Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 79 Bewertungen
Bewertung vom 09.11.2020
We Are Not Numbers

We Are Not Numbers


ausgezeichnet

We are not numbers. Junge Stimmen aus Gaza.
Eingerahmt werden diese Texte, die keine literarischen Texte im klassischen Sinne sind von den wunderbaren Bildern der Künstlerin Malak Mattar.

Bewegende Texte, die bedrücken, beschämen und zutiefst berühren. Wir nehmen die Träume, Hoffnungen und die Wünsche der jungen Menschen in uns auf, es lesen sich Hoffnungslosigkeit und zugleich Hoffnung in den Zeilen, tröstlich und tröstend trotz aller machtvollen Willkür durch die Israelis, trotz aller Ausweglosigkeit, trotz aller Gleichgül-tigkeit des Westens. Kämpfe und Drohnenangriffe werden überschattet von dem läh-menden Alltag durch Stromkürzungen, Wassermangel, Import- und Exportsanktionen, Reiseverboten. Gaza ist ein Synonym für Ausgeliefertsein, für Sippenhaft. Gaza ist ein Riesen-Ghetto.

Ein paar Auszüge aus den Texten:
Die Jungen fühlen sich eingesperrt und kommen nicht voran. Und so wünschen sie sich statt diesem Nichts den nächsten Krieg herbei.
Den meisten Menschen gefallen Reisegeschichten, mich quälen sie. Sie erinnern mich an die Grenzen, die gesichtslose Mächte mir setzen.
Wie soll ich mich verändern und wachsen, wenn ich mein ganzes Leben auf diesem kleinen Fleck verbringe?
Der Status quo hat Bestand: eingemauerte Liebe, eingemauerter Tod.
Aber dann wurde ich schonungslos daran erinnert, dass der Geburtsort ziemlich stark mitbestimmt, ob du im Leben Erfolg hast oder nicht.
Ich fühl mich halb Mensch, halb eingesperrtes Tier, von der Welt abgeschnitten.
Wenn wir sagen, dass wir in Gaza leben, lachen wir, weil das hier kein Leben ist. Hier zu leben ist wie in einem Käfig zu sein: ich bin 26 und habe Gaza noch nie verlassen - nicht weil ich nicht möchte, sondern weil ich nicht kann.
Wie eine Dichterin sagte“ Wir Palästinenser stehen jeden Tag auf, um den Rest der Welt das Leben zu lehren“. Trotz der Dauerkrise, in der wir leben, entdecken wir ein Fünkchen Licht am Ende des dunkelsten aller Tunnel.
Der Verlust unserer Freiheit macht uns zu flügellahmen Tauben, wir leben unser Leben ohne Hoffnung, haben schmerzlich kapituliert. Doch die Taube in uns lebt noch, flattert schwach. Wird sie je fliegen können?
Aus welchem Land kommst du denn? Es heisst Gefängnis. Und mit wem lebst du zusammen? Mit der Hoffnung.
Er träumt noch. Er lacht noch. Sie lächelt noch. Sie singen noch.
I am here. Ich will einen Fußabdruck im Sand der Zeit hinterlassen.Ich weiss, dass Höhen und Tiefen zur Reise dazugehören. Mit jedem Atemzug kämpfe ich mich weiter den Berg hinauf. Mit jeder Träne, jedem Lachen oder Lächeln entscheiden wir, wie unser Fußabdruck einmal aussehen wird. Meiner wird aus Liebe und Leidenschaft bestehen.
Bin ich falsch auf dieser Welt oder ist diese Welt falsch für mich?

Jenseits aller politischen Polemik ist dieses wunderbare Buch ein Schrei nach Menschlichkeit und Aufmerksamkeit. Eine Aufforderung zum Nachdenken. Besonders für die westliche privilegierte Jugend, für die es selbstverständlich ist, für ein Praktikum oder für ein Semester um den halben Globus zu reisen.
We are not numbers sollte Pflichtlektüre sein im Schulunterricht. 
Bei mir zumindest hat es einen Ehrenplatz im Regal.

