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Benutzername: 
MarcoL
Wohnort: 
Füssen

Bewertungen

Insgesamt 203 Bewertungen
Bewertung vom 15.05.2024
Das Fischerhaus
Bjella, Stein Torleif

Das Fischerhaus


sehr gut

Zwischenmenschliches und idyllische Natur aus dem hohen Norden.

Norwegen. Der Ich-Erzähler Jon, 47, berichtet von seiner gemeinsamen Woche mit seinem achtzigjährigen Onkel Ivar. Beide machen sich eines Tages im Spätherbst auf den Weg zu Ivars See. Der Onkel redselig bis zum Abwinken, Jon in sich gekehrt und nachdenklich, als Musiker gescheitert, bilden sie ein äußerst ungleiches Gespann. Ivar möchte seinen See samt Hütte, Bootshaus und alleinigem Fischereirecht an Jon übergeben. Ivar scheint es sehr wichtig zu sein, erklärt vieles, erzählt von der Familiengeschichte, und bittet Jon inständig, sich alles aufzuschreiben. Nicht dass er dann etwas übersieht und vergisst.
Das enge Nebeneinander, Tag wie Nacht, scheint Ivar nichts auszumachen. Aber es bringt Jon an den Rand der Belastung. Denn es geht nicht nur um das Netzfischen. Ivar behandelt Jon wie einen Lehrbuben, scheint dessen Leben zu zerpflücken wie ein welke Blume, lässt an ihm kein gutes Haar und kritisiert seine Existenz nach Strich und Faden. Da helfen auch viele gut gemeinte Ratschläge nicht mehr.
Es entwickelt sich dennoch etwas menschliches zwischen den beiden. Ton und Umgang miteinander bleiben trotzdem rau wie das Wetter. Wechselhaft, mal sonnig und mit einer gewissen Verbundenheit und einem Verstehen. Und dann kippt es wieder um und wird stürmisch und kalt.
Es ist ein Wechselspiel der Gefühle – starr und stur erzählt, akribisch Tag für Tag. Als Leser fragt man sich, wohin das alles führen mag. Endet es gut oder schlecht, und was nehmen wir genauso wie Jon dabei mit?
Trotz der gefühlten Eintönigkeit des Erzählens bleiben immer wieder diese kleine Fragen offen, man liest und blättert. Der ganz große Aha-Effekt bleibt zwar aus, aber es war nichts desto trotz eine angenehme Lektüre, die versucht, die Sicht auf manche Dinge zurecht zu rücken. Man könnte daraus den Versuch eines Öko-Romans ableiten, überzeugt hat mich diese Sichtweise aber nicht.
Ich habe den Roman dennoch gerne gelesen, und sehe ihn als feine Unterhaltung aus dem Norden an.
Das Buch an sich ist schön gemacht mit feiner Aufmachung und Haptik, das man gerne in die Hand nimmt.

