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Renas Wortwelt

Bewertungen

Insgesamt 187 Bewertungen
Bewertung vom 16.10.2024
Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13
Klüpfel, Volker;Kobr, Michael

Lückenbüßer / Kommissar Kluftinger Bd.13


sehr gut

So unterhaltsam die Kluftinger-Reihe der beiden Erfolgsautoren ist, so gleich ist auch immer das Schema. Ein komplizierter Mordfall muss aufgeklärt werden, parallel durchleidet Kluftinger ein privates Tal der Tränen und dies ist stets gepaart mit skurrilen Aufeinandertreffen mit seinem Lieblingsfeind Dr. Langhammer. Dazu eine reichlich bemessene Dosis der üblichen Tollpatschigkeit des Kommissars.
Genauso läuft also auch der neue Roman ab. Bei einer großangelegten Polizeiübung kommt ein Polizist zu Tode. Es schaut nach Unfall aus, doch schnell stellt sich heraus, dass es ein Mord war. Die Hintergründe des Getöteten sind eher dubios, scheint er doch in rechten Kreisen zu verkehren. Zumindest führen die Spuren ziemlich schnell in diese Richtung.
Auf der Suche nach Spuren wird in Kluftiger der Pilzjäger geweckt und über dem Sammeln der begehrten Gewächse vergisst er fast das Ermitteln. Diese Nebengeschichte nimmt recht breiten Raum ein im Roman, trägt allerdings wenig zur Haupthandlung bei.
Abgelenkt wird der Kommissar zusätzlich durch seinen Wahlkampf. Hat er sich doch auf die Liste für die Wahl zum Gemeinderat aufstellen lassen. Zuerst nur als Lückenfüller, auf dem letzten Listenplatz. Als er jedoch spitzkriegt, dass Intimfeind Langhammer sich für die gegnerische Partei hat ebenfalls aufstellen lassen und seinen Wahlkampf mit großer Vehemenz bestreitet, wächst auch in Kluftiger der Ehrgeiz. Von nun an wird aus ihm ein überzeugter Wahlkämpfer, mit allem was dazu gehört. Natürlich, wie soll es anders sein, auch hier stellt er sich meist selten dämlich an. Immerhin beherrscht er inzwischen die Sozialen Medien etwas besser.
Dieser zweite Handlungsstrang sorgt dann für reichlich lustige Begebenheiten, wenn Klufti immer wieder wichtige Fototermine vergisst und ähnliches. Leider, wie immer, gerät über all dem Privaten der Kriminalfall öfter mal in den Hintergrund, laufen die Ermittlungen eher nebenher.
So entsteht wenig Spannung, auch wenn sich die über 400 Seiten flott herunterlesen. Wann wäre Klufti auch schon mal langweilig gewesen? Insgesamt aber ist der neue Roman schon etwas ernster gestrickt als die letzten Vorgängerbände. Corona und die Nachwehen spielen immer wieder ein Rolle, der Umgang damit, die Aufarbeitung, die Reaktionen und die Auswirkungen auf viele Leute werden thematisiert. Das kam mir etwas überspitzt vor, für die Zeit, die seither vergangen ist, aber trotzdem wirkte es und sorgte für den nötigen Tiefgang. Zusätzlich gab es immer wieder so etwas wie einen erhobenen Zeigefinger, wenn es um den Umgang miteinander, in den Sozialen Netzwerken, in Wahlkämpfen und ganz grundsätzlich geht. Am Ende hält Kluftiger über dieses Thema schließlich sogar eine Rede.
Insgesamt etwas ernsthafter als die letzten Romane der Reihe, ein bisschen mehr Spannung, mehr Konzentration auf den Krimifall würde der Kluftinger-Buchreihe aber gut tun.
Volker Klüpfel & Michael Kobr – Lückenbüßer
Ullstein, September 2024
Gebundene Ausgabe, 428 Seiten, 24,99 €