Bewertung vom 09.11.2020
Pest & Cholera
Deville, Patrick

Pest & Cholera


ausgezeichnet

Universitas rerum - Die Gesamtheit aller Dinge

Deville strickt uns eine Biographie aus bunten Fäden mit politischen, kulturellen und historischen Ausfransungen. Wieder ist es ihm meisterlich gelungen, eine Lebens-geschichte zu einer spannenden und lehrreichen Lektüre aufzubauen, gespickt mit glorreichen Namen jener Zeit.
Es ist eine detailreiche Biographie Alexandre Yersins, dem Entdecker des Pestbazillus, der nach dem Medizinstudium zu Pasteur, dem Entdecker der Tollwut-Impfung, geht. Doch Yersin ist ein unruhiger Geist. Nach Jahren in Paris heuert er als Schiffsarzt an, zwischen Saigon und Manila pendelnd. Er liest viel, er beschäftigt sich mit Astronomie, Drachenbau, Vulkanologie, Ethnologie. Und er findet, ohne es zu suchen, sein ganz persönliches Paradies, sein „Walden“, aber eben nicht nur auf Zeit und nicht als Experiment, sondern es wird sein Lebensinhalt: das Fischerdorf Nha Trang im heutigen Vietnam.


Und er baut sein kleines Paradies aus, kauft Land und erschafft eine autarke Arche. Er baut eine Klinik und bildet die Einheimischen aus, gründet ein Pasteur-Institut und interessiert sich für Ackerbau und Viehzucht, produziert seinen eigenen Strom. Er legt Kautschukplantagen an, kultiviert Chinarindenbäume, produziert Malariamittel. Er wird Ornithologe und Orchideenzüchter, baut Kaffee und Tabak an, braut ein belebendes anregendes Getränk - die Kola-Cannelle – das er leider nicht patentieren ließ. Er baut eine Wetterstation, kümmert sich um Aufforstung, beschäftigt sich mit Meteorologie und Geodäsie und zum Ende seines Lebens verfällt er der klassischen Literatur: er übersetzt die Griechen und Lateiner.

Ihn erreichen Hilferufe aus Hongkong: die Pest sei ausgebrochen. Früher reiste die Pest gemächlich. Zu seiner Zeit und heute mit Dampfmaschinen-oder Düsengeschwindigkeit. Yersin entdeckt den Pestbazillus und entwickelt ein Serum. Später wird der Floh als Überträger identifiziert.
1940 kommt er von seiner letzten Reise nach Paris zurück ins Paradies, wird dort bleiben und wird dort sterben: Yersin – ein Tausendsassa im Denken, ein Einzelgänger mit Agoraphobie und doch die Menschen liebend, ein Grenzgänger und Eigenbrötler, ein ruheloser Geist, ein Visionär, ein Alleswissenwollender, ein Vollblut-Forscher, für den Nichtwissen unentschuldbar ist.

Was ist geblieben von Alexandre Yersin? Ein Begriff ist geblieben: Yersinia pestis. Und dieses wunderbare Buch, mit dem Deville uns einen Ausnahme-Menschen, einen Universalisten auf dem Silberteller kredenzt.
Ich bin tief beeindruckt von diesem bereichernden Buch, das in fast kühler und doch höchst empathischer Schreibe, ein Leben nachzeichnet, das den meisten von uns Lesern gewiss fremd ist. Fremd als Name, fremd in seiner betörenden Wissbegier und in seiner totalen Individualität.


Echter Fortschritt ist nur im und durch das Individuum möglich. Masse hat nie etwas Großes geschaffen. So erinnert eine Ratssitzung an die Hellsichtigkeit von Hamstern und ein Stadion an den Scharfsinn von Pantoffeltierchen. (Baudelaire)

