreiche Liedzitate und anderen Redensarten auf verschiedene Sprachen ein – leider ein wenig zu viele.

Von den 1930er bis 90er-Jahren spannt Heuser eine weitläufig verzweigte Familiengeschichte, in denen verloren geglaubte Seelen immer weitermachen, zwischen Hoffnung, Freude und Schmerz schwanken und am Ende sehen, wie sich ihre Leben transgenerational verbinden, samt Traumata. Die Farben des Lichts und der Erinnerungen spielen eine zentrale Rolle, aber auch, was am Ende von all den Begegnungen bleibt.

Leider verliert sich die autobiografisch geprägte und poetisch in zwei Teilen erzählte Familiengeschichte an einigen Stellen zu sehr im Detail und in den vielen persönlichen und historischen Abschweifungen – eine Straffung und präzisere Strukturierung rund um einen roten Faden hätte hier sehr gut getan. Trotzdem insgesamt ein akribisch und gut recherchierter (Liebes-)Roman voller Erzählfreude über persönliche und fiktive Erinnerungen – und wie unterschiedlich diese betrachtet werden können, je nachdem „wie das Licht fällt“. Und ein unterhaltsames Stück deutsche Zeitgeschichte aus den (Nach-)kriegsjahren, den dazugehörenden Wunden, Traumata und Träumen sowie der schwierigen Rolle als Frau – auch wenn es einige Längen beinhaltet, die den Lesefluss bremsen.

Bewertung vom 30.09.2021
DAFUQ
Jarmysch, Kira

DAFUQ


sehr gut

Die Frauen aus Zelle 3
In ihrem rasant-modernen Debütroman „DAFUQ“ verwebt Kira Jarmysch, Sprecherin von Kreml-Kritiker Nawalny, sechs bewegende Frauenschicksale im Gefängnis zu einem Bild vom heutigen Russland voller Gegensätze. Jarmysch kann dabei auch auf eigene, persönliche Erfahrungen zurückgreifen – sie war bereits mehrfach in russischen Gefängnissen inhaftiert.

Protagonistin Anja demonstriert auf einer oppositionellen Kundgebung gegen Korruption seitens der Regierung und wird festgenommen – die 28-jährige Studentin wird im Schnellprozess verurteilt und kommt für zehn Tage in Arrest in ein Moskauer Gefängnis. In Zelle 3 stößt sie auf fünf weitere junge weibliche Insassinnen, mit denen sie die schier endlose und trostlose Zeit mit vielen Gesprächen vertreibt. Alle sehr unterschiedlichen Frauen sind wegen kleinerer Delikte hier – Natascha wegen Polizisten-Beleidigung, Irka wegen fehlender Alimenten-Zahlung und Maja, Katja und Diana wegen Fahrens ohne Führerschein. Unfreiwillig sitzen sie jetzt zusammen auf engem Raum und teilen ihre Sehnsüchte, Ängste und Auszüge aus ihrem Leben, während das russische Justizsystem mit seiner willkürlichen Härte zuschlägt. Da die Zellengenossinnen aus sehr verschiedenen Milieus stammen, ergibt sich ein vielschichtiges soziografisches Gesamtbild über weibliche Lebensentwürfe in Russland.

Anja ist die Politischste unter den Frauen, kämpft aber auch mit privaten Dämonen und Zweifeln – immer wieder blickt sie länger in die Vergangenheit: In ihre Kindheit im Dorf, in die komplizierte Pubertät, zu ihrer traumatischen Beziehung mit ihrem Vater, einer schwierig-intensiven Dreiecksbeziehung und ihre fortschreitende Politisierung, während es ihr in der Gegenwart psychisch zunehmend schlechter in der Haft geht. Halluzinationen und Tagträume vermischen sich mit der Realität, in der Kira Jarmysch mit vielen dichten Dialogen authentisch und bewegend die unterschiedlichen Biografien der Frauen ineinander laufen lässt, aber auch eindringlich-detailliert die Schikanen im Gefängnis beleuchtet und auch Nebendarsteller wie Gefängniswärter plastisch-komplex schildert.

Zwar blitzt zwischen den Zeilen immer wieder Humor auf, doch insgesamt ist es ein neben einer feinfühligen Coming-of-Age-Geschichte sowie Identitätssuche ein realitätsnaher Gefängnisroman, der ohne erhobenen Zeigefinger auf die rechtsstaatlichen Systeme und die allgemeine Lage in Russland blickt, dabei aber unterhaltsame, weibliche Standpunkte einnimmt. Das ist Jarmysch in ihrem tragikomischen Debüt präzise gelungen, bevor sie am Ende ins Mystische und Mythologische abdriftet: Anja ist alleine in ihrer Zelle und leidet an wirren, verstörenden Albträumen – zudem sinniert sie bis zum finalen Emotionsausbruch, der zum deutschen Buchtitel geführt hat, immer intensiver über Frauensymbole und anderen esoterischen Gedanken.

Wie Jarmysch, die biografische Züge mit der fiktiven Protagonistin aufweist, das heutige Russland mit seinen Spannungen und Repressionen in einem wertfreien, beklemmend-komischen Gefängnis-Kammerspiel spiegelt und dabei mit einem aufregend-vielstimmigen Schreibstil den facettenreichen Blick der russischen Frauen beleuchtet, ist erhellend und bemerkenswert!