Bewertung vom 30.04.2024
Mitgift
Marusic, Antonela

Mitgift


ausgezeichnet

Berührende Coming of Age Geschichte aus der kroatischen Inselwelt

Die Ich-Erzählerin Nela wächst mit ihrer Mutter in einer kleinen Wohnung in Split auf. Jeden Sommer reist sie zu ihrer Großmutter auf die Adria-Insel Korčula. Sie lebt in bescheidenen Verhältnissen am Rande der Hafenstadt Vela Luka. Das Geld ist knapp, aber die Landwirtschaft wirft einiges ab. Zudem ist Oma sehr sparsam. Meist ist noch ihr „Barba“, Nelas Onkel im Haus. Ihre anderen Onkel haben das Land schon vor langer Zeit verlassen.
S.9. „An diesem Nachmittag verpasste mir mein Onkel die erste große Tracht Prügel. […] Es ist das Jahr 1981 und ich stehe erst am Anfang meiner Gerechtigkeitsmission. Ich bin sieben Jahre alt ...“
Das sind Zitate von der ersten Seite, die schon erahnen lassen um welche Geschichten es sich handeln wird.
Nela träumt davon, Schriftstellerin zu werden, um ihnen es alle eines Tages zeigen zu können. Auch in späteren (Kindes-) Jahren empört sie sich über ihren Onkel.
S. 103: „ Ich kann es nicht ertragen, dass ein so dummer Mensch jeden Tag meint, mir Befehle erteilen zu müssen.“
Nela erzählt viel von ihrem Inselalltag, von jedem Sommer mit ihrer Oma, die versucht, das Kind so gut wie möglich zu beschützen. Nela hilft im Haushalt so gut wie es geht, verschließt sich aber gerne mit ihren Comics, oder der „Bravo“, später mit ihrem Walkman, um sich von ihren eigenen Gedanken treiben lassen zu können.
Wenn sie alleine ist, stellt sie sich immer vor, ein Junge zu sein.
S. 158: „Wenn ich mit mir selbst rede, bin ich ein Junge. Ich will ein junger Mann sein und nicht das hier.“
Auch verhält sie sich oftmals so, ohne dass es jemals zur Sprache kommt, dass sie möglicherweise im falschen Körper aufwächst.
Vorsichtig geht die Autorin an diesen Umstand heran, und lässt dennoch keine Zweifel an der rebellischen Kraft, die Nela innewohnt. Ihr Verhältnis zur ihrer Oma ist liebevoll, sie mag es mit ihr in einem Bett zu schlafen, um von Oma jeden Abend Geschichten erzählt zu bekommen. Doch je älter Nela wird, des drüber scheint das Verhältnis zu werden.
Auch wenn die Oma ein Quell von unzähligen Geschichten ist, über ihre Flucht vor den Nazis bis nach Ägypten berichtet, wiederholt sich vieles. Die einsetzende Pubertät und das Erwachsenwerden schiebt schleichend eine unsichtbare Distanz in die Beziehung.
Es ist ein Coming-of-Age Roman, der zwischen dem kargen Inseldasein und dem Alltag in der Stadt (der auch nicht glorifiziert wird) berichtet. Nela träumt von Größerem, von einer Befreiung ihrer Zwänge, einem Ausbruch aus der Gefangenschaft von Armut und familiären Strukturen.
S.203: Die Jugend ist anmaßend in meine Seele eingezogen, hat weder angeklopft noch angefragt, ob ein Platz frei ist.“ (ein wunderschöner Satz, wie ich finde)
Sprachlich hat mir der Roman sehr gut gefallen. Die Übersetzung von Marie Alpermann ist, soweit ich das beurteilen kann, eine Wucht. Im Originaltext kommen wohl viele Dialektwörter vor, welche im Text belassen wurden und im Anhang erläutert werden. Sie stören den Lesefluss in keinster Weise, im Gegenteil – sie sind eine echte Bereicherung.
Gerne gebe ich eine ganz große Leseempfehlung für diesen berührenden Roman über die Sommer der „kleinen“ Nela.

Bewertung vom 28.04.2024
Nebel über Rønne / Lennart Ipsen Bd.2
Kobr, Michael

Nebel über Rønne / Lennart Ipsen Bd.2


sehr gut

Spannend und leicht erzählt. Der zweite Fall für Ipsen auf Bornholm.