Bewertung vom 09.11.2020
Äquatoria
Deville, Patrick

Äquatoria


ausgezeichnet

Ex africa semper aliquid novi – Immer wieder etwas Neues aus Afrika

Patrick Deville folgte den Spuren von Pierre Savorgnan de Brazza. Ganz in der Tradition der Erzähler auf dem Djeema al Fna in Marrakesch schüttet er ein Füllhorn an Geschichten aus: eine kunstvolle Mischung aus eigenem Erleben, aus Angelesenem und Gehörtem. Zeitsprünge vom Gestern ins Heute. Verknüpfungen der Vergangenheit mit der Gegenwart, vielleicht auch mit der uns noch unbekannten Zukunft.
Pierre Savorgnan de Brazza, 1852 geboren, aus kosmopolitischem italienischem Adelsgeschlecht, wollte Seefahrer und Entdecker werden. Er war anders als seine “Kollegen”: Idealist, Menschenfreund, eine seltene Spezie unter den Entdeckern und Kolonisten, in deren Gefolge weiße Gewalt in das dunkle Herz Afrikas eindrang.
Sein Gegenspieler war Henry Morton Stanley. Gegensätzlicher konnten zwei Männer nicht sein. Der reiche Aristokrat. Schwarzer Vollbart, blaue Augen, groß und mager, sanft und menschlich.
Stanley, ein vaterloses Kind aus ärmlichen Verhältnissen. Elf Jahre älter. Mittelgroß, kräftig, mit der Härte des Emporkömmlings. Stanley wurde berühmt durch seine Suche nach dem verschollenen Livingstone: „Dr. Livingstone, I presume?“
Brazza erreicht 1880 zum ersten Mal den Kongo, gründet Brazzaville.
Er starb 1905 im Alter von 53 Jahren und erhielt ein Staatsbegräbnis auf dem Père Lachaise. Heute ruht er mit seiner Familie im millionenschweren Mausoleum in Brazzaville. Er hätte diese monumentale Ehrung sicherlich abgelehnt.

Der Autor führt uns den Äquator entlang nach Osten. Er taucht ein in die Geschichte dieser Gebiete, in die Geschichten seiner nativen Reisebegleiter und bringt uns bekannte und fast vergessene Namen mit ihren biographischen Hintergründen näher. Wer hat schon einmal gelesen, dass es auf Sansibar einen persischen Clan aus Schiras gab, Al Harthi, der seit tausend Jahren an den Inselküsten lebte?

Albert Schweitzer, der in die üppige Urwaldszenerie Bach’sche Fugen ertönen lässt. Sein Pelikan Parzival, der davonfliegt, als sein Herr stirbt.
Aber auch Jules Verne, Pierre Loti, Joseph Conrad und Emin Pascha. Eine hochinteressante Gestalt: Tippu Tip. Er und Brazza sind sich nie begegnet, der eine kam vom Westen nach Osten, der andere vom Osten nach Westen. Der eine ist ein Sklavenhändler, der andere ein Sklavenbefreier. Tippu Tip ist der ungekrönte König von Zentralafrika. Er schrieb übrigens seine Biographie auf Suaheli, das erste Schriftstück dieser Art.

Leopold II von Belgien erwarb den Kongo-Freistaat als Privatbesitz. Voraus denkend sah er, dass die schiffbaren Flüsse und Medikamente wie das Chinin alle Türen für eine ausbeuterische Inbesitznahme öffneten. Apokalyptische Grausamkeiten waren an der Tagesordnung in seinem Reich. Die meisten Weißen hatten keine Vorstellungen von Afrika, seiner Geschichte und seinen Lebensbedingungen, von der Vielfalt an Völkern, Sitten, Gebräuchen, Ritualen und Fehden.

Wieder ist Deville ein narratives Patchwork gelungen, mit verschlungenen Bindegliedern, die Geschichte vom Gestern ins Heute transportieren. Persönliche Impressionen stilistisch gefärbt als Reportage, Portrait oder Geschichtsbuchauszug. Eine lehrreiche Lektüre: Anregend zu persönlicher Entdeckerlust und Recherche.

Der Satz aus Brazzas Brief an seinen Vater soll das Schlusslicht sein:
Und als ich ihnen sagte, dass die Weissen ein Land haben, in dem es an nichts fehlt, konnten sie sich nicht erklären, warum wir hergekommen waren.

Bewertung vom 09.11.2020
Bibi Bwana. Weisse Königin des Kilimandscharo
Sheldon, May

Bibi Bwana. Weisse Königin des Kilimandscharo


gut

Noli me tangere
Das ist das Motto für die Expedition der Amerikanerin May Sheldon Ende des 19. Jahrhunderts, findet Ausdruck im Auftreten in Ballkleid und Perücke, Abendessen mit Tischtuch. Ob die Diener weiße Handschuhe trugen? Eine Sänfte und ein Podium waren wichtige Requisiten.