Bewertung vom 09.09.2021
Der perfekte Kreis
Myers, Benjamin

Der perfekte Kreis


sehr gut

Die Honigwabe-Doppelhelix
Die beiden unkonventionellen Freunde Calvert und Redbone erschaffen in Südengland im Jahre 1989 ein hoffnungsstiftendes Narrativ der anderen Art: Ihre geheime Lebensmission ist es, wunderschöne und mystische Kornkreise in den weiten Getreidefelder zu kreieren, angetrieben nach Perfektion und dem Willen, immer detailreichere und präzisere Muster zu schaffen. Ihr Meiserwerk soll der Kreis „Die Honigwabe-Doppelhelix“ werden. Immer in der Nacht machen sich die beiden unterschiedlichen und idealistischen Freunde an ihre aufsehenerregenden Kunstwerke, philosophieren tiefsinnig über facettenreiche Themen, betrachten den Mond und schenken sich auch ohne große Worte über die traumatische Vergangenheit tiefe Zuversicht und Verbundenheit. Ihr Ziel ist es, mit den Kreisen Hoffnung und Glaube an die Menschheit zu verbreiten, aber auch die Leidenschaft, die Schönheit der Natur zu sehen und zu schützen.

„Sie sind Teil einer wortlosen Erzählung, die über Sprachbarrieren hinausgeht und für manche zur Metapher wird, für andere zum Mythos und für fast alle außer uns zum Mysterium. Sie erzählen eine sonderbare Geschichte, schaffen ein Narrativ. Vor allen sind sie etwas, woran man in zynischen Zeiten glauben kann.“ S. 183

Nachts begegnen sie vielfältigen Menschen und Situationen – Umweltverschmutzer, Haudegen und anderen Charakteren. Und so langsam rollt auch das mediale Interesse an den mystischen und wunderschönen Kornkreisen auf – Zeitungen berichten weltweit über die Zeichen, sprechen von paranormalen Urhebern und Außerirdischen, während die Menschheit begeistert ist.

Benjamin Myers hat mit „Der perfekte Kreis“ eine poetische, ruhig erzählte und philosophische Parabel auf die Menschheit und die Schönheit der Umwelt geschaffen – mit präzisen, spirituellen und bildgewaltigen Beschreibungen von Natur, Gestirnen aber auch der Gesellschaft. Die Kapitel sind mit kreativen Musterbezeichnungen der Kreise betitelt, Myers versteht es außerdem, eine feinfühlige Spannung aufzubauen – eine mysteriöse Atmosphäre umweht den Roman und einige Zeitungsartikel wurden miteingewoben. Es ist eine zeitlose, universelle und kluge Geschichte, die frei von egozentriertem Handeln ist und sich einer tiefsinnigeren, existenziellen Bedeutung widmet.

Bewertung vom 06.09.2021
Der Kolibri - Premio Strega 2020
Veronesi, Sandro

Der Kolibri - Premio Strega 2020


ausgezeichnet

Meditation über das Leben
Sandro Veronesi ist in Italien bereits ein Literaturstar, erhielt zweimal den renommierten Premio Strega – diesmal für „Der Kolibri“. Die opulente, philosophische und sprachlich außergewöhnlich raffinierte Familiengeschichte mit dem Protagonisten Marco Carrera ist intelligent durchdacht und raffiniert komponiert – die Zeiten und die Chronologie brechen aus ihrer Ordnung: Das von Schmerz und Leid geprägte Leben von Marco, der seit einer Wachstumsstörung den Spitznamen Kolibri hat, rollt sich von Geburt bis zum Tod kaleidoskopartig mit vielen Splittern aus Rückblenden, Briefen, Dialogen und Episoden auf. Und am Ende der gewürfelten Zeitsprünge und cleveren Mosaike ergibt sich ein bewegendes Gesamtbild eines Lebens mit Höhen und Tiefen.

Der ruhige Augenarzt ist eine Art moderner Hiob – viel Leid und Sterben prallen auf ihn ein. Er meistert sein Leben, indem er nicht jeder Veränderung Schritt hält, sondern die Geschehnisse wie der Vogel im Punkt-Schwirrflug betrachtet sowie auch den Objekten und Gegenständen wie dem großen Nachlass der Eltern eine tiefere Bedeutung schenkt. So werden beispielsweise fehlende Ausgaben einer Science-Fiction-Romansammlung scharfsinnig und pointiert in das Erzählte miteingeflochten.

In Veronesis Sätzen steckt viel Intelligenz, die durch eine fantasiereiche und lyrische Prosa getragen wird – das kann auch schon mal kurios Ausufern: Manche Assoziationen und Gedankengänge werden über Seiten ausgeführt, aber langweilen nie. Es geht um Schuld, Leid, Liebe, Sucht, Resilienz sowie die begrenzte Lebenszeit – und obwohl Marco soviel familiäre Tragik im Leben überfällt, schwingt eine humorvolle, warme und sehr kluge Lakonie im Schreibstil mit.

Sandro Veronesi ist mit „Der Kolibri“ auf dem Höhepunkt seines jahrzehntelangen Schreibens angelangt – ein gewaltiges, poetisches, tiefsinniges und ergreifendes Epos.

„Ausgehend von dieser Erfahrung lief sein Leben jedoch immer auf die gleiche Weise ab: Jahrelang verharrte es im Stillstand, während diejenigen der anderen sich vorwärtsbewegten, und brach dann plötzlich in ein unerwartetes, außergewöhnliches Ereignis aus, das ihn in ein neues, unbekanntes Anderswo schleuderte.“ S. 297