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Benutzername: 
Kwinsu
Wohnort: 
Salzburg

Bewertungen

Insgesamt 73 Bewertungen
Bewertung vom 19.08.2023
Terafik
Karkhiran Khozani, Nilufar

Terafik


gut

Nilufars Vater Khosrow ist Iraner; nachdem sich seine Frau von ihm getrennt hatte, verließ er Deutschland und kehrte in den Iran zurück. Nun, mit Anfang 30, soll Nilufar ihn in dem diktatorischen Land besuchen. Die Lust dazu ist enden wollend, doch Wahl bleibt ihr scheinbar keine. So bricht sie auf in ein Land, dass ihr surreal und fremd erscheint und doch ist es ein Teil von ihr. Dort angekommen, wird sie in die komplizierten Verstrickungen ihrer Familie hineingezogen und wie am Präsentierteller herumgereicht. Anstatt das Land kennenzulernen, trifft sie auf die komplexen Verflechtungen ihrer Großfamilie und fühlt sich von Tag zu Tag mehr eingesperrt.

Mutmaßlich verarbeitet die Autorin in "Terafik" ihre eigene Lebensgeschichte, ihre Suche nach ihrer eigenen Identität. Stilistisch durchaus spannend, wechseln sich die Erzählperspektiven ab: Nilufar lässt den/die Leser*in an ihrer inneren Zerrissenheit bezüglich ihrer Identität, der Beziehung mit ihrem Vater, ihrer Mutter und mit ihrer Lebensgefährtin teilhaben. Zwischendurch - mittels kursiver Schrift gekennzeichnet - wird das Leben ihres Vaters, vor allem jenes in Deutschland, nachgezeichnet. Immer wieder werden auch Antworten auf Fragen, die Nilufar an ihn stellt, eingestreut. Ausführlich wird auch berichtet, wie es ist, als "Ausländerkind" in Deutschland aufzuwachsen und wie Menschen aus anderen Ländern als Menschen zweiter Klasse behandelt werden - diese Schilderungen zu lesen, ist schmerzhaft! Ein seltsames Bauchgefühlt bot sich auch bei den Beschreibungen der Familienzusammenkünfte im Iran - die strikte Rollenaufteilung der Geschlechter, die vorausgesetzte Gastfreundlichkeit und ein Interesse für Nilufar, bei dem der/die Leser*in nicht weiß, ob es ehrlich ist, oder auch als Teil des Rollenspiels Familie gilt. Immer wieder verfällt die Autorin stilistisch auch in sinnsuchende Poetik.

Nach Beendigung des Buches bin ich mir aber nicht sicher, um was es in Terafik tatsächlich gehen sollte. Der rote Faden taucht zwar immer wieder auf, verläuft sich aber zwischendurch auch wieder im Sande. Dramaturgisch beginnt Terafik interessant, mit den unterschiedlichen Erzählebenen, diese werden aber im Laufe des Buches immer weniger und das Autobiographische - durchmischt mit philosophischer Poetik - dominiert. Trotzdem ich die Thematik spannend fand und der Schreibstil grundsätzlich ansprechend ist, hat mir aber der Spannungsbogen komplett gefehlt. Wie ich das Buch beendet habe, blieben viele Fragezeichen und ein runder Abschluss fehlte. Gestört hat mich auch, dass doch recht viele Rechtschreibfehler im Buch sind (ich habe das Ebook gelesen. Natürlich meine ich bei diesen Rechtschreibfehlern nicht die Zitate des Vaters, der in gebrochenem Deutsch schreibt, sondern tatsächliche "Schlampigkeitsfehler"). Was aber auf alle Fälle hängen bleibt, ist, dass das Konstrukt "Familie" im Iran sehr unterschiedlich zum Mitteleuropäischen Konzept ist - und das ist spannend und erweitert den Horizont!

Bewertung vom 13.08.2023
Simone
Reich, Anja

Simone


ausgezeichnet

Auf den Spuren eines Todes

Was muss geschehen sein, dass sich ein Mensch das Leben nimmt? Hätte der Tod verhindert werden können? Und gibt es eine Person oder ein Ereignis, die bzw. das Schuld am selbstgewählten Ableben ist? Diese und mehr Fragen stellt sich auch die Journalistin und Autorin Anja Reich. Ihre gute Freundin Simone hat sich Mitte der 1990ern das Leben genommen, scheinbar vollkommen unvorhersehbar. In "Simone" begibt sich Reich auf Spurensuche und zeichnet den Lebensweg ihrer Freundin und deren Familie nach: von der Lebensgeschichte ihrer Großeltern und Eltern, über das Aufwachsen Simones in der DDR, hin zum einschneidenden Ereignis der Wiedervereinigung bis zum mutmaßlichen Selbstmord der knapp 27-Jährigen.