Sie reist mit 153 Trägern von der ostafrikanischen Küste bis zum Fuß des Kilimandscharo. Benutzt mit Vorliebe das Possessivpronomen „meine“. Und was da alles getragen wurde: „Waffen, Medikamente, Proviant, Geld, Geschenke. Alles gut verpackt gegen Hitze und Regen. Hüte, Sonnen-schirme, Glasperlen aller Art, Stoffe aus Seide und Samt mit Goldspitzen, Uhren, Streichhölzer, Rasiermesser, Dolche, Glocken, Ringe, Gürtel, Nadeln, Nägel, Puppen, Bilderbücher, Tabak, Tee, Zucker, Pfeifen, Besteck, Nähmaschinen, Uhren.“

Natürlich sind die Ansichten dieser gebildeten Frau, die u.a. Medizin studiert hat, ein Ausdruck ihrer Zeit. Und doch hätte ich grundsätzlich mehr Offenheit für das Neue erwartet, weniger Vorurteile. Schon bei den ersten Seiten sträubten sich mir die Lesehaare. Von ihrem durch den Suezkanal fahrenden Schiff hinab konnte sie die Nomaden einer Kamelkarawane als „eine Horde Gauner, schmutzige, elende, heruntergekommene Geschöpfe, wie sie mir noch nie begegnet waren, bar jeglicher Prinzipien samt ihren Kamelen und ihrem Ungeziefer, sich ihren Lebensunterhalt mühselig durch Verschlagenheit, Erpressung und Betteln verdienend,“ klassifizieren. Was für ein scharfer „weißäugiger“ Blick.
Später mitunter Verständnis und sogar Sympathie für die „Wilden“ bis hin zu positiven Attributen. Aber immer mit der Prämisse, um wie viel besser diese „Wilden“ ihr Leben gestalten würden, wenn sie sich den europäischen Vorgaben und Gesetzen unterwerfen oder anpassen würden. Missionarische Töne, wenn es um die Überlegenheit der eigenen Rasse, der eigenen Zivilisation geht.
Interessant Details zu den einzelnen Stämmen, zur Schmuckherstellung, der Position der Schmiede, zu Sprachen und Landschaftsbeschreibungen, zur Botanik und Tierwelt. Zu Polygamie, Hexerei, Aberglauben, Amuletten und zur politischen Situation der englischen und deutschen Kolonialbezirke. Die Beschreibungen des Headmans Hamidi und des Dolmetschers Josefe wirken ehrlich und voller Sympathie.
Über die Massai schreibt sie: Sie “seien Großmäuler und Prahlhänse, durchtriebene Viehdiebe und ohne jegliche Gefühlsregungen, theatralische Muskelprotze ohne wahre Tapferkeit. Ein barbarisches, nicht ausgeprochen negroides Volk, das einen langen Weg zur Zivilisation vor sich hätte, wenn es nicht vorher ausgelöscht würde.”
Wie kam May Sheldon zu solchen Urteilen?. Sie hat die Sprache der Massai nicht gesprochen. Zeichensprache war gewiss nicht ausreichend. Und auch ihre generelle Idee, immer zwei Dolmetscher einzusetzen, um so an der Mimik des zweiten Unstimmigkeiten abzulesen, konnte gewiss kein ethnische Charakterstudie liefern.

Eine trotz aller Bedenken interessante, aber zu langatmige Lektüre, dem Text fehlen Verve, Leidenschaft, Lebendigkeit und eine tiefer gehende Faszination.

Bewertung vom 09.11.2020
Augenstern
Mandanipur, Shahriar

Augenstern


sehr gut

Maktub. Es steht geschrieben.

Allein schon das Entrée fasziniert: Im Islam gibt es die Schreiber-Engel, die den Menschen begleiten. Der gute Engel sitzt auf der rechten Schulter, der böse auf der linken. Ihre Aufzeichnungen werden beim Jüngsten Gericht gegeneinander abgewogen und entscheiden, ob der Gläubige im Paradies oder in der Hölle landet.
Die Engel beschreiben das Leben Amir Yaminis: auf drei Ebenen – das ausschweifende Leben des jungen Mannes, seine direkten Kriegserfahrungen im iranisch-irakischen Krieg von 1980-1988 und die Zeit danach: auf der Suche nach sich selbst und seinen verloren gegangenen Erinnerungen, durchsetzt mit Amirs eigenem Narrativ.