Dies ein sehr hyggeliger Roman – ein feines Buch mit Krimi-Beilagen, das Lust auf die wärmere Jahreszeit, Meer und einer salzigen Prise milder Ozeanluft macht. Der Autor versteht es perfekt, eine gute, angenehme Stimmung zu erzeugen, auch wenn das Buch eigentlich ein Krimi ist mit einem sehr dubiosen Mordfall. Und er macht wirklich Lust, diese Insel näher kennen zu lernen.
Lennart Ipsen, Kriminalpolizist, ist im Landeanflug auf Bornholm. Die Luft ist turbulent, der erste Landeanflug muss angebrochen werden. Er war nur kurz weg, freut sich aber wieder sehr auf „seine“ Insel, auf der alles etwas langsamer und ruhiger zugeht. Schon im Flugzeug entdeckt er das Blaulichtgewimmel am Rande des Flugfeldes, welches eine Privatmaschine in das unheimliche Licht taucht. Noch denkt er sich nicht viel dabei, aber schon bald wird es zu seinem bestimmenden Alltag für die nächsten Tage.
Die besagte Maschine zauberte eine perfekte Landung hin, danach war Funkstille, im wahrsten Sinne des Wortes. Die drei Insassen sind tot. Ein verzwickter Fall tut sich für Ipsen und seinem kleinen Team auf. Es könnte ein Fall von internationaler Brisanz sein, theoretisch. Er bekommt von Kopenhagen zwei Tage Zeit, den Fall aufzuklären, bevor ihm die Ermittlungen entzogen werden. Was ihm im Prinzip gar nicht so unrecht wäre, dann hätte er seine Ruhe. Auf der anderen Seite packt ihn natürlich auch der Ehrgeiz, dieses Damoklesschwert selbst abzuwehren, außerdem sitzt ihm seine Mitarbeiterin Britta diesbezüglich gehörig im Nacken.
Erste Befragungen beginnen, die Leben der drei Ermordeten werden aufgerollt, aber es finden sich kaum Anhaltspunkte und Verbindungen zu den Personen.
Es folgen Streifzüge über die beschauliche Insel, die sich langsam vom Winter erholt und sich auf die sonnenhungrigen Touristen vorbereitet. Mit im Gepäck des Autors sind feine Beschreibungen vom Inselalltag der Bewohner, mit Spuren eines Reiseführers, und viel „Privates“ seiner Protagonist:Innen. Hauptsächlich der Besuch von Ipsens Vater samt Lebensgefährtin bringt noch etwas zusätzlichen Stress zu den Ermittlungen.
Der Autor zeichnet angenehme Figuren, authentisch – als hätte er sie nur beschrieben, und nicht erfunden. Es sind keine Superhelden, sondern einfach nur Menschen mit all ihren Stärken und Schwächen. Der Roman liest sich leicht, wechselt zum richtigen Zeitpunkt das Setting – die Spannung bleibt somit aufrecht erhalten. Lange tappt man im Dunkeln – es bilden sich nicht mal richtige Verdachtsannahmen heraus. Dazwischen gibt es immer wieder Land und Leute … und von mir eine ganz klare Leseempfehlung
Michael Kobr versteht es perfekt, ein spannendes Buch zu schreiben, die 400 Seiten lesen sich weg wie nichts. Bin gespannt, was in Teil drei auf das Ermittlertrio zukommt.

Bewertung vom 27.04.2024
Die Stadt der Träumenden Bücher (Comic)
Moers, Walter

Die Stadt der Träumenden Bücher (Comic)


ausgezeichnet

Graphic Novel der Superlative. Für mich ein Meisterwerk.

Wie toll bitte ist diese Graphic Novel
Auf der Grundlage des Buches „Die Stadt der Träumenden Bücher“ von Walter Moers – eines meiner Lieblingsbücher für immer – erschuf hier Florian Biege zusammen mit dem Autor des Buches eine sensationelle Graphic Novel in zwei Teilen. Dies ist nun der zweite Teil „Die Katakomben“. Im ersten Teil ging es mit unserem lieben Protagonisten nach Buchhaim, das Mekka der Bücher in Zamonien schlechthin, und in allerhöchste Gefahr.
Hildegunst von Mythenmetz wurde verraten und in die gefährlichen Katakomben verbannt. Die Buchlinge fanden und retteten ihn. Sie brachten ihn in ihre Stadt. Er war fasziniert vom Leben dieser kleinen Zyklopen, die sich alle nach einem der Dichter Zamoniens nannten, und auch dessen komplettes Werk auswendig rezitieren konnten. Die bösen Bücherjäger, skrupellos und gemein, stürmten eines Tages diese wohlige Stätte gepflegten Bücherschmökerns und waren drauf und dran, alles zu zerstören und töten. Hildegunst konnte flüchten, sein Weg führte ihn tiefer hinab in die Unterwelt, bis er in das Reich des berüchtigten Schattenkönigs kam. (Mehr wird nicht verraten, denn die Grundgeschichte ist megaspannend).
Die Aufmachung dieses Bandes ist einfach nur wunderbar. Die Zeichnungen sind voller Phantasie und Details, beinahe schon in 3D. Man wird regelrecht in diese zamonische Welt hinein gesogen. Und es bleibt auch nicht beim einmaligen Schmökern. Immer wieder gibt es in den Bildern etwas Neues zu entdecken. - Ganz große Kunst!
Moers hat den Text für diese Graphic Novel meisterhaft adaptiert. Ich bin erstaunt, wie es ihm gelang, mit wenigen Worten die Handlung derart treffend und spannend wiederzugeben. Im Anhang gibt es noch ein sehr interessantes „Making Of“, was diese beiden Bände wunderbar abrundet.
Absolute Leseempfehlung für dieses herrliche Werk. Es hätte eigentlich 10 Sterne verdient.