Bewertung vom 14.10.2024
Sörensen macht Urlaub / Sörensen Bd.5
Stricker, Sven

Sörensen macht Urlaub / Sörensen Bd.5


ausgezeichnet

Nicht der erste erschienene Band, aber der erste, den ich las. Der neue Krimi um den von einer Angststörung geplagten Kommissar Sörensen. Die ersten Bände wurden sehr erfolgreich und absolut gelungen verfilmt, mit dem genialen Bjarne Mädel in der Hauptrolle.
Diesen Schauspieler hat man, sofern man die Filme kennt, nun stets vor Augen, seine Stimme stets im Ohr bei der Lektüre des Romans. Und das passt so perfekt, ist so stimmig, dass allein das schon die halbe Garantie für die Qualität dieser Lektüre ausmacht.
Allerdings dauert es eine ganze Weile, bis die Handlung Fahrt aufnimmt, bis der eigentliche Kriminalfall nach und nach mehr in den Vordergrund tritt. Dabei laufen über lange Zeit zwei unabhängige Handlungsstränge nebeneinanderher.
Der eine folgt Sörensen, der immer nur so genannt wird, weil er seinen Vornamen hasst, in den Urlaub. Darauf hat er eigentlich so überhaupt keine Lust, daher kommt ihm die Bitte seiner Ex-Frau Nele gerade recht. Sie möchte, dass er in Hamburg bei ihr und der gemeinsamen Tochter Lotta einen Stopp auf seiner Reise nach Österreich einlegt, da sie bei etwas seine Hilfe braucht. Es stellt sich heraus, dass eine Freundin von Nele in Gefahr zu sein scheint. Aileen, die nur Achim genannt wird, fühlt sich verfolgt von einem Mann mit Hoodie und Schlauchschal. Sörensen, eher widerwillig, macht sich auf die Suche nach diesem Mann. Doch dann eskaliert die Situation gewaltig.
Die zweite Handlung folgt Sörensens Kollegin Jennifer im Revier in Katenbüll, die es mit einem Mord zu tun bekommt. Ein junger Mann wurde tot aufgefunden, nur scheint es zuerst keinerlei Motiv zu geben. Das größere Problem für Jennifer aber ist der Vertretungskollege Mommsen, der für Sörensen einspringen soll. Ein absoluter Kotzbrocken, was aber so herrlich komisch geschildert wird, dass es einfach Spaß macht, seinen Eigenlobhudeleien zu folgen.
Herrlich komisch auch die Szenen, in denen Sörensen und Jennifer sich jeweils Idylle vorspielen. Er, der so tut, als sei er in Österreich längst angekommen, sie, die ihm nichts vom aktuellen Fall erzählt.
Natürlich, das ist zu erwarten, laufen die beiden Handlungsstränge irgendwann zusammen, haben die beiden Fälle miteinander zu tun. Sobald das geschieht, bekommt der Roman erheblich an Tempo, wird der Krimi mehr zum Hauptteil des Romans.
Vorher ist es eher das Psychogramm vieler kaputter Seelen. Alle, Sörensen, Aileen, Jennifer und auch ihre Kollegen in Katenbüll, haben ihre Wunden, ihren Narben, ihre Störungen. So nimmt sich der Autor sehr viel Zeit, diese zu schildern. Er zeigt, wie die Angststörung immer wieder in Sörensen rumort, wie er sie bekämpft. Wie er mit dem Urlaub hadert, sich mühsam wachhält, weil er doch eigentlich jeden Tag weiterfahren möchte. Wie er an seiner Tochter hängt, wie stark seine Gefühle für Nele immer noch sind.
Etwas gestört haben den Handlungsfluss die immer mal wieder vorkommenden Einschübe, in welchen Nebenfiguren ihre Gedanken kundtun. Mal die Mutter des in Katenbüll ermordeten Mannes, mal ein Kioskbesitzer, der Sörensen von früher kennt, mal einfach ein Mann auf der Straße. Das ist einerseits schon ein bisschen witzig, andererseits holt es einen aus der Spannung heraus und bringt nichts oder wenig für den Handlungsverlauf.
Aber insgesamt ist das ein absolut gelungener Roman, halb Krimi, halb die Geschichte armer, getriebener Seelen. Dank des in fast jedem Satz durchschimmernden, gut platzierten Humors, der leisen Ironie und der wunderbar und sehr geschickt formulierten Spitzfindigkeiten, ist dieses Buch ein wirkliches Highlight. Besonders die Schilderungen von Jennifers Qualen, wenn sie die Tiraden von Mommsen, seine Frauenfeindlichkeit, seine Überheblichkeit und seine Selbstverliebtheit ertragen muss, sind herrlich komisch (auch wenn sie mich als Frau genauso wütend machten wie Jennifer).
Ein unbedingt zu empfehlender Roman, auf dessen hoffentlich folgende Verfilmung ich mich jetzt schon freue.
Sven Stricker - Sörensen macht Urlaub
rororo, September 2024
Taschenbuch, 573 Seiten, 14,00 €

Bewertung vom 11.10.2024
Wintergeister
Collins, Bridget;Hurley, Andrew Michael;Kidd, Jess

