Benutzer
Top-Rezensenten Übersicht

Benutzername: 
Bories vom Berg
Wohnort: 
München
Über mich: 
Sämtliche von mir geschriebenen Rezensionen sind hier auf Buecher.de veröffentlicht und alle über diese Profilseite abrufbar. Meine eigene Website bietet zusätzlich Auswahlen nach Sterne-Bewertung, listet meine Rezensionen aller wichtigen Buchpreise übersichtlich auf und enthält ergänzend im Anhang viele Informationen rund ums Buch, besuchen Sie mich! Meine Website: ortaia-forum.de

Bewertungen

Insgesamt 945 Bewertungen
Bewertung vom 10.01.2014
Die Verwirrungen des Zöglings Törleß
Musil, Robert

Die Verwirrungen des Zöglings Törleß


sehr gut

Ein literarisches Labsal

24 Jahre vor seinem Opus magnum erschien 1906 Robert Musils Erstling «Die Verwirrungen des Zöglings Törleß», ein Bildungsroman der besonderen Art, denn anders als zum Beispiel in «Unterm Rad» von Hermann Hesse ist der Protagonist hier Täter und interessierter Beobachter, nicht Opfer. Schauplatz der Handlung ist ein österreichisches Konvikt zu Zeiten der Donau-Monarchie, von manchen Lesern als Kadettenanstalt gedeutet, was aber beides nicht so recht passt, denn weder sind Kirche und Religion hier Thema noch Militärisches, beides bildet auch nicht den Hintergrund der Erzählung. Was erstaunlich ist, denn Musils Erfolgsroman ist eine äußerst tief reichende, komplexe Beschreibung des Seelenlebens eines jungen Mannes in der Pubertät mit ihren entscheidenden geistig-seelische Umbrüchen, was ja durchaus eine religiöse Thematik darstellt. Auch Schulisches, das typische Leben von Pennälern im abgegrenzten Mikrokosmos eines Internats, ist hier nicht im Fokus, es geht um die Suche nach Identität, die bevorstehende Lösung vom Elternhaus, eine neue soziale Orientierung für den verwirrten Törleß.

Denn was dieser Jüngling erlebt ist zutiefst verstörend für ihn. Der Mitschüler Basini wird beim Stehlen erwischt von zwei anderen, die ihn daraufhin erpressen, er würde nämlich bei Bekanntwerden seiner Tat unnachsichtig aus der Anstalt gewiesen. Sie quälen und demütigen den Wehrlosen, und Törleß ist ein neugieriger Zuschauer, der das Geschehen ganz unemotional als Studie über Macht und Unterwerfung begreift, dann aber erlebt, wie der devote Mitschüler sich auch ihm sexuell anbietet und er zu seinem Erstaunen darauf eingeht. Später distanziert er sich angewidert von den beiden Peinigern, die soweit gehen, ihr Opfer von der ganzen Klasse verhöhnen und verprügeln zu lassen. Von Törleß gewarnt stellt sich Basini der Schulleitung, bevor er noch schlimmeren Quälereien ausgesetzt wird. Gleichzeitig verlässt Törleß im Zustande völliger Desorientierung unerlaubt das Konvikt, versucht nach seiner Rückkehr vergebens, einer Kommission der Schule seine innere Haltung zu erklären, und kehrt schließlich in den Schoß der Familie zurück.

Viele Abiturienten haben sich an diesem komplexen Roman schon abarbeiten müssen. Es gibt diverse Ansätze für seine Interpretation, zum Beispiel, dass hier offensichtlich Autobiografisches verarbeitet wurde vom Autor, auch die Dissertation von Musil wohl Pate stand, Törleß eine Vorfigur des Ulrich sei aus «Der Mann ohne Eigenschaften», geschichtlich folgende Ereignisse visionär vorgezeichnet wurden. Wahrlich verstörend ist die strikte Täterperspektive dieses Romans, für Törless ist Basini ein reines Forschungsobjekt zum Thema Macht und deren Anwendung, eine Haltung, die es dem nicht sadistischen Leser unmöglich machen dürfte, sich mit solch mitleidloser Romanfigur zu identifizieren. In dieser psychologischen Studie über die Faszination der Macht und die seelischen Untiefen des eigenen Seins ist deutliche Gesellschaftskritik enthalten, die zweifellos nicht nur für die k.u.k. Monarchie vergangener Zeiten gültig war, sondern auch heute noch vollinhaltlich berechtigt ist.