Bewertung vom 21.04.2024
Die Schönheit der Rosalind Bone
McCarthy, Alex

Die Schönheit der Rosalind Bone


ausgezeichnet

Das Schicksal einer starken Frau in einem vergessenen Dorf. Poetisch. Atmosphärisch.

Cwmsysgod, ein Dorf in Wales, eingepfercht in ein Tal, umgeben von Hügeln und Bergen mit dichtem Wald. Idyllisch, könnte man meinen, nach außen hin. Unter der Oberfläche sieht es anders aus. Die Kohlehalden aus der stillgelegten Zeche sind bedeckt, nicht sichtbar. Aber sie bergen eine Gefahr. Die Menschen im Dorf sind an das Ufer des ehemaligen Bergwerkes gespült, liegen da herum wie angeschwemmtes Holz, und versuchen, das beste aus ihren Situationen zu machen.
Es gab einen schweren Unfall in der Mine mit vielen Toten. Darunter auch der Vater von Mary und Rosalínd. Später wurde der Betrieb geschlossen, Verzweiflung und Arbeitslosigkeit grassierten wie ein Geschwür. Der Vater der Clements-Brüder kam damit nicht klar und beging Suizid, gefunden von seinem Sohn Daniel.
Der Eckladen von Mrs. Williams überlebte dank der „Geschäftstüchtgkeit“ der Besitzerin. Hochbetagt, mit ihren 80 Jahren, aber reich an „Erfahrung“.
Rosalind war ein wunderschönes Mädchen. Sie wurde immer darauf angesprochen, begehrt, schien das einzige weibliche Geschöpf im Tal zu sein, und auf ihr Äußeres reduziert. Sie litt sehr unter diesem Umstand, genauso wie ihre Schwester Mary, die kaum beachtet wurde. Am Tag des Unglücks verschwand Rosalind.
Allein der Wald übersteht die von menschengemachten Tragödien.
Jedes Kapitel erzählt über eine andere Person und deren Part in dem Spiel, welches sich „Überleben“ nennt.
Daniel und Shane – die Clement-Brüder, welche vom Pfad der Tugend abgekommen sind. Jeder weiß das im Dorf, jeder zeigt mit dem Finger auf sie. Aber warum das so ist, auch wenn offensichtlich, offenbart sich dennoch erst im Laufe der Geschichte. Genauso verfährt die Autorin mit den anderen. Immer wieder dreht es sich um Rosalind und Mary. Marys Tochter Catrin entdeckte eines Tages das einzig erhaltene Foto ihrer Tante Rosalind, und beginnt, Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Nebenbei wird in Folge der Brandstiftungen der Brüder eine verwahrloste alte Frau aufgefunden, die gerade noch gerettet werden konnte. Und die Dinge kommen ins Laufen …
All dies und noch viel mehr stecken in den gerade mal 160 Seiten. Fest verpackte Pakete von Schicksalen, welche nach und nach aufgeschnürt und entblößt werden.
Alex McCarthy versteht es in ihrem Debütroman perfekt, ihre Leserschaft zu fesseln. Das Tal, grün und eingekesselt von Bäumen, scheint keinen Lichtschein zu zulassen, so grau und trist kommt es einem vor.
S.146: „Der Himmel hing tief und grau über ihm, eine dunkle Wolke verschlang die nächste, bis alles schwarz war und die Sonne verschwunden.“
Und dennoch möchte man sich beim Lesen durch die Zeilen pressen, um auf der anderen Seite im Tal als reale Person aufzutauchen. Ein Sog, der einen durch das Buch zieht.
Der Sprachstil ist einerseits sehr direkt, und dann wieder derart poetisch mit wunderbar gestalteten Sätzen, dass es eine wahre Freude ist und man manche Absätze mehrmals liest ob der Verzauberung der Worte.
Der Roman ist ein Potpourri von gesellschaftlichen Abgründen, ein Stimmungsbild von patriarchalen Strukturen, welche nur von Frauen durchbrochen werden können. Die Düsterheit des Waldes als Synonym für die Angst der Frauen vor der überall vorherrschenden Misogynie. Perfekt eingepackt in eine atmosphärisch dichte Geschichte.
Ganz große Leseempfehlung und definitiv ein Jahreslesehighlight.