Er hat nicht nur einen Arm verloren, sondern auch seine große Liebe. Aber er kann sich weder erinnern, wann wie und wo er den Arm verlor noch an den Namen des Mädchens, das er liebte, seinen „Augenstern".
Nach den Wirren des Krieges kehrte Amir in das Anwesen seines großbürgerlichen Vaters zurück. Viele Episoden seines Lebens, das eines Schwerenöters und Müßiggängers der persischen Upper class fließen an ihm vorbei. In der Dunkelkammer seines Gedächtnisses blitzen seine zahlreichen Eroberungen auf. Viele Passagen besingen fast orphisch seine Affären. Der Roman stellt das freie Leben in der Schah-Zeit dem Leben in der Islamischen Republik gegenüber: beide ein Sinnbild für Heuchelei. Die Freiheit vor Khomeini war nur für die Reichen und Schönen und geprägt durch oberflächliche Exzesse. In beiden Systemen gab und gibt es Geheimdienste mit Folterungen Hinrichtungen.

Mehr als Amirs Front-Erlebnisse und die Beschreibung der geopferten Menschenleben als Kanonenfutter hat mich die Szene der orgiastischen Wolllust seines Auspeitschers beeindruckt. Es gab übrigens einen berühmten persischen Auspeitscher: Xerxes, der das Meer mit Peitschen-hieben strafte, da es zwei Brücken zerstörte.


Amin begibt sich auf die irrwitzige Suche, seinen Arm zu finden. Er muss sich mit eigenen Augen überzeugen, ob der goldene Verlobungsring, den er mit „Augenstern“ für sie beide gekauft hatte, wirklich existierte oder ob es nur ein kafkaesker Streich seines angeschlagenen Gedächtnisses war. Er findet den Arm mit dem goldenen Ring und damit die Erinnerung an „Augenstern“ zurück.


Politisches vermischt sich mit Erotischem. Die Überbetonung der männlichen Libido ist vielleicht ein gekonnt eingesetztes Stilmittel, um die Welt des prallen Lebens, der Grausamkeit und der Sinnlosigkeit eines Krieges und die Welt der Traumata miteinander auszusöhnen.

Wundervoll poetische, fast sinnliche Naturbeschreibungen runden diese seltsamen Schreiber-Engel-Berichte ab. Oftmals jedoch verwirrend, vielleicht zu vielschichtig in seinen erzählerischen Ebenen? Aber hilfreich, um die Zerrissenheit Irans und seiner Menschen zu verstehen?
Ein lesenswertes Buch, das mich nachdenklich zurück lässt. Ist Amir ein Kandidat für das Paradies oder für die Hölle, wenn er vor dem Jüngsten Gericht stehen wird?
Maktub.

Bewertung vom 09.11.2020
Ein Irokese am Genfersee
Wottreng, Willi

Ein Irokese am Genfersee


sehr gut

Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer.
Dieses alte Zitat bewahrheitet sich auch im Schicksal des Irokesen Deskaneh Levi General, Erbchief der Six Nations. Er war für die Weißen ein Unruhestifter und eine lästige Rothaut. Mit seinen Forderungen nach Eigenstaatlichkeit der Six Nations. Sie wollten keine kanadischen Untertanen sein: sie lebten auf eigenem Grund, der ihnen von der britischen Krone als Anerkennung für ihre Aufopferung im Krieg gegen die amerikanischen Separatisten gewährt worden war.

Willi Wottreng beginnt diese irokesische Biographie mit einem klassischen Autorentrick.
Die Erzählerin findet in einem Nachlass Papiere und Fotos und ist sofort fasziniert. Denn in ihrer Jugend sah sie sich selbst als Winnetou, als Stadtindianerin. Freiheit und Gerechtigkeit waren die Pfeiler ihres Denkens, beeinflusst von Dürrenmatts „Monstervortrag über Gerechtigkeit und Recht“.

Ursula Haldiman beginnt zu recherchieren und blättert ein außergewöhnliches Leben vor dem Leser auf. Das Leben eines Einzelkämpfers, wenn auch mit Unterstützung der Presse und diversen Gruppierungen mit missionarischen Eiferern. Seine vielen Vorträge und seine „bella figura“ im federgeschmückten Ornat garantieren ihm eine große Fan-Gemeinde. Aber all seine Bemühungen, die Causa seines Volkes vor den Völkerbund in Genf zu bringen, scheitern. Kanadas Indianerbetrauftragter Scott sieht in den Indigenen Schutzbefohlene, die man erziehen und zivilisieren müsse. Das klassische Überlegenheitsgefühl der Weißen setzt auch hier drastische Maßnahmen ein.