Anspruchsvolle Romane, und dies ist zweifellos einer, sind oft schwer lesbar, erfordern volle Konzentration. Dank der schnörkellosen, klaren Sprache Musils ist dieser Roman trotzdem flüssig zu lesen, wozu insbesondere auch eine lineare Erzählweise ohne aberwitzige Zeitsprünge und permanente Perspektivwechsel beiträgt. Insoweit war die Lektüre für mich persönlich ein wahres Labsal nach diversen hochaktuellen Romanen mit ihren modischen sprachlichen Mätzchen, die wohl oft nur davon ablenken sollen, dass ihre Autoren uns wenig oder gar nichts zu sagen haben. Musil hingegen hat uns sehr viel zu sagen, auch nach über hundert Jahren noch.

1 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 07.01.2014
Aller Tage Abend
Erpenbeck, Jenny

Aller Tage Abend


weniger gut

Der Reiz des Irrealis

Zufall bestimmt unser Leben, und das gilt nicht nur für die Mutationen in der Darwinschen Theorie, sondern auch für unser Schicksal, den Tod eingeschlossen. «Was wäre wenn» lautet die Kardinalfrage, der Jenny Erpenbeck in ihrem Roman nachgeht, denn auch wenn gestorben wird an einem Tage, so ist doch längst noch nicht «aller Tage Abend». Der Modus einer als unwirklich hingestellten Annahme, der Irrealis also, dient hier als Mittel zum Zweck, in fünf Bücher gegliedert erlebt der Leser nämlich entsprechend viele Varianten des Lebens einer jeweils identischen Protagonistin. Einen Triumph des Konjunktivs, ein faszinierendes Spiel mit den Möglichkeiten erleben wir in diesem erstaunlichen Plot, bei dem unverkennbar das Leben von Hedda Zinner, hoch dekorierte DDR-Schriftstellerin und Großmutter der Autorin, als Anregung gedient haben dürfte.

Die anschaulich geschilderte Lebenswelt galizischer Juden ist der geschichtliche Hintergrund des ersten Buches, in dem ein 1902 geborenes Mädchen noch im Säuglingsalter plötzlich an Atemstillstand stirbt. Durch die zwischen die Kapitel geschalteten Intermezzi werden Alternativen für das Geschehen aufgezeigt, hier also wird die Frage aufgeworfen, wie wäre die Geschichte weitergegangen, wenn durch eine beherzte Schockbehandlung die Atmung wieder eingesetzt hätte? Das erfahren wir im zweiten Buch, wo wir sie als junge Frau im Wien des Jahres 1919 wiedertreffen, sie wird Mitglied der Kommunistischen Partei und fristet mehr schlecht als recht ein karges Leben, das gewaltsam durch Mord auf Verlangen endet. Nach dem zwischengeschalteten Intermezzo erleben wir sie als Siebenunddreißigjährige im dritten Buch in Moskau, wohin sie sich als inzwischen verheiratete Kommunistin mit ihrem deutschen Mann geflüchtet hat. Sie stirbt in russischer Gefangenschaft nach einem grotesken Justizverfahren, bei dem das Urteil von vornherein feststeht. Als angesehene Schriftstellerin erleben wir sie im real existierenden Sozialismus der DDR anschließend wieder, dem Arbeiter- und Bauernparadies auf deutschem Boden, wo sie als Sechzigjährige sehr profan durch einen Sturz auf der Kellertreppe stirbt. Im fünften Buch schließlich sehen wir sie nach der Wende als demenzkranke greise Dame im Altersheim wieder, wo sie ihre letzten Tage verbringt und schließlich stirbt.

Ein allwissender Erzähler, aus häufig wechselnder Innensicht der verschiedenen Personen berichtend, spiegelt in diesem Roman die Brüche eines ganzen Jahrhunderts in einem einzigen Frauenleben wieder. Der historische Kontext ist stets präsent in diesem Roman, die Österreichische Monarchie zunächst, die Aktivitäten der Kommunistischen Partei im Wien der Zwischenkriegszeit, der Aufstieg der Nazis, der Stalinismus in Russland, die Realität eines zweiten deutschen Staates nach dem verlorenen Weltkrieg, die Wiedervereinigung schließlich. Viele Figuren der Erzählungen bleiben namenlos, werden allenfalls nach ihrem Verwandtschaftsgrad als Mutter, Tochter, Vater, Mann oder auch nur mit den Anfangsbuchstaben ihrer Namen bezeichnet, was an Usancen der Geheimdienste erinnert.