Bewertung vom 19.04.2024
Zonen der Zeit
Müller, Michaela Maria

Zonen der Zeit


ausgezeichnet

Ein wunderbarer, kluger, unaufdringlicher Roman.

Jan ist Historiker, arbeitet Akten des Auswärtigen Amtes durch. Das Jahr 1991 lässt ihn stocken, innehalten. Die Vergangenheit wird aus der Verdrängung hervor gespült, bremst alles.
Er war damals zehn Jahre jung, die DDR am Verschwinden. Wie auch sein Vater, der in den Osten ging. Im neuen Westen hielt ihn nicht mal seine Familie. Jan und seine Mutter „flohen“ in einen Bahnhofskiosk in Berlin und betreiben diesen. Für Jan begann eine Zeit der Verdrängung, und wurde zu einem unscheinbaren Mann, der sich lieber hinter Akten vergrub.
Trotzdem gründet er eine Familie mit Katja, und lebt am Rand von München, in der Nähe des Flüsschens Wurm. Dieses Gewässer ist Namensgeber für die letzte Eiszeit, welche vor 10000 Jahren endete, und unsere Landschaft formte, wie wir sie heute kennen. Eine markante Zeitzone.
Jan pendelt berufsbedingt immer wieder nach Berlin, wo er eine kleine Wohnung unterhält.
Enni ist Notrufdisponentin bei der Feuerwehr in München. Sie ist das Gegenteil von Jan. Quirlig, braucht Menschen um sich. Ein Zufall bringt beide zusammen. Sie spricht Jan vor einer Tankstelle an, als dieser etwas verloren wirkt. Er hat seine Schlüssel verlegt, wohl in seiner Wohnung eingesperrt. Seine Frau mit seinen beiden Söhnen ist bei ihren Eltern, ein heimkommen also nicht möglich. Enni „knackt“ das Schloss, und ein wenig die schleichende Lethargie von Jan. Es entwickelt sich eine leichte Freundschaft, sie treffen sich hin und wieder.
Im Laufe der Zeit (ohne jetzt Einzelheiten zu verraten) zieht es beide nach Berlin – es gibt ein neues Ankommen, und gewissen Endstationen in deren Leben.
Die Autorin lässt abwechselnd Enni und Jan erzählen. Sie berichten von ihrem Alltag, von ihren Jobs und Begegnungen. Beide scheinen eigenwillig zu sein, und doch stechen sie wahrscheinlich nicht besonders aus der Masse heraus. Michaela Maria Müller zeichnet sie liebevoll, detailreich, aber nie langweilig.
Ihre Leben verknüpft sie gekonnt mit brennenden Alltagsthemen genauso wie mit der großen weltweiten Politik oder der Geschichte im Allgemeinen mit all ihren Auswirkungen.
Es ist ein sehr feiner, kluger Roman. Ruhig, unaufdringlich, und dennoch lässt er einen nicht mehr los. Ihre beiden handelnden Personen entwickeln sich, finden neue Perspektiven und machen das beste aus ihren Situationen. Ohne Schnörkel, Pathos oder Kitsch.
Gerne gebe ich eine Leseempfehlung für diesen wunderbaren Roman. Es sind tatsächlich immer wieder Zonen der Zeit, die unser aller Leben bestimmen und verändern.

Bewertung vom 16.04.2024
Am See
Barbal, Maria

Am See


ausgezeichnet

Ein Nachmittag am See – tiefgründig, leise und wundervoll erzählt.