Wintergeister


sehr gut

Wieder versammelt die preisgekrönte Autorin Bridget Collins Gruselgeschichten namhafter Schreibenden in einem wunderschön gestalteten Buch, das erneut zu passenden Jahreszeit erscheint.
Aus dem vorigen Band sind neben der Herausgeberin bereits die Autorinnen Jess Kidd (eine meiner Lieblingsschriftstellerinnen), Laura Purcell sowie der Autor Andrew Michael Hurley bekannt. Neu in der diesjährigen Ausgabe hinzugekommen sind Catriona Ward und Susan Stokes-Chapman.
Letztere erzählt vom „Witwenweg“, einer dunklen Gasse, welche die Fächermacherin Honoria jeden Abend entlang laufen muss, um zu ihrem Haus zu gelangen. Honoria wird von vielen Menschen bedauert, denn ihr Ehemann ist seit Wochen spurlos verschwunden. Es ist nun kurz vor dem jährlichen Weihnachtsball des ortsansässigen Lords, für welche Gelegenheit viele Damen des Ortes neue Fächer benötigen. So auch die Tochter des Lords, für die Honoria ein besonders schönes Stück anfertigt. Eine wirklich gruselige Geschichte, die auch viel Spannung entwickelt.
Auch sehr beeindruckt hat mich die Geschichte „Das Lied von Glocken und Ketten“ von Laura Purcell, in welcher die Gouvernante Abigail große Mühe hat, ihre Schutzbefohlenen unter Kontrolle zu halten und zu ordentlichem Benehmen zu erziehen. Schließlich, um die Ungebärdigen zu strafen und zu schrecken, erzählt sie eine düstere Schauergeschichte. Das aber zeitigt üble Folgen.
Jess Kidds Geschichte „Ada Lark“ handelt von einer betrügerischen Frau, die angeblich mit Verstorbenen Kontakt aufnehmen kann. Ada, ein kleines Waisenmädchen, spielt bei dem Betrug eine entscheidende Rolle. Doch plötzlich scheint sie tatsächlich Botschaften aus dem Jenseits zu empfangen.
Dann gibt es die Geschichte von Andrew Micheal Hurley über ein altes Theaterstück, das am Ende der Aufführung für einen der Schauspieler eine ganz schreckliche Überraschung bereithält. Bridget Collins erzählt von einer Schriftstellerin, die sich von einer steinernen Figur bedroht fühlt und Catriona Word schließlich von einer Gestalt, die immer dann auftaucht, wenn die Protagonistin lügt.
Nicht alle sechs Geschichten sind gleich schaurig, nicht alle wirklich gruselig. Die Geschichten spielen zu ganz unterschiedlichen Zeiten, mal in früheren Jahrhunderten, mal nach dem Zweiten Weltkrieg, mal erfährt man es gar nicht, was vielleicht ein gewisses Manko ist.
Gemeinsam ist den Geschichten die fast immer wirklich überraschende Pointe, das verblüffende Ende. Und vor allem auch die meisterhafte Schreibkunst der hier versammelten Schreibenden. Wie es ihnen gelingt, die passende Stimmung, die unheimliche Atmosphäre zu erschaffen, das ist schon wirklich genial. Auch wenn man sich nicht unbedingt wirklich fürchtet bei der Lektüre, so ist das gesamte Buch doch sehr unterhaltsam, wunderbar geschrieben und wirklich gelungen.
Eine uneingeschränkte Leseempfehlung für alle, die englische Schauerromane lieben.
Bridget Collins (Hrsg.) – Wintergeister
aus dem Englischen von Sibylle Schmidt
DuMont, September 2024
Gebundene Ausgabe, 236 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 09.10.2024
Zwei Leben
Arenz, Ewald

Zwei Leben


gut

Es ist ganz sicher eine Binsenweisheit, dass ein Autor nicht immer gleich gut schreibt, dass Leser:innen nicht alle seine Werke gleich gut gefallen. Bei Ewald Arenz ist das für mich sehr ausgeprägt, haben mich doch vor allem zwei seiner bisherigen Romane sehr berührt und überzeugt, andere dagegen konnten mich nicht erreichen.
Nun also ein neuer Roman aus der Feder dieses fleißigen Autors, dessen „Alte Sorten“ oder insbesondere „Der große Sommer“ absolute Highlights waren und sind. Diesmal entführt er uns in ein Dorf in Süddeutschland, zu Beginn der 70er Jahre. Zwei Frauen stehen im Mittelpunkt der Handlung, aus ihren Perspektiven verfolgen wir die Ereignisse.
Da ist Roberta, Anfang 20, die für eine Schneiderlehre in der Stadt war, ein paar Jahre von zuhause fort. Sie hat in einer Fabrik gelernt und gearbeitet, war in einem ganz anderen Umfeld als sie es vom heimatlichen Dorf gewöhnt ist. Ihre Eltern betreiben einen Bauernhof, wo es ständig und immer viel zu tun gibt. Vater und Mutter sind wortkarg, es interessiert sie nur die zurückkehrende und schmerzhaft vermisste Arbeitskraft, ihr Interesse an Robertas Wünschen oder Gefühlen ist so gut wie nicht vorhanden.
Und da ist Gertrud, die Frau des Pfarrers. Seit Jahren lebt sie in dem Dorf, ist dort aber nie heimisch geworden. Solange ihr Sohn Wilhelm noch klein war und ihrer Obhut bedurfte, war sie beschäftigt. Doch inzwischen ist er erwachsen, leistet gerade seinen Zivildienst ab, und Gertrud fühlt sich mehr denn je fehl am Platz. Sie erstickt an Langeweile, vermisst das Leben in der Großstadt Hamburg, in der sie aufwuchs.
Dass sich zwischen Roberta und Wilhelm eine große und berührende Liebesgeschichte entwickelt, bekommt Gertrud, so verstrickt in ihr eigenes Selbstmitleid, nicht mit. Roberta, der selbst nicht wirklich bewusst ist, dass sie eigentlich lieber als Schneiderin arbeiten würde statt Bäuerin zu sein, sieht für sich aber keine Alternative, als einziges Kind ihrer Eltern. Für Roberta ist die Arbeit auf dem Hof mit allem was dazu gehört, selbstverständlich. Sie redet es sich schön, malt sich das Leben idyllischer als es ist.
So glaubt sie auch nicht an eine Zukunft mit Wilhelm, der irgendwann zum Studieren fortgehen wird, während sie ans Dorf gebunden ist. Ihre Beziehung halten die Beiden vor allen geheim, der Grund dafür hat sich mir bei der Lektüre nicht so ganz erschlossen. Derweil geht Gertrud auf eine zweimonatige Reise mit ihrem Bruder durch Europa, kommt zurück und empfindet die dörfliche Enge nun umso schlimmer.
Dann geschieht vieles auf einmal, bis es schließlich in einem Unglück kumuliert. Und am Ende sind alle da, wo sie am Anfang waren.
Wie immer schafft Ewald Arenz es, die genauen Strömungen, die Atmosphäre des Dorfes, der Landwirtschaft und des Pfarrhaushaltes exakt einzufangen. Er arbeitet viel mit allen Sinnen, schildert stets die Gerüche, die bei Roberta immer wieder bestimmte Erinnerungen und Assoziationen auslösen. Arenz widmet dabei viele Sätze, viele Worte diesen Beschreibungen. Doch leider empfand ich diesmal alles als zu süßlich, zu idyllisch.
Die Handlung nimmt an mancher Stelle schmonzettenhafte Züge an, alles wird ein bisschen zu dick aufgetragen. Nach etwa zwei Dritteln wird es geradezu groschenheftartig, wird es banal und kitschig. So gut der Autor Landschaft und Stimmung der Natur beschreiben kann, so wenig gelingt es ihm in diesem Roman, die Gefühle der Figuren in Worte zu fassen. Besonders störend das ständige Lächeln. Alle lächeln stets, auch an Stellen, an denen es völlig unpassend ist. Lächeln ist der einzige Gefühlsausdruck. Abgesehen von Robertas Umgang mit dem Unglücksfall, hier wiederum schafft es der Autor, ihre Gefühle sehr bildhaft und einfühlsam zu beschreiben.
Insgesamt ein etwas zu kitschiger Frauenroman um künstlich aufgebauschte Probleme. Nicht so überzeugend wie andere Bücher dieses guten Autors.
Ewald Arenz – Zwei Leben
DuMont, September 2024
Gebundene Ausgabe, 363 Seiten, 25,00 €