Das Ganze erscheint mir arg konstruiert, es ist außerdem melancholisch auch ziemlich überfrachtet, emotional strapaziös jedenfalls, fast depressiv machend. Durch das Verwirrspiel mit den Figuren wird es zuweilen recht schwierig für den Leser, der Handlung zu folgen. Die Sprache ist teilweise hölzern und an manchen Stellen schlicht absurd, mir fehlte gelegentlich jedes Verständnis dafür, Sammler von Stilblüten hingegen dürften ihre helle Freude daran haben. Ein äußerst fragwürdiges Stilmittel in meinen Augen, denn sprachliches Unvermögen darf man wohl ausschließen bei dieser Autorin. Ihr zweifellos ambitioniertes Vorhaben ist misslungen, als Leser wird man wahrlich nicht mitgerissen von dieser Geschichte, und von den wenigen darin enthaltenen philosophischen Gedanken auch nicht wirklich bereichert. Schade eigentlich!

4 von 7 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.12.2013
Im Stein
Meyer, Clemens

Im Stein


gut

Pecunia non olet

Schwerer Tobak wartet da auf die Leser mit Clemens Meyers Roman «Im Stein», von der anrüchigen Thematik her sicherlich Neuland für die meisten, so auch für mich. Vor dem Hintergrund einer ungenannten, aber leicht als Leipzig identifizierbaren Stadt und ihrer Geschichte von der Wende bis in die jüngste Vergangenheit hinein begegnen uns sämtliche archetypischen Subjekte des Rotlichtmilieus und deren Helfershelfer aus Politik und Verwaltung. Ein Roman aus dem sächsischen Sumpf der Prostitution mithin, in dem der Autor kein Blatt vor den Mund nimmt bei der vermutlich authentischen, in jedem Fall aber kenntnisreichen und drastischen Beschreibung der Sexbranche und ihrer Usancen. Wir erleben die zugehörigen Nachtgestalten aus größter Nähe: Nutten, Zuhälter, Betreiber von Eroscentern, Immobilienhaie, Dealer, korrupte Kommissare und willfährige Beamte, allesamt bemüht, auf der Jagd nach dem Geld der Freier möglichst viel für sich abzukassieren.

Ein Tross von Schmarotzern also profitiert da von der Arbeit der Prostituierten, einer sexuellen Dienstleistung, die als ein Wirtschaftszweig wie jeder andere angesehen wird, der dem Staat einiges an Steuern in die Kassen spült, immer nach dem Motto: Geld stinkt nicht! Der Leser wird mit kriminellen Machenschaften bis hin zu Mord und Totschlag, aber auch mit vielen unappetitlichen Details der Sexarbeit und allen ihren perversen Auswüchsen knallhart konfrontiert von einem Autor, der als Enfant terrible gilt unter den deutschen Autoren. Alles das wird collageartig erzählt, die oft krassen Geschichten bleiben fragmentarisch, ein stringenter Plot fehlt. Immer wieder wird man an Kriminalfilme erinnert, an Typen und Szenen, die einem dort schon mal begegnet sind, wo dann aber schamhaft abgeblendet wird, wenn es richtig zur Sache geht bei der «Arbeit», während hier die Kamera weiterläuft gewissermaßen. Voyeure kommen allerdings nicht auf ihre Kosten dabei, statt pornografisch wird hier nämlich geradezu technokratisch erzählt, und die Finanzen stehen immer im Mittelpunkt, BWL-Kenntnisse helfen also ungemein.

Ein gefälliger, leicht verdaulicher Roman ist «Im Stein» jedenfalls nicht, aber ein wohltuend anderer, die üblichen Leseerwartungen brutal konterkarierender aus einer Welt, die es halt auch gibt und die hier eine offene Bühne gefunden hat für ein milieufremdes Publikum. Man verliert als Leser leicht die Orientierung bei der rasanten Erzählweise des Autors, der auch noch ständig die Erzählperspektive wechselt. Die ist sehr häufig der innere Monolog, der dann auch in der Variante des Bewusstseinsstroms vorkommt, sogar als Selbstgespräch in der Du-Form. Teilweise hektisch und mit vielen Zeitsprüngen erzählt, erfordert die Lektüre also ständig die volle Aufmerksamkeit des Lesers. Das gilt auch für die häufigen Abkürzungen von Namen und auch «Fachbegriffen» aus der Branche, die zu dechiffrieren ohne reichlich «schmutzige Phantasie» kaum gelingt. Die Figuren werden stimmig und detailreich vorgestellt, wobei die Huren meist liebevoll beschrieben werden in ihren Hoffnungen, Wünschen und Plänen, aber auch in ihren manchmal rührend naiven Ansichten über die anrüchige Welt, in der sie ihr Geld verdienen.