Leise, relativ unspektakulär, erscheint uns ein kleines Ereignis, welches sich eines Sonntagnachmittags am See ereignet. Nichts großartiges, könnte man meinen, und dennoch verändert es die Welt der zwölfjährigen Nora grundlegend. Es ist ihr Abschied aus der Kindheit, ein Eintauchen in die Welt der Erwachsenen, mit all ihren kleinen und nicht ganz so kleinen Problemen.
Nora freut sich immer auf die Sonntage, denn dann fährt sie mit der Bahn zum großen Stausee in den Pyrenäen, zusammen mit ein paar Erwachsenen, und dem fünfjährigen Quim, der sich als notorischer Quälgeist entpuppt. Die Erwachsenen sind untereinander verwandt, oder verbindet sonstige alltägliche Begegnungen. Sie werden uns vorgestellt in Kapiteln, kommen uns näher, stehen und leben vor unserem geistigen Auge wie reale Personen. Jedes Kapitel beginnt mit einer kleinen Ich-Erzähung von Nora. Meistens geht es um jenen Nachmittag, der so viel Grund gibt, die kleine Gesellschaft vor uns zu entblättern.
Der See ist tief, von Pappeln gesäumt, welche Schatten bieten, Sitzgelegenheiten, oder Halt im Wasser am Ufer. Jeden Sonntag, sobald es die Witterung erlaubt, zieht es die Gruppe Menschen an den See – ein Stausee, einst der größte von Europa, mit gefluteten Ruinen in seinen Tiefen.
Maria Barbal zeichnet ein intensives Bild dieser wenigen Personen. Wie im See, schlummern in den Tiefen der Seelen Ängste, Sorgen, Hoffnungen. Meist ist die Oberfläche ruhig, nur gekräuselt. Manchmal rumort es in den Herzen wie im See.
Lídia, Tonis Frau, ist mit dabei. Und Toni, der nicht schwimmen kann, kommt jedes mal mit seinem roten Seat nach, verweilt zum Mittagessen am See, verschwindet wieder, nimmt kaum aktiv Teil. Außer an jenem Nachmittag. Er betreibt einen Schuhgeschäft, ist dabei nicht sehr glücklich. Das Knien vor der Kundschaft beim Anprobieren der Schuhe empfindet er demütigend. Am liebsten wäre er Bauer am Hof seiner verstorbenen Eltern, aber das Zerwürfnis mit seiner Schwester … und seine Unstimmigkeiten mit Senor Joaquim, ein Verkäufer in seinem Laden, der immer mit am See ist.
Vieles geschieht aus dem Blickwinkel von Nora, die die Sicht der Welt aus drei Generationen erfährt. Ihre Eltern, welche niemals mit an den See kommen, treten in den Hintergrund, und haben dennoch ein wachendes Auge auf ihre Tochter.
Die Autorin versteht es sehr gekonnt, mit wenigen Worten großartige Bilder zu malen. Sie nimmt uns mit an das Ufer, lässt uns an den Gedanken ihrer Protagonist:innen teilhaben, erlaubt uns, sie näher kennenzulernen. Man könnte fast meinen, immer schon mit ihnen die Sonntage am See verbracht zu haben. Eindrücklich, sanft! Und dennoch bleibt viel Ungesagtes zwischen den Zeilen hängen, wie die Blätter der Pappeln am See.
S.132: „Die Pappeln scheinen dann im Sonnenlicht zu träumen, das Wasser ist wärmer als am Morgen und es herrscht eine tiefe Stille.“

Ganz große Erzählkunst und absolute Leseempfehlung für diesen wundervollen Roman, er reiht sich ein in die All-time Favorites.
Einziges Kritikpunkt meinerseits: das Cover passt nicht so recht zum Inhalt.