Bewertung vom 07.10.2024
Charly Broms Dilemma
Linder, Lukas

Charly Broms Dilemma


sehr gut

Charly Brom, Vater eines kleinen Sohnes, wird durch einen Anruf in seine Vergangenheit zurückgeworfen. Die liegt in seiner Heimat, wo er als Jugendlicher schwere Schuld auf sich geladen zu haben glaubt. Dieser Anruf wirft ihn völlig aus der Bahn, treibt ihn nach Hause, zu Mutter und Großmutter.
Diese beiden hausen seit Jahrzehnten unter einem Dach, seit Charlys Vater bei einem Fenstersturz ums Leben kam. Die beiden Frauen umkreisen sich, ärgern sich gegenseitig. Die Großmutter, rüstig für ihr Alter, tut, als wäre sie schwer krank. Die Mutter, neuerdings mit Männerbekanntschaft, hat ihr Faible für Antiquitäten entdeckt.
Charly trifft nun in seiner Heimat auch alte Bekannte wieder, wird immer wieder schmerzhaft an Ereignisse aus seiner Kindheit und Jugend erinnert und ist getrieben von der Sorge, sein damaliges Verbrechen könnte ans Licht kommen. Er ist hin und her gerissen zwischen Hoffen auf weiteres Verschweigen und dem Drang, alles zu gestehen. Darunter leidet seine Beziehung zu Nina, der Mutter seines Sohnes Emil.
Erst nach und nach dröselt sich die Geschichte auf, zeigt sich, was seine damalige anhimmelnde Verliebtheit in die Metzgersgattin mit den Geschehnissen zu tun hat, wie die anderen Protagonisten der seinerzeitigen Ereignisse darin verstrickt sind.
All das wird sehr humorvoll erzählt, mit viel Augenzwinkern, mit liebevoller Ironie und stark überzogenen Charakteren. Besonders Charlys Mutter und Großmutter sind großartig gezeichnet, herrlich skurril, absolut verschroben und wunderbar liebenswert. Charly selbst ist arg verpeilt, völlig unorganisiert, hat nach und nach den Überblick über sein Leben gänzlich verloren und torkelt sozusagen durch das Geschehen.
Aber auch all die anderen Einwohner bekommen den Spiegel, eigentlich einen Zerrspiegel, vorgehalten. Alles wird leicht überhöht beschrieben, voller freundlichem Spott, aber doch auch so nah an den Figuren, dass sie bei aller Überzeichnung dennoch authentisch wirken.
Am Ende allerdings fragt man sich doch, was der Roman uns schließlich eigentlich erzählen, was der Autor uns sagen will. Abgesehen von der vergangenen Schuld Charlys fehlt ein roter Faden, fehlt eine stringente Handlung. Es gibt ständig Rückblicke auf die damaligen Ereignisse, die jedoch weder systematisch noch chronologisch eingefügt sind. Vielmehr wechselt das Erzählen meist urplötzlich von der aktuellen Handlung in den Rückblick, was man manchmal erst nach einer ganzen Weile erkennen kann, da die Übergänge nahtlos aneinander gefügt sind.
Ein stilistisch außergewöhnlicher, sehr skurriler Roman mit interessantem Personal und witziger Ausgangssituation, bei dem aber doch nicht alles hundertprozentig überzeugt.
Lukas Linder – Charly Broms Dilemma
Kein & Aber, September 2024
Gebundene Ausgabe, 286 Seiten, 23,00 €