Deskaneh sah sich voller Stolz als Vertreter einer der ältesten Demokratien der Welt. Doch seine Mission war ein Misserfolg. Er ging ins Exil nach Rochester in den USA, denn nach Kanada konnte er nicht zurück. Schon in der Schweiz hatte ihn eine starke Erkältung so sehr geschwächt, dass er zur Kur musste. Immer liebevoll-tatkräftig an seiner Seite Hedwig Barblan, die in ihm den Weg in ein exotisches Leben abseits der kleinbürgerlichen Schweizer Enge sah. In Rochester überfällt ihn ein Schlaganfall, er wird sich nicht mehr erholen. Er stirbt mit 52 Jahren, an gebrochenem Herzen und…..? Gerüchte über einen unnatürlichen Tod machen die Runde. Ursula Haldiman lässt diese Frage keine Ruhe, sie kann natürlich keine Beweise erbringen, aber Mut-maßungen bleiben offen. Man sagt, im Moment des Todes ziehe das ganze Leben vor den Augen des Sterbenden vorbei. Was sah Deskaneh?

In dieser kleinen Tour d’horizon erfahren wir viel über die Traditionen und Denkweisen der nordamerikanischen Indigenen außerhalb der Hollywood-Szenerie. Viel über die Denkweisen der politischen Machthaber und viel über ihre Selbstherrlichkeit.
Es ist mehr als lobenswert, dass hier in klarer Sprache einem vergessenen Kämpfer ein Denkmal gesetzt wird. Für Freunde der indianischen „Kindheits“-Literatur und für Freunde der indianischen Realität ein unbedingtes Muss.

Das Buch endet mit fünf Fragen. Wer war Deskaneh? Das mag jeder interessierte Leser für sich selbst entscheiden

Bewertung vom 09.11.2020
Checkpoint (eBook, ePUB)
Bischara, Asmi

Checkpoint (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

In den sechzig Episoden seines literarischen Erstlingswerks zeigt uns Asmi Bischara, arabischer Israeli, Autor, Politiker und Ex-Abgeordneter der Knesset, das Leben an und mit den Checkpoints im „Heiligen Land“. Er teilt diese Grenzmarkierungen ein in Checkpointstaat und Checkpointland. In seinen Skizzen beschreibt er die „Herren und die Knechte“: das moralische Überlegen-heitsgefühl der einen und die gedemütigten Seelen der anderen. Ironisch und humoristisch lässt er den Leser teilhaben am Alltag an den Checkpoints.

Da gibt es Szenen von Hochzeitsfeiern, Beerdigungen und Leichenzügen, wartenden Krankenwagen und immer und überall Resignation.Lebendig beschrieben wird das Reich der Plastiktüten, die Mobilität der Fliegenden Händler. Selbst Melonen werden zu Verdächtigem.
Fliegende Sperren werden zum Spielzeug einer Soldateska, ganz im Sinne der Pawlow’schen Lehre der Reflexe. Dieses Ausgeliefertsein ist nicht nur resignativ und demütigend, sondern frisst sich in die Seelen, in das menschliche und soziale Gefüge.
Mir gefallen die kreativen Wortschöpfungen von Bischara wie Tagtäglichkeit, gecheckpointete Passanten, endverdächtigt, Gewehrsprache, westweit.


Er beschreibt zwei menschliche Gegenpole: die der Araber und die der Israelis.
Die nicht nur durch die Checkpoints und die 800 km „Mauer“ voneinander getrennt sind. Sondern durch ihr religiös-politisches Sendungsbewusstsein, durch internationale Sympathien und Solidarität für die einen wie auch für die anderen, durch steinewerfenden Widerstand und märtyrerhaften Terrorismus.

„Ein Volk, das ein anderes mit Checkpoints blockiert, hat selber einen inneren Checkpoint.“
Dieser äußert sich dann in Schulmeisterei, Machoallüren, narzisstischer Befriedigung durch die eigene Macht und die Ohnmacht der anderen, Halbstarkengehabe, den Exhibitionismus der Stärkeren und „selbstgefälliger Selbstbeifall der einzigen Demokratie im Nahen Osten“.