Ist die Lektüre also zu empfehlen? Im Prinzip ja, könnte man wie bei Radio Eriwan antworten, aber man muss schon ein robustes Durchhaltevermögen mitbringen, denn der dickleibige Roman weist einiges an Längen auf. Ganz abgesehen davon wird man häufig Probleme haben, nicht die Orientierung zu verlieren in diesem Labyrinth von Innensichten seiner oftmals nur mühsam zu identifizierenden Protagonisten. Aber es ist ja auch kein Blümchensex, der da praktiziert wird im Puff, und so hat wohl der Autor seine Erzählweise dem unkonventionellen Milieu angepasst, über das er so kundig schreibt. Polarisierend ist das allemal, wie die außergewöhnlich konträre Rezeption dieses Romans recht deutlich zeigt.

2 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 21.12.2013
F
Kehlmann, Daniel

F


gut

How Fiction Works

Auf «signifikant insignifikante» Einzelheiten komme es an, war Daniel Kehlmann überzeugt, nachdem er im Herbst 2008 in New York «How Fiction Works» von James Wood entdeckt hatte, laut Klappentext der deutschem Ausgabe ein Buch, das die Frage klären will: «Was unterscheidet einen guten Roman von einem schlechten». Der Originaltitel hat eine unübersetzbare Doppelbedeutung, lässt Kehlmann uns in seinem kurzen Vorwort zu diesem empfehlenswerten Sachbuch wissen, er bedeute nämlich auch «was eine Geschichte mit uns anstellt». Mit mir, das sei vorweg gesagt, hat «F» nichts angestellt, da ist kein Funke übergesprungen, was mich im Nachhinein selbst am meisten überrascht.

All das nämlich, was Wood an Tipps und Tricks für Schriftsteller herausarbeitet in seinem Buch, hat der vielfach als Poetik-Dozent tätige Kehlmann geradezu exemplarisch umgesetzt in seinem neuen Roman. Und so krabbelt bei ihm denn auch prompt eine Ameise die Fuge des Straßenpflasters entlang, signifikant insignifikant eben, ein Detail, das mit der geschilderten Szene rein gar nichts zu tun hat, aber auf wundersame Weise für Atmosphäre sorgt. Sprachlich kann ihm kaum jemand das Wasser reichen von den deutschsprachigen Romanautoren unserer Tage, würde ich behaupten, er schreibt jedenfalls auf sehr hohem Niveau. Und kreativ ist er obendrein, in «F» finden sich diverse äußerst originelle Ideen, sowohl was seine Figuren anbelangt als auch den Plot und dessen dramaturgischen Aufbau.

Klerus, Kapital, Kunst – man hätte den Roman auch «K» nennen können statt «F», was sich übrigens von «Fatum» ableitet, wie gegen Ende erläutert wird, Schicksal also. Der an Thomas Manns «Mario und der Zauberer» erinnernden Einleitung folgen drei umfangreiche Kapitel, in denen jeweils einer von drei Brüdern als Protagonist im Mittelpunkt steht. Ein Pfarrer, welcher «der Vernunft nicht entkommen kann» und folgerichtig den Glauben verloren hat, ein betrügerischer Anlageberater unmittelbar vor dem Konkurs, den ausgerechnet die Finanzkrise dann vor dem Schlimmsten bewahrt, und ein schwuler Maler und Kunstkritiker, der mit Einverständnis seines Lebenspartners Bilder mit dessen Signatur malt und durch geschickte Manipulationen teuer verkauft. Alles Lug und Trug also, ein wahrlich pessimistisches Weltbild, vor dessen Hintergrund diese ungewöhnlich kunstvoll ineinander verschachtelten Geschichten erzählt werden. Die Klammer bildet dabei ein einziger Tag, dessen Geschehnisse aus den drei Perspektiven geschildert werden, es ist der 08.08.08. Bei solcherart Zahlenspielerei bleibt Kehlmanns Vorliebe für Effekte unübersehbar, es wimmelt übrigens geradezu von Derartigem in seinem Roman, so mancher begeisterter Leser hat das Buch deshalb mehrmals gelesen, um allen diesen Feinheiten und Anspielungen auf die Spur zu kommen. Lesespaß pur also, da hatte auch ich meine helle Freude dran.