Bewertung vom 04.10.2024
Nachbarinnen
Danz, Ella

Nachbarinnen


gut

Im Ansatz eine interessante Geschichte, mit dem Stil, in welchem sie umgesetzt wurde, wurde ich allerdings nicht warm. Vier Frauen, Nachbarinnen in einem Mehrfamilienhaus in Berlin, hadern auf die eine oder andere Weise mit ihrem derzeitigen Leben. Dabei hat die eine mehr, die andere eher weniger Grund dazu.
Und es geht schon wieder um Mütter – offensichtlich ein derzeit sehr populäres Thema in der Bücherwelt. Die vier Protagonistinnen, aus deren jeweiliger Perspektive der Roman erzählt, sind Vera, Frederike, Tanja und Jenny.
Vera ist bei weiten die Älteste, eine Kriminalschriftstellerin (wie die Autorin des Romans selbst auch). Ihre Tochter ist längst erwachsen und lebt in New York. Doch auch Vera mutiert in gewisser Weise wieder zu einer Mutter mit einem zu betreuenden Kind, denn ihr Mann ist, seitdem ein Aneurysma in seinem Gehirn platzte, behindert, wenn auch noch kein wirklicher Pflegefall.
Tanja ist Mutter dreier Kinder, alleinerziehend, unkompliziert, stets gut gelaunt. Sie arbeitet als Kellnerin und liebt Dylan, einen irischen Musiker, der allerdings mehr durch Abwesenheit glänzt.
Frederike lebt seit kurzer Zeit zusammen mit Thomas, der schon länger in diesem Haus wohnte. Sie haben einen kleinen Sohn, Frederick, der ständig krank ist, Krampfanfälle hat. Sie hält sich für die Einzige, die weiß, was ihm guttut. Außerdem hat sie Angst vor ihren Eltern, besonders vor ihrem Vater, die immer wieder ihren Besuch ankündigen.
Und Jenny schließlich hat nichts anderes im Kopf als unbedingt und sofort schwanger zu werden. Alles dreht sich für sie um dieses Thema, sie ist wie besessen davon, spricht von nichts anderem, quält ihren Freund zu den fruchtbaren Tagen mit ihr zu schlafen und glaubt stets bereits am nächsten Tag zu spüren, dass es diesmal geklappt hat.
Vera ist diejenige, die immer wieder versucht, mit ihren Nachbarinnen in Kontakt zu treten. Sie lädt sie ein, sie spricht mit ihnen. Während Jenny und Tanja darauf eingehen, zieht sich Frederike eher zurück, bleibt ablehnend, verschlossen.
Immer wieder wechseln die Perspektiven, werden die Ereignisse mal aus der Sicht der einen, mal aus der einer der anderen Frauen erzählt. Dies in Ich-Form und so nah in der jeweiligen Figur, dass man quasi mit ihr gemeinsam erlebt, was geschieht. Man folgt ihren aktuellen Gedanken, als wäre man in ihr drin. Bei Frederike wird so getan, als schreibe sie Tagebuch, bei den anderen ist man direkt in ihren Köpfen.
Das irritiert, das ist gewöhnungsbedürftig. Es fiel mir schwer, damit warm zu werden, zumal dort, wo ich die Gefühle der Figur nicht nachvollziehen konnte, wo sie mich teils eher abstießen, wie z.B. die Besessenheit von Jenny. So hat das Thema des Romans durchaus Potenzial, wenn auch vieles abgedroschen ist und thematisch zu oft auserzählt wurde. Aber die Umsetzung konnte mich nicht überzeugen, statt, wie sicher beabsichtigt, mich näher an die Figuren heranzuführen, stieß sie mich eher von ihnen ab. Warm wurde ich mit keiner der Protagonistinnen, außer vielleicht Tanja, die von allen die natürlichste, authentischste war. Und diejenige, die wirklich reichlich Probleme hatte und dennoch am wenigsten jammerte.
Ein Roman, der durchaus Spannungsmomente hat (auch wenn man vieles bald ahnt), der aber wenig Neues erzählt.
Ella Danz – Nachbarinnen
gmeiner, September 2024
Taschenbuch, 313 Seiten, 18,00 €

Bewertung vom 02.10.2024
On the Road to Dingsbums
Peters, Joachim H.