Bewertung vom 14.04.2024
Die Kompromisse
Dietmaier, Florian

Die Kompromisse


ausgezeichnet

Weltgeschichte und Belletristik gekonnt vereint, hervorragend recherchiert

Die Weltgeschichte von 1960 bis 2020, komprimiert auf neunzehn Geschichten und Erlebnissen des Diplomaten Peter. Es sind Episoden, kleine Stationen (Stationenroman nennt es der Autor), die das ganze Leben von Peter (*1929) prägen. Und nicht nur ihn, sondern auch viele Teile der Weltpolitik, welche sich aus so manchen kleinen Konstellationen gestalten. Das Leben von Peter verläuft nach der klassischen Diplomatenstruktur. Viele politische Ämter, vom Gesandten bis zum Botschafter, dazu eben so viele bereiste Länder und Wohnorte. Dazwischen das Private, das eigentliche Leben, welches selbst immer wieder ein kleiner Prüfstein an die eigene Flexibilität darstellt. Beruf und Familie lassen sich so nur mit vielen Kompromissen unter ein Dach bringen. Pflichtbewusstsein ist hierbei ein Schlagwort – eben Diplomatie im Kleinen wie im Großen, um alles am Laufen zu halten.
Dietmaier greift hier auf eher unbekannte politische Ereignisse zurück, viele davon spielen sich in Klein- und Kleinststaaten ab, haben aber dennoch einen Einfluss auf das große Weltgeschehen.
Er schafft es zum Beispiel, einen Bogen vom Inselstaat Nauru zu Österreich zu schlagen. In weiterer Folge kommt auch das Dilemma um Kurt Waldheim zur Sprache. Einst UN-Generalsekretär, später österreichischer Bundespräsident mit NS-Hintergrund und anschließender politischen Isolation. In wenigen Zeilen, auch mittels Dialogtechnik, wird diese Episode plastisch dargestellt.
Der Roman selbst ist ein Meisterwerk an Recherche. Und zuletzt auch ein mehr als gekonnter Versuch, weniger bekannte Begebenheiten der Weltgeschichte spannend und unterhaltsam in eine Erzählung mit privatem Hintergrund einzubetten. Das Leben des Diplomaten Peter entwirrt ein Kaleidoskop aus mannigfaltigen, politischen Bildern rund um den Globus zu einem Ganzen.
Der Sprachstil ist direkt, nüchtern, und kommt ohne großen Umschweifen zum Kern.
Eine wunderbar gestaltete Symbiose aus „Leben“ und Politik und eine klare #Leseempfehlung für alle, die gerne mal etwas „anderes“ lesen möchten.

Bewertung vom 10.04.2024
Ein schönes Ausländerkind
Toxische Pommes

Ein schönes Ausländerkind


ausgezeichnet

Wunderbare autofiktionale Erzählung über Integration, lakonisch, humorvoll

Die Ich-Erzählerin berichtet von ihrem Aufwachsen in Österreich – genauer gesagt in Wiener Neustadt, was so gar nichts mit dem Wien zu tun hat, wie es sich ihre Eltern wohl vorgestellt hatten. Aber sie hatten dennoch so etwas wie Glück, bei Renate samt Mann und seltsamen Spross untergekommen zu sein, nachdem sie aus Ex-Jugoslawien zu Beginn des Balkankrieges geflohen waren. Die Mutter versorgte den Haushalt von Renate, versuchte sich zu integrieren, und schaffte es im Laufe der Zeit die Approbation ihres akademischen Grades, den sie in Montenegro erworben hatte und in Österreich nichts galt. Ihr Vater, ein Serbe, half hie und da aus, verlor sich im Putzfimmel, hatte nie einen richtigen Job. Und das mit der deutschen Sprache … aber Sonderangebote konnte er shoppen, en masse.
Die Erzählerin glänzte in der Schule mit lauter Einsern, ging zum Schwimmtraining, und unterstütze ihren Vater im Aufpeppen seiner spärlichen Deutschkenntnisse.
Und dazwischen: Alltagsrassismus, das Ausgenütztwerden durch Renate, und der harte Versuch der absoluten Integration. Der weibliche Teil der Familie hatte es geschafft, mit viel Entbehrungen und Fleiß.
Die Autorin berichtet leicht, locker, in einer lakonischen Sprache von ihren Erfahrungen, ihrem Leben als Ausländerkind. Es ist sehr authentisch, mit der nötigen Prise Humor. Und schockierend ehrlich. Es dreht sich hauptsächlich um die Vater-Tochter-Beziehung, warum diese immer wieder auf einen sehr harten Prüfstand gestellt wurde, und schließlich zu einer Entfremdung führte.
„Ein schönes Ausländerkind“ wurde das Mädchen genannt.
S. 70: „Immer und immer wieder wurde mir versichert, ich sei ein schönes Ausländerkind. Nicht nur Renate, auch unsere Nachbarn und die Familien meiner Freunde betonten regelmäßig, wir seien nicht wie die anderen."
Im Prinzip ist es der Alltag einer Familie, welche eine zweite Heimat sucht, findet, und von den Schatten der Vergangenheit dennoch immer wieder eingeholt wird. Wunderbar autofiktional erzählt und somit eine ganz große Leseempfehlung für diesen Roman, der noch lange nachhallt.

Bewertung vom 02.04.2024
Eskalationsstufen
Rieger, Barbara

Eskalationsstufen


ausgezeichnet

Das Portrait einer toxischen Beziehung, geschickt in Szene gesetzt.

„Eine Liebesgeschichte und das Gegenteil davon“ - so lautet der erste Satz des Klappentextes. Und damit ist eigentlich schon alles gesagt. Dieser simple Satz schraubt die Erwartung hoch, baut eine Spannung auf, obwohl der Roman noch gar nicht begonnen hat.
Und der Satz hält, was er verspricht. Es fühlt sich anfänglich an wie eine Romanze, ja beinahe wie ein Match „Made in Heaven“. Eine Beziehung entwickelt sich, baut sich auf, bettet sich in Watte wie in einem gemütlichen Nest. Und dennoch wartet man beim Lesen auf die Dornen, die durch diese flauschige Zweisamkeit stechen. Aber werden sie überhaupt stechen? Passiert denn was?
„Es wird eskalieren“ verspricht eine weitere Ankündigung.
Ohne jetzt viel zu spoilern: der Himmel wird dunkler, kurzes Donnergrollen, wieder lichte Momente, ein Nachgeben. Dabei glaubt man, dass manche Zeichen von außen gesehen offensichtlich sind. Oder doch nicht. Situationen, türmen sich auf …
Julia malt Baumfiguren, hat mit Ausstellungen aber noch mäßige Erfolge. Sie trifft auf Joe, der schon mit mehr Ausstellungen und Erfahrung punkten kann. Er malt Portraits von toten Frauen, und suhlt sich im Schmerz, dass seine Frau verschwunden (und mittlerweile für tot erklärt) ist. Er zeigt sich empfindsam, tritt als Gönner und Förderer von Julia auf. Irgendwann wird mehr daraus, eine Beziehung wächst. Julia, obwohl noch in einer festen, aber offenen Beziehung mit David (der selten zu Hause ist), beginnt sich in Joe zu verlieben. Zuerst dachte sie, es sei nur körperlich, doch das Herz sagt ihr eines Tages etwas anderes.
Bald schlittert Julia, vorerst äußeren Einflüssen geschuldet, in eine Art Abhängigkeit von Joe. Von David verlassen, aus der gemeinsamen Wohnung gedrängt, zieht sie bei Joe ein. Die erhofften Freiräume gestalten sich bald als gläserne Tresore. Joes narzisstische Eigenarten, sein toxischer Drang Julia besitzen zu wollen, tragen ihr nötiges dazu bei. Als dann auch noch die Pandemie beginnt … mehr möchte ich nicht verraten: LESEN!
Der Titel ist sehr geschickt gewählt. Die Autorin erklärt im Nachwort an welche Kriterien sie sich gehalten hat, um den Plot aufzubauen. Damit komponiert Barbara Rieger einen hervorragenden Roman, der von seinen Zuspitzungen (Eskalationen) und deren Abschwächungen lebt, Wellen gleich, die stetig höher schlagen.
Der Satzbau ist knapp, prägnant. Oft lässt Rieger die Sätze mit einem kurzen „ ,aber“ abbrechen. Der Verdacht, welchen man beim Lesen hat, wird so geschickt bestätigt. Auf der anderen Seite wirft dieses geniale Textkonstrukt Fragen auf, ob es tatsächlich so ist, wie man es vermutet und sich hineinversetzt. Und dann möchte man immer wieder in Zeilen hineingreifen, die Handlung aufhalten, das Offensichtliche abwehren. Ganz große Erzählkunst!
Sehr gerne gebe ich eine absolute Leseempfehlung für diesen herausragenden Roman.