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ins_lebenlesen
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Schleswig-Holstein

Bewertungen

Insgesamt 72 Bewertungen
Bewertung vom 09.07.2023
Nordstadt
Büsing, Annika

Nordstadt


ausgezeichnet

Wenn Du aus der NORDSTADT kommst, Deine Mutter gestorben ist als Du 8 warst, Dein alkoholkranker Vater Dich bei jeder Gelegenheit verprügelt hat und Du mit 17 vergewaltigt wurdest, ist Deine Zukunft am Rande der Gesellschaft festgeschrieben. So das Klischee. Nene, Mitte 20, schwimmt. Im Wasser zieht sie ihre Bahnen, schöpft Kraft und Lebenswillen. Und wehrt sich gegen das Klischee und ihr Schicksal. Sie schafft es sogar, nach einer Ausbildung als Bademeisterin im örtlichen Stadtbad zu arbeiten. Hier findet sie ein Zuhause. Und Boris, der nach einer Kinderlähmung lahmt und von Schmerzen, Demütigung und Scham gebrochen seine Verzweiflung vor sich herträgt. Es ist Liebe auf den ersten Blick. Doch Nene versteckt ihre Verletzungen hinter einer lockeren Zunge und einer großen Portion Pragmatismus, während Boris versucht dem Leben aus dem Weg zu gehen. Werden die Mauern aus Wut und Schmerz, die beide so früh um sich errichtet haben, ein WIR zulassen?
Es beginnt eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, die stark durch die sozialen Verhältnisse, in denen Nene und Boris aufgewachsen sind, geprägt ist.

Was für ein Debüt! In keiner Minute ist dem Text Unsicherheit anzumerken, die Dialoge sind treffsicher und auf den Punkt. Annika Büsing weiß, was sie sagen will, und findet dafür klare Worte ohne Kitsch. Momente der Beklommenheit löst sie mit Nenes ruppigem selbstironischem Humor sofort wieder auf. Nenes Ich-Erzählung wechselt in rasanter Geschwindigkeit von der Handlungsebene in ihre Erinnerungen und Gedanken und wieder zurück.

Manchmal wäre ich gern noch ein wenig länger bei einer Sache geblieben und hätte mir etwas mehr Tiefe gewünscht. Aber auf 130 Seiten ist alles gesagt, was zu sagen ist. Das ist definitiv ein weiteres Debüt-Highlight in meinem Lesejahr 2023 und Annika Büsings KOLLER liegt schon auf meinem Nachttisch.

Bewertung vom 04.07.2023
Noah - Von einem, der überlebte
Würger, Takis

Noah - Von einem, der überlebte


ausgezeichnet

„Noah Klieger hat sie alle überlebt, Mengele und die Nationalsozialisten, die EXODUS und das Meer, die Briten und die Feinde Israels, ein paar Kriege, das Alter, seine Freunde und einen Herzinfarkt. Auschwitz blieb.“ (S. 138)

Noah Klieger ist Franzose, Jude, und schon früh - als Kind eines jüdischen Journalisten und Schriftstellers - in Belgien im Nazi-Widerstand auf gefährlicher Mission. Er hilft dabei, jüdische Kinder in die Schweiz zu schmuggeln. Er ist 17 als die Gestapo ihn erwischt, direkt nach Auschwitz bringt und die Hölle über ihn hereinbricht.

Er überlebte mit viel Glück und dem Traum von zwölf Brötchen auf einem Frühstückstisch. Lebte weiter. Erzählte seine Geschichte immer wieder. Auch in Deutschland, gerade vor jungen Leuten. Er starb 2018 mit 93 Jahren. Takis Würger hat 2017 über mehrere Monate in Tel Aviv Interviews mit ihm geführt und daraus dieses Zeugnis eines Überlebenden geschrieben. Er schreibt über das Überleben, über Terror und Grausamkeit, aber auch über Hoffnung und Freundschaft. Er schreibt über das Weiterleben. Über die Odyssee, die viele überlebende Juden nach den Lagern auf der Suche nach einer Heimat durchlebten. Und über die Unfassbarkeit: „Aber Du hast eine Zukunft. Du hast Deine Zukunft wieder. Was machst Du damit? Was kannst Du? Was willst Du? (S.82) Und er schreibt über vieles nicht, weil Noah es nicht erzählen kann oder will.

Würger erzählt journalistisch, sachlich, nüchtern. Kurze knappe Sätze schildern die Geschichte präzise und entlang harter Fakten aus der Erinnerung von Noah Klieger. Doch wie eine Klinge rammen sich die unbegreiflichen Fakten mitten in die Brust und lassen einen erschüttern. Es ist eine erinnerte Geschichte. Auf 150 Seiten. Kein Epos, kein Geschichtsbuch, auch kein literarisches Ereignis.

Doch es ist ein wichtiges Zeugnis, denn wenn die letzten Überlebenden gestorben sind und davon nicht mehr erzählen können, brauchen wir solche Geschichten, um zu fühlen, was passiert ist. Dass hinter den Millionen Toten und Überlebenden Schicksale stehen. Wäre es nicht doch möglich, dass jedes davon unseres oder das unseres Nachbarn sein könnte? Dem Menschen wohnen beide Anteile inne: die brutalste Grausamkeit und die tiefste Liebe.

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