On the Road to Dingsbums


gut

Dieser Roman um eine versehentlich entführte Gruppe von Seniorenheimbewohner:innen liest sich flott, man fliegt durch die Seiten und fühlt sich am Ende gut unterhalten. Dabei bleibt das Ganze allerdings auch recht seicht.
Der spielsüchtige junge Mischa muss vor seinen gewalttätigen Gläubigern fliehen und kapert dabei einen etwas altersschwachen Bus. Zu spät bemerkt er, dass darin ein Grüppchen Seniorinnen und Senioren sitzt, begleitet von ihrer jugendlichen Betreuerin Alina.
Mischa, im Grunde kein schlechter Kerl, aber gefangen in seinen immer mehr ausgeschmückten Lügenmärchen, tut zuerst so, als wäre er ein Ersatzfahrer und folgt den Anweisungen des bereits programmierten Navis im Bus. So dauert es, bis Alina misstrauisch wird. Sie durchschaut auch nicht gleich, dass die angebliche Fahrt in ein Wellnesshotel in Wahrheit die Abschiebung der Heimbewohner nach Polen werden soll. Denn der Heimbetreiber ist pleite.
Im Bus befinden sich sechs Senioren, darunter ein ehemaliger Richter, eine ehemalige Schauspielerin mit fortschreitender Demenz, ein pingeliger Finanzbeamter und weitere.
Natürlich erleben die Reisenden unterwegs einige Missgeschicke, lernen sich untereinander besser kennen und verstehen und die Leserin erfährt in ausgedehnten Rückblicken die Geschichten der alten Menschen. Diese sind entweder grundsätzlich einsam oder mit ihren Familien, sprich Nachkommen zerstritten oder haben andere Probleme. Die, natürlich, im Laufe der Geschichte alle wunderbar gelöst werden und am Ende sinken sich alle glücklich in die Arme (außer den Geldeintreibern, deren Geschichte eher nicht so gut ausgeht).
Zwischen die aktuelle Handlung eingeschoben sind, teils viel zu lange, Berichte über die Geschichte der einzelnen Figuren, detailliert, mit vielen nur hier einmal auftretenden Nebenfiguren. Dabei werden zwar die Hintergründe einiger, aber merkwürdigerweise nicht aller mitreisenden Senioren ausführlich beleuchtet, da wird die gesamte Geschichte der Familie des türkischen Automechanikers erzählt, aber über die Geschichte von Mischa oder Alina erfährt man da hingegen eher wenig.
So nett die gesamte Geschichte in diesem Roman ist, so sympathisch die Figuren und so turbulent die Handlung, so vorhersehbar ist sie dann leider auch. Und leider auch voller Klischees, ja man kann fast sagen, die gesamte Geschichte ist ein einziges Klischee.
Da haben wir den kleinen Gauner Mischa mit dem guten Herzen, die gutaussehende junge Betreuerin, den türkischen Autoschlosser, der den Bus repariert, die üblichen Streitereien der Alten mit ihren Kindern, die prügelnden russischen Geldeintreiber, den betrügerischen Heimleiter, die demente Schauspielerin (die allerdings für einige witzige Szenen sorgt) und so fort.
Das alles zu lesen, macht sehr viel Spaß, man wird durch die Geschichte getrieben, will wissen, was noch alles geschieht. Es ist nett und locker-flockig geschrieben, die Dialoge sind lebendig und manche Szenen bringen einen wirklich zum Lachen. Dennoch, am Ende hatte es dann doch ein bisschen wenig Tiefgang.
Joachim H. Peters - On the road to Dingsbums
KBV, August 2024
Taschenbuch, 312 Seiten, 15,00 €

Bewertung vom 30.09.2024
Die Unmöglichkeit des Lebens
Haig, Matt

Die Unmöglichkeit des Lebens


gut

Es gibt Bücher dieses Autors, die ich wirklich liebte, die mich berührten und in Traumwelten entführten. Auch dieser neue Roman um die pensionierte Mathematiklehrerin Grace ist voller Magie, voller unerklärlicher Phänomene.
Grace, tief in ihrer Trauer über den Verlust ihres verstorbenen Mannes steckend, hat auch den frühen Tod ihres Sohnes vor vielen Jahren bis heute nicht verwunden. Sie verkriecht sich in ihrem Haus, versinkt in ihrer Einsamkeit und Trauer. Da erbt sie überraschend ein Haus auf Ibiza, von einer ehemaligen kurzzeitigen Kollegin, mit der sie seit Jahrzehnten keinen Kontakt hatte.
Allein das ist schon erstaunlich, noch viel mehr ist sie selbst davon überrascht, dass sie tatsächlich beschließt, auf die Insel zu fliegen. Zuerst natürlich nur, um das Haus in Besitz zu nehmen und für einen eiligen Verkauf vorzubereiten. Doch auf Ibiza und in dem Haus erwarten sie noch viel mehr Überraschungen, Dinge, die sie nicht versteht, die sie zuerst erschrecken, dann wütend machen und schließlich in ihren Bann ziehen.
Eine große Rolle spielt dabei die Verstorbene selbst, die Grace nicht nur das Haus, sondern auch einen Brief hinterließ. Darin die Anweisung, mit wem sie in Kontakt treten, worauf sie sich einlassen soll. Grace, die bislang wenig Kontakt zu anderen Menschen hatte, öffnet sich immer mehr diesen wundersamen Dingen, die um sie herum und mit ihr geschehen. Dabei steht insbesondere ein Mann im Mittelpunkt, der sie an die magischen und mystischen Ereignisse heranführt. So wird aus der einsamen Grace eine sich auf der Insel immer mehr zuhause fühlende Frau.
Was ihr so alles geschieht, ist mir manchmal ein wenig zu absonderlich. Dank der Macht einer (außerirdischen?) Spezies kann Grace plötzlich die Gedanken von anderen Menschen und sogar von Tieren lesen, nur mit der Kraft ihres Willens Türen öffnen, beim Roulette gewinnen und vieles mehr. Ab diesem Zeitpunkt wurde es mir zu kurios, zu absurd.
Dabei hat dieser Roman sowohl gute wie auch weniger gute Seiten. Wie Matt Haig die Gefühle der Protagonistin, ihre Einsamkeit, ihre Trauer schildert, das geht zu Herzen, das ist eindrücklich und eindringlich. Auch ihre Veränderung, ihre Entwicklung kann er nachvollziehbar beschreiben. Der Autor findet für solche Empfindungen immer die richtigen Bilder, die passenden Worte, wenn auch manches etwas zu überbetont wird. So nervt irgendwann die ständig sich wiederholende Bemerkung von Grace über ihr Alter, immer wieder erwähnt sie das.
Diesmal jedoch war mir der Plot, die merkwürdige Handlung zu verschroben, um mich zu überzeugen, um mich in die Geschichte hinein zu ziehen.
Erzählt wird der Roman in Form eines Briefs, den Grace an einen ehemaligen Schüler schreibt, dem sie all diese Ereignisse detailliert und akribisch schildert. Daran erinnert wird man immer wieder durch eingeschobene Zwischenkapitel, in welchen die Ich-Erzählerin Grace diesen Ex-Schüler direkt anspricht und sich auch auf seine eigenen Probleme bezieht, dabei sehr – um nicht zu sagen zu - philosophisch wird. Ein interessanter Kunstgriff des Autors, dessen Sinn allerdings ein wenig im Dunkeln bleibt.
Insgesamt ein mir etwas zu fantastischer, zu absurder Roman, der stilistisch überzeugt, inhaltlich hingegen weniger.
Matt Haig - Die Unmöglichkeit des Lebens
aus dem Englischen von Sabine Hübner, Bernhard Kleinschmidt und Thomas Mohr
Droemer, August 2024
Gebundene Ausgabe, 412 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 25.09.2024
Frau Morgenstern und das Vermächtnis
Huwyler, Marcel

Frau Morgenstern und das Vermächtnis


ausgezeichnet

Dass ich glühender Fan sowohl von Marcel Huwyler wie vor allem auch von Violetta Morgenstern bin, ist schon kein Geheimnis mehr. Da musste der sechste Band dieser wunderbaren Krimireihe natürlich bei mir einziehen – und wurde sofort verschlungen.
Violetta hat inzwischen einiges durchgemacht, vom angeblichen Tod ihres liebsten Freundes, von der Verfolgung durch ihren einstigen Arbeitgeber, der dubiosen Organisation TELL, bis hin zur Trennung von ihrem Partner und Vertrauten Miguel.
Nun sitzt sie auf einer Insel, genießt sowas ähnliches wie den Ruhestand und lebt zusammen mit dem totgeglaubten Mann ihrer Träume. Da ereilt sie der dringende Ruf vom Chef von TELL, Miguel brauche ihre sofortige und umfassende Hilfe.
Denn dieser sitzt in Haft wegen Mordes, schweigt aber stur über Motiv, Hintergründe und eventuelle Auftraggeber. Auch Violetta, seiner engsten Vertrauten verrät er, als sie ihn aufsucht, nichts. Die Zeit drängt, denn TELL eliminiert seine Mitarbeiter in der Regel, wenn die Gefahr besteht, dass sie Interna verraten. Bevor dies geschehen kann, muss Violetta also unbedingt herausfinden, warum Miguel einen Mordversuch an einem eher zweitklassigen Musiker beging, bei dem stattdessen dessen Leibwächter getötet wurde.
Zuerst verfängt sich Violetta in vielen falschen Spuren, sie verzweifelt an dem hartnäckigen Schweigen Miguels. Auf der Suche nach seinen Gründen dringt sie auch tiefer in seine verwickelte Familiengeschichte ein. Doch erst nach etlichen Sackgassen kommt sie schließlich dahinter, was Miguel zu seiner Tat veranlasste. Die Zeit wird nun immer knapper, in der sie ihn noch retten kann.
Wie immer ist auch dieser Band hochspannend, zumal man über die vergangenen fünf Bücher eine nahe Beziehung zu den Figuren aufbauen konnte. So fiebert man mit ihnen, bangt um Miguels Leben und drückt Violetta die Daumen bei ihren Ermittlungen. Immer ist man nahe an den Figuren, erlebt mit, wie Violetta, die nicht mehr die Jüngste ist, unter Alterswehwehchen zu leiden hat – hier besonders schön der running gag um ihre Hörgeräte, die natürlich später noch eine größere Bedeutung erlangen.
Auch wie immer steckt in dem Roman sehr viel Humor, ist Huwyler Schreibstil leichtfüßig ohne leichtgewichtig zu werden. Die Dialoge sind herrlich, besonders wenn die Menschen stets aneinander vorbei reden oder sich missverstehen. Dazu Violettas sie sehr verwirrende Liebesnöte, trifft sie doch den Mann wieder, der ihr Herz bereits im letzten Band zum Schwingen brachte. Was ihr ein schlechtes Gewissen einbringt gegenüber dem Mann, mit dem sie nun zusammenlebt. Und schließlich will sie auch noch ihr altes Haus zurück, in welches jetzt eine Familie eingezogen ist.
Bei all der Freude an Handlung und Stil ist diesmal aber wohl der Wortspielbazillus, das Alliterationsvirus bei Huwyler ausgebrochen. Diesmal übertreibt er es damit ein bisschen, verfängt sich in seinen eigenen Späßchen an Formulierungen, reiht zu viele, wenn auch durchaus witzige, erfundene Synonyme aneinander. Am Anfang ist das sehr extrem, später lässt es nach, stört aber zuweilen, weil es nicht immer zur aktuellen Stimmung an dieser Stelle im Roman passt.
Davon unbenommen bin ich natürlich uneingeschränkt begeistert von diesem und allen Morgenstern-Romanen und hoffe inständig, dass die Reihe noch eine Weile fortgesetzt wird.
Marcel Huwyler - Frau Morgenstern und das Vermächtnis
grafit, September 2024
Taschenbuch, 282 Seiten, 16,00 €