Asmi Bischara notiert Psychogramme derjenigen, die vor bzw. hinter den Checkpoints ihre Statistenrolle im politischen Spiel ausfüllen. Die einen hoffen auf die Auswanderung aller, damit man sie nicht abermals wie 1948 vertreiben muss. Die anderen hoffen - ja, auf was? Auf den Schlussstrich unter die Okkupation? Auf ihr Recht auf ihr Land? Auf Menschenwürde?

Wird es je eine Lösung für dieses geteilte Land geben? Für seine Bewohner diesseits und jenseits der Checkpoints? Werden die Menschen diesseits und jenseits der Checkpoints überhaupt noch eine gemeinsame menschliche Sprache sprechen können? In beiden Völkern sind Bewusstsein und Unbewusstsein geschädigt und verletzt.
Ist es ein von Jahwe oder von Allah verhängtes Schicksal oder ist es einfach nur Geopolitik?
Gibt es Hoffnung? Stirbt die Hoffnung zuletzt?

Die Lektüre dieses aufschlussreichen Buches wirft viele Fragen auf und
regt zum kritischen Nachdenken an.



Der Schrecken, den die Unterdrücker systematisch erzeugen, verselbstständigt sich, er geht in das System des Bewusstseins und des Unbewusstseins.
Manés Sperber

Bewertung vom 09.11.2020
Kampuchea
Deville, Patrick

Kampuchea


ausgezeichnet

Der Geschichte nachspüren
2010 reist der Autor vom Mekong-Delta bis an die Grenze nach China.
Er führt uns ein in die Geschichte Indochinas, die den meisten von uns unbekannt sein wird bis auf Schlagworte wie Angkor Vat, Dien Bien Phu, Vietnamkrieg, Coppolas Apokalypse Now, Pol Pot und Killing Fields.

Durch minimalistische Biographien werden wir Zeuge von politischen und kulturellen Umwälzungen. Lebensepisoden von Henri Mouhot, der 1860 Angkor Vat (wieder) entdeckte: ein Narrativ der Steine aus dem 9. Jahrhundert. Angkor Vat soll im 12. Jahrhundert eine Million Einwohner gehabt haben. Prinz Sihanouk, der aus Phnom Penh ein fernöstliches Paris machen wollte und Pol Pot, der in Paris studiert und das Leben des La douce France genossen hatte. Ho Chi Minh, ein Mann mit der unbeugsamen Geschmeidigkeit eines Bambus. Aber auch von Unbekannten wie Vann Nath, der in unermüdlicher Serienarbeit Portraits von Pol Pot erstellen musste. Francois Ponchaud, ein katholischer Priester, der die Khmer-Sprache erlernt und die Codes und Chiffren der Roten Khmer entziffert hatte. Sein anprangerndes, 1977 veröffentlichtes Buch „Kambodscha im Jahre Null“ fand im Westen nirgendwo Gehör. Kong Bunchhoeun, der über 120 Bücher geschrieben, Filme gemacht, gemalt, gedichtet und komponiert hat.


Und immer das verbindende Hauptthema. Die genozidale Herrschaft der Roten Khmer allgegenwärtig. Mit ihrer ideologischen Vermischung von Rousseau, Marx und buddhistischem Denken. In den vier Jahren eines steinzeitlichen Kommunismus wurden fast 2 Millionen Menschen umgebracht, gefoltert, vernichtet. Die Tötungsmaschinerie der Menschheit ist unersättlich: Gulags, KZs, Ruanda. Massengräber der Grausamkeit.

Aber Deville informiert auch über die Vorgeschichte dieser Massaker. Der weiße Mann mit seinem Bewusstsein der Überlegenheit über alle anderen Kulturen und Völker. Vom Opiumkrieg mit China, in dem die Truppen den Pekinger Sommerpalast plünderten. Taliban und IS sind auch da nur Nachahmer.
Die Prozesse gegen Pol Pot und einen Gefängniswärter: ein unscheinbarer, biederer Beamter, der seine Pflicht erfüllte. Da tauchen Assoziationen auf zur „Banalität des Bösen“.