Zugegebenermaßen bin ich, wie ich begonnen habe das Buch zu lesen, davon ausgegangen, dass es sich bei "Simone" um einen fiktiven Roman handelt - aus dem Klappentext war für mich nicht ersichtlich, dass Anja Reich tatsächlich über reale Begebenheiten schreibt. Dementsprechend langatmig empfand ich den Beginn des Buches - Schilderungen über die Vorfahren Simones, geschichtliche Überblicke, es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis sie zu der "Hauptprotagonistin" kam. Doch als Simone die Bühne des Buches betritt und klar wird, dass Reich versucht ihr Leben und ihren Tod bestmöglich nachzuzeichnen, um eine Erklärung für das Unvorstellbare - den Suizid - zu finden, wird das Werk spannend. Einfühlsam aber schonungslos ehrlich porträtiert sie Simone, ihre anziehende offene Art genauso wie ihre scheinbare Herrschsucht und Unsicherheit. Sie setzt ihrer Freundin ein Denkmal, das als Beispiel dienen kann, nachzuempfinden, wie psychische Erkrankungen Menschen beeinflussen und verändern - für Außenstehende oft nicht erkennbar.

Das Buch ist harte Kost. Es ist berührend, mitnehmend und anstrengend zugleich. Ich finde es empfehlenswert für alle, die sich dafür interessieren, was in einem Menschen mit einer psychischen Erkrankung (mit Suizidgedanken) vorgeht; es kann anhand einer tatsächlichen Lebensgeschichte einiges erklären und fühlbar machen. Abraten würde ich aber jenen, die sich in akuten Krisen befinden oder die eine Trauerbewältigung nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen noch nicht abgeschlossen haben, zu schwer und bedrückend wiegt das Thema.

1 von 1 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 24.07.2023
Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
Knecht, Doris

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe


ausgezeichnet

Doris Knechts namenlose Protagonistin stellt in "Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe" fest, dass sie viele Begebenheiten ihres Lebens tief ins Un(ter)bewusste vergraben hat. In einer Phase des Umbruchs - ihre Kinder werden flügge, weshalb sie sich auf die Suche nach einer anderen, leistbaren Wohnung machen muss - gräbt sie ihre Erinnerungen aus und entdeckt nach und nach, was sie zu der Person machte, die sie heute ist.

Der neue Titel von Doris Knecht lockt mit einem ansprechenden Titel und Cover - es lässt sich erahnen, dass auch ein Hund eine gewisse Rolle in dem Roman spielen wird. Die Story wird autofiktional erzählt. Die gewählte Sprache erschien mir anfänglich sehr galoppierend, doch gewöhnte ich mich schnell an das Tempo und rasch konnte ich mich in die Titelfigur hineinversetzen. Die einzelnen Kapiteln sind mit einem eingängigen Header tituliert und halten sich meist recht kurz, was das Buch zusätzlich sehr kurzweilig macht. Die Plots sind nachvollziehbar, aber spannend und durchaus humoristisch. Die Hauptprotagonistin lässt die Leser*innen in fesselnder Art und Weise an der Entdeckung ihres Vergessenen teilnehmen. Treffend analysiert sie dabei ihre Beziehung zu ihrer Familie, ihren Kindern, ihren Freund*innen und auch zu den Männer, die in ihrem Leben immer wieder auftauchten. Lediglich der Kindsvater wird eher ausgeklammert und auch die Tatsache, dass ihr Hund nur "der Hund" genannt wird, wirkt etwas unpersönlich.

Ich hätte gerne noch viele Seiten mehr an dem Leben der Protagonistin teilgenommen, so sympathisch ist sie mir geworden. Von Beginn an schafft es die Autorin ein Kopfkino bei der bzw. dem Leser*in zu starten. Das Buch hinterlässt ein wohliges Gefühl und ist definitiv ein Werk, was mir in Erinnerung bleiben und in Zukunft erneut gelesen wird.