Bewertung vom 23.09.2024
Gratulieren müsst ihr mir nicht
Polansky, Lilli

Gratulieren müsst ihr mir nicht


sehr gut

Wenn die Protagonistin den Namen der Autorin trägt, handelt es sich dann dennoch um Fiktion oder erzählt der Roman die Geschichte seiner Verfasserin? Diese Frage bleibt leider unbeantwortet.
Allenfalls die Danksagung, in welcher sich Lilly Polansky unter anderem bei Ärzten und Schwestern eines Krankenhauses bedankt, lässt hier Rückschlüsse zu, die aber Vermutung bleiben müssen.
Worum geht es: Lilly ist gerade 20, als ihr ein Herzschrittmacher eingesetzt werden muss. Begonnen hatte es mit ständiger Müdigkeit, schnellem Schlappmachen bei größerer Anstrengung. Es dauert, bis Ärzte herausfinden, was die Ursache ist, zu ungewöhnlich ist dies für einen Menschen in so jungen Jahren.
Das ist auch der Kommentar, den Lilly ständig zu hören bekommt, im Krankenhaus, bei Ärzten, in der Schule, an der Uni, in ihrem gesamten Umfeld. Ein Kommentar, der sie ebenso nervt wie all die anderen, in ihren Augen dummen Sprüche, die man halt so sagt, wenn man nicht weiß, was man sagen soll.
Von ihrer Operation, ihren Krankenhausaufenthalten, den Nachwirkungen, all ihren Schmerzen, Krämpfen, ihrer psychischen Belastung erzählt Lilly in diesem Roman in Ich-Form (was noch mehr das Gefühl verstärkt, eine Biografie zu lesen). Von ihren inneren Kämpfen, der Verzweiflung, von ihrem fast nicht mehr vorhandenen Selbstwertgefühl, von den Selbstmordgedanken. Dabei scheint durch die Worte und Sätze, durch die Bilder immer ein starker Galgenhumor hervor, ein, wenn manchmal auch schwacher, Überlebenswille.
Wenn sie von ihrem Zimmernachbarinnen im Krankhaus berichtet, wenn sie die Arztbesuche schildert, dann zeigt Lilly Polanski ein großes Schreibtalent. Ohne die Menschen zu verurteilen, zeigt sie geschickt die Absurditäten, die Absonderlichkeiten, die oft gerade unter ungewohnten Umständen wie in einer Klinik zutage treten. Sie zeigt die Unfähigkeit vieler Menschen, mit Krankheiten umgehen zu können, die Unbeholfenheit.
Und sie zeigt die Liebe der Menschen, die sich um die Kranke sorgen. Ihre Mutter, die sich zerreißt, um die kranke Tochter gut versorgt zu sehen, die von ihren Sorgen fast aufgefressen wird. Wenn Lilly zuhause fast verblutet, weil sie trotz großer Schmerzen nicht zurück ins Krankenhaus wollte.
Einzig die Abschnitte, die erst sehr spät im Roman plötzlich auftauchen, in welchen sie mit ihrer gescheiterten Beziehung spricht, in Du-Form ihm von dem Gefühl erzählt, von ihm gerade in der schlimmsten Zeit verlassen worden zu sein, einzig diese Abschnitte konnten mich nicht überzeugen, nicht erreichen. Sie sind anders, in anderem Stil geschrieben, völlig ohne den oben erwähnten Humor. Sie wirken fast störend innerhalb der eigentlichen Geschichte.
Insgesamt ein sehr berührender Roman – sofern er denn einer ist. Für mich ist es ein Manko, dass dies nicht aufgeklärt wird, weder im Nachwort noch im Klappentext. Als Debütroman einer sehr jungen Autorin wirklich gelungen, mit einigen Abstrichen.
Lilly Polansky - Gratulieren müsst ihr mir nicht
Schöffling & Co., August 2024
Gebundene Ausgabe, 271 Seiten, 22,00 €