Eine kaleidoskopische Lektüre, bunt und farbig, aber eben nicht nur schön. So erliest man sich in kurzen Kapiteln, Zeiten und Orte wechselnd, die Ahnung eines Gesamtbilds einer komplexen kulturellen und politischen Andersartigkeit. Dieses Buch vereint Reportage, Biographie, Prosa, Reisebericht und auch Autobiographisches. Devilles Neugier auf das Heute und Gestern, die Verknüpfungen von Biographien, von Tätern und Opfern. Von Kolonisierten und Kolonisatoren. Für Deville sind Reisen und Schreiben unabdingbar miteinander verwoben, um so Knoten für Knoten des Heute und des Gestern knüpfen zu können. Für ihn gilt nicht das Zitat von Pascal’s Zimmer.

Die Geschichte vom Flügelschlag des Schmetterlings, der viele Tausend Kilometer entfernt und Jahrzehnte später eine Katastrophe auslöst, ist das perfekte Motto für diesen geschichtsträchtigen Roman.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2020
Blauer Elefant
Mourad, Ahmed

Blauer Elefant


gut

Ahmed Mourad präsentiert uns eine kafkaeske, eindringliche Geschichte, für die man einen langen Atem braucht, um sich in den Gefilden der Halluzinationen und der vWahnvorstellungen zurecht zu finden. Ein Szenario der Albträume, ein psychedelisches Labyrinth und ein mentales Konstrukt mit Teufeln und Dämonen, mit Magie und mysteriöser Zahlenmagie.


Jachjar, ein 37 Jahre alter forensischer Psychiater, verlor vor Jahren bei einem Autounfall seine Frau und seine Tochter: er war schuld und überlebte und blieb deshalb fünf Jahre seiner Arbeit fern.
Er versank in schweren Depressionen und Verwahrlosung, zudem ist er zuckerkrank und süchtig nach selbstgedrehten Zigaretten, nach Kaffee, nach Haschisch, Whisky und nach Sex mit Maja, einer Gelegenheitsgeliebten, einer ausgeflippten jungen Frau, mit der er das Ritual des Ab-sinthtrinkens pflegt.

Jachjar wird von der Leiterin seiner Klinik nach einer letzten Abmahnung zur Arbeit gerufen und findet sich auf der Station 8 wieder, wo Menschen, über deren Schuldfähigkeit man sich uneins ist, stationiert sind.

E trifft auf einen alten Kollegen, Scharif al Kurdi, der beschuldigt wird, seine Frau Basma ermor-det, sie aus dem 30. Stock eines Hochhauses gestürzt zu haben.
Der Anwalt plädiert auf unschuldig, es sei Selbstmord gewesen. Als Jachjar Scharifs Foto in der Polizeiakte sieht, fällt ihm eine tätowierte Linie von der Schulter bis in die Handfläche mit um den Arm mäandernden Querlinien auf: das Muster erinnert an einen bestimmten arabischen Buchstaben und dessen Spiegelbild.

Durch seine Recherchen trifft er Lubna wieder, seine große Liebe und zugleich Scharifs Schwester. Sie treffen sich regelmäßig und fühlen sich immer noch zueinander hingezogen, obwohl Lubna inzwischen verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter ist.

Nach Einnahme des „Blauen Elephanten“, einer Droge, einer Substanz ähnlich, die sich angeblich im Körper während des Sterbeprozesses bilden soll, erlebt Jachjar und der Leser mit ihm Horrorszenen. Die verschiedenen Erzählebenen verlieren sich in surrealen Dimensionen, so dass offen bleibt, ob nicht alles nur eine Einbildung des Protagonisten ist. Man fühlt sich wie ein Wünschelrutengänger in einem Gärprozess.


Ahmed Mourad baut viele kleine kulturgeschichtliche Reminiszenzen in seinen Text ein (unter-füttert durch Erläuterungen). Ansonsten finde ich den Stil anbiedernd modern,
so gewollt modern, mit vielen überflüssigen Anglizismen. Ganz besonders störend seltsame „Adjektiv-Sätze“ wie: „und betastete meinen Hals, der so verbeult war wie eine leere Pepsi-Dose“, „sie ließ mich warten, bis ich so gut abgehangen war wie ein Stück zähes Kamelfleisch“, „aus meinem Rachen kam ein Gestank wie aus dem Hintern eines toten Schweins“, „wie ein alters-schwacher Löwe mit Haarausfall auf der Flucht vor der Peitsche seines Dompteurs“.

Wer Verwirrspiele der psychedelischen Art im Metier von Psychothrillern mag, ist mit der Lektüre gut bedient. Das Ende wird natürlich nicht verraten.