Aber ist das alles nicht zuviel des Guten, frage ich mich trotzdem. «F» ist als Roman wie am Reißbrett konstruiert, perfekt durchdacht, sprachmächtig erzählt, mit witzigen Details angereichert, auch die Thematik ist interessant und hochaktuell obendrein. Bei aller literarischen Perfektion bleibt dieses Konstrukt aber seelenlos, es ist emotional tot, keinen Nachhall hinterlassend und schon gar keine Funken erzeugend. Ganz ähnlich ging es mir bei «Die Vermessung der Welt», auch dieser Bestseller war solch eine Kopfgeburt, aus der eigentlich genialen Idee hätte man deutlich mehr machen können. Und bei «F» nun wartet man nach den drei mitreißenden Hauptkapiteln gespannt auf das letzte - und wird wieder enttäuscht. Kein Unheil, kein gespenstischer Albtraum, wie der Klappentext ankündigt, die Geschichte läuft stiekum und ganz unspektakulär aus mit der Trauerfeier für den tot erklärten Kunstfälscher, dessen Schicksal im Dunkeln bleibt. Man hat den Eindruck, der Autor hatte einfach keine Zeit mehr oder keine Lust, einen adäquaten Schluss zu ersinnen für seinen ansonsten erfreulichen Roman.

12 von 14 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 16.12.2013
Das größere Wunder
Glavinic, Thomas

Das größere Wunder


weniger gut

Auf dem Gipfel sinnlosen Tuns

Der Mount Everest bildet so etwas wie den Kulminationspunkt in Thomas Glavinics neuem Roman «Das größere Wunder». Schon das Umschlagfoto lässt keinen Zweifel daran, hier geht es ums Bergsteigen der extremen Art, und gleich die ersten Sätze bestätigen diese Vermutung, wenn von Sherpas die Rede ist, vom Basislager und von Toten, die vorbeigetragen werden. Normalerweise würde ich mich da, um im Jargon der Alpinisten zu bleiben, sofort ausklinken aus dem Führungsseil, das Buch also ungelesen zu Seite legen, weil mich todesmutige Extremkletterer nun mal überhaupt nicht interessieren, sogar ziemlich abstoßen mit ihrer fatalen Sucht nach Selbstbestätigung, nach Nervenkitzel, nach Todesnähe. Schon nach wenigen Seiten aber, im zweiten Kapitel, wechselt der Erzählstrang zu einer fürwahr haarsträubenden Geschichte hin, der Jugend des Protagonisten Jonas nämlich und seiner anschließenden, rastlosen Sinnsuche, die den Leser in einem aberwitzigen Plot unwillkürlich in ihren Bann zieht. Er dürfte Glavinic-Fans schon aus den beiden vorher erschienenen Romanen diese Trilogie bekannt sein, «Die Arbeit der Nacht» und «Das Leben der Wünsche», das vorliegende Buch ist aber eigenständig zu lesen, es baut nicht auf die vorhergehenden Romane auf.

Es gehört unzweifelhaft zu den angestammten Privilegien von Romanautoren, die Realität nach Gutdünken ausblenden zu können, völlig irreale Traumwelten zu ersinnen, dem Leser also eine Welt zu schildern, die es so nicht gibt und geben kann. Davon wird ja nicht erst seit Karl May Gebrauch gemacht, wo jeder insgeheim selbst Old Shatterhand ist, solange er das Buch in Händen hält. Und solche Identifikationsmuster liefert uns hier auch Galvinic mit seinem faustischen Helden Jonas, der über unerschöpflich scheinende Geldmittel und überirdische Fähigkeiten verfügt und beides dazu nutzt, permanent Grenzerfahrungen zu machen, den Sinn des Lebens herauszufinden im absurden Selbstexperiment. «Nichts ist unmöglich» ist die Devise bei seinem skurrilen Selbstfindungstrip rund um den Erdball, sorglos probiert er alles aus ohne Angst vor dem Tod, und das alles kulminiert am Ende des Romans in der erfolgreichen Besteigung des Mount Everest, bei der denn auch die bis dahin immer schön kapitelweise getrennt erzählten Stränge der Handlung zusammenmünden. Dass es die Liebe ist, nach der er unbewusst gesucht hat, die große, einmalige natürlich, ist vorhersehbar, kitschig und höchst peinlich.

Die viel zu ausufernd erzählte Bergsteigerstory mag Alpinisten erfreuen, der Laie, wie ich einer bin, langweilt sich hingegen und grübelt häufig, ob das wirklich alles so stimmen kann, wie der Autor es schildert. Die Hundertschaften von Himalaya-Verrückten machen jedenfalls wütend in Hinblick die Umweltzerstörung, die da angerichtet wird auf dem Dach der Welt. Der Held in Glavinics haarsträubender Geschichte in der zweiten Erzählebene versteht mühelos fast alle Sprachen der Welt und spricht die meisten auch, er reist der Sonnenfinsternis rund um den Erdball hinterher, lässt sich ein fünfstöckiges Baumhaus und einen Viermast-Segler bauen, kauft sich eine Südseeinsel, hat diverse Wohnungen in den Metropolen, die er nur selten nutzt, aber auch eine in der Nähe von Tschernobyl. Und natürlich fliegen auch viele Frauen auf ihn, na und die letzte, Marie, ist es dann, auf die alles hinsteuert, unser moderner Faust ist letztendlich am Ziel seiner Suche nach der Wahrheit.

Wer nicht den Fehler macht, ernst zu nehmen, was er da liest, wer das Ganze als zuweilen sogar spannendes Märchen liest, wer nicht erschreckt, wenn nur zur Gaudi eine Ziege mit der Panzerfaust erschossen wird, einem unsensiblen Zahnarzt zur Strafe alle Zähne gezogen werden, ohne Betäubung, versteht sich, der wird vielleicht gut unterhalten in diesem Roman, als Alpinist möglicherweise sogar sehr gut.

7 von 9 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 03.12.2013
Das Ungeheuer
Mora, Terézia

Das Ungeheuer


sehr gut

On the Road mit Urne und Laptop

Dieser buchpreisgekrönte Roman wirkt polarisierend wie kaum ein zweiter, und das nicht nur wegen seines ungewöhnlichen Layouts. Welches so neu allerdings nicht ist, schon Arno Schmidt benutzte ja 1960 diese auch drucktechnisch realisierte, zweisträngige Erzählweise, in seinem Roman «KAFF auch Mare Crisium» nämlich. Zehn Jahre später, in «Zettels Traum» dann, wurde es bei ihm sogar dreisträngig. Während bei Schmidt diese Erzählstränge vielfach ineinander verwoben sind, fehlt bei «Das Ungeheuer» eine vergleichbare Intertextualität, es sind deshalb eigentlich zwei Bücher, die man da liest, eines oben auf der Seite und eines unten, beide durch einen Strich getrennt. Oben handelt es sich um eine im Stil eines Roadmovies erzählte, moderne Odyssee des lethargischen Romanhelden Darius Kopp, den Mora-Fans als IT-Spezialisten schon aus dem vorhergehenden Band «Der einzige Mann auf dem Kontinent» kennen, in der unteren Hälfte liest man fragmentarische Tagebucheinträge und wirre Notizen seiner manisch depressiven Ehefrau. Flora hat sich das Leben genommen, seitdem lebt Darius apathisch dahin, denn er hat zeitgleich auch noch seinen Job verloren. Auf ihrem Laptop findet er autobiografische Skizzen, in ihrer ungarischen Muttersprache verfasst. Er lässt sie übersetzen und begibt sich spontan auf eine Reise in ihre Heimat, um dort die Urne mit ihrer Asche zu bestatten, ein letzter Liebesdienst an seiner Frau, von der er wenig wusste, wie er nun erkennt. Entfremdung also ist das Generalthema dieses Romans.

Nach der für mich seinerzeit unerquicklichen Lektüre von Moras Roman-Erstling «Alle Tage» hätte ich dieses Buch wohl links liegen lassen, wäre da nicht der Buchpreis gewesen, der einen denn doch neugierig macht. Und so fand ich nun auch hier wieder das schon erwartete Panoptikum ziemlich seltsamer Figuren, von denen einem keine wirklich sympathisch wird, alle erscheinen seltsam distanziert und rätselhaft, mir jedenfalls. Die Situationen auf der chaotisch verlaufenden Osteuropa-Reise sind teilweise grotesk, es entfaltet sich ein sehr gekonnt erzählter, kunterbunter Bilderbogen an Eindrücken und Geschehnissen auf dieser schier endlosen Autofahrt, die man zu Recht als Fahrt ins Blaue bezeichnen könnte, deren Etappen jedenfalls weitgehend der Zufall bestimmt.

Immer wieder schwenkt die detailreiche Erzählung zwischen Realität und Imagination hin und her, wechselt die Perspektive vom Er- zum Ich-Erzähler, nicht selten sogar im gleichen Satz. Auch Flora taucht da plötzlich auf und redet mit Darius, ganz souverän wendet die Autorin in ihrem neuen Roman viele moderne Stilmittel an, der innere Dialog zum Beispiel, aber sehr häufig auch Bewusstseinsstrom und inneren Monolog, an den «Ulysses» von James Joyce erinnernd. Wagemutig gebraucht die Autorin durchgestrichene Wörter, Sätze ohne jedwede Interpunktion, ungarische Textstellen, Buchstabensalat á la J. S. Foer, psychiatrische Diagnosen, Medikamenten-Beipackzettel, ja sogar ein Kochrezept für ihren Romantext, und all das ist wohltuend unkonventionell, wie ich finde.

Thematischer Nährboden dieses Romans ist mithin der Kontrast zwischen dem technisierten, gnadenlos auf Effizienz getrimmten Leben des IT-Menschen Darius und Floras Lebensuntüchtigkeit, ihre sich zur Pein auswachsende Angst, das titelgebende «Ungeheuer» in ihr also, das sie in den Suizid getrieben hat. Mir wäre, um einen Begriff der IT-Branche zu benutzen, zwar eine sequenzielle Druckfolge lieber gewesen als die parallele, die Teresia Mora gewählt hat, aber ihrer Erzählweise kann der Leser mit Hilfe der Kapitelnummern auch so mühelos folgen, gleich zwei Lesebändchen helfen ihm dabei und deuten ja darauf hin, wie es gedacht ist. So mancher Leser dürfte sich freuen über eine nicht alltägliche Lektüre, die ihm womöglich sogar eine spürbare Erweiterung seines Lesehorizonts beschert.

8 von 15 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 29.11.2013
Nie mehr Nacht
Bonné, Mirko

Nie mehr Nacht


weniger gut

Bonjour Tristesse

«Der grüne Heinrich», Gottfried Kellers berühmter Bildungsroman, hat offensichtlich als Grundmuster Pate gestanden bei «Nie mehr Nacht» von Mirko Bonné, er wird auffallend häufig erwähnt in der Geschichte von Markus Lee, und auch Heinrich heißt ja mit Nachnamen «Lee», sicher kein Zufall. Gemeinsam ist beiden Romanen, dass ihre Helden an ihrer Selbstverwirklichung scheitern, die gesellschaftlichen Ansprüche nicht erfüllen können, also an den Hürden scheitern, die ihnen eben diese Gesellschaft in den Weg stellt, was ja, genauer betrachtet, ein geradezu klassisches Dilemma darstellt. Das dann auch folgerichtig zu einem tragischen Ende führen muss, dem Keller seinerzeit durch eine weniger pessimistisch erscheinende Überarbeitung seines Romans begegnete, Bonné, indem er ganz am Ende zumindest einen hoffnungsvollen Ausgang seiner Geschichte andeutet.

Schon der Romantitel weist auf Tragik hin, einen düsteren Schatten, der über die Geschichte fällt, der Selbstmord der hochgradig depressiven Schwester des Ich-Erzählers, die einen unehelichen Sohn mit unbekanntem Vater zurücklässt. Vor dem Hintergrund einer gemeinsamen Reise mit dem Neffen in die Normandie, zum Schauplatz des D-Day, der Landung der Alliierten in Frankreich am 6. Juni 1944, erzählt der Autor in vielen Rückblenden seine Geschichte, in der ein inzestuöses Verhältnis der Geschwister angedeutet wird, was beim Leser zeitweise sogar den Verdacht aufkommen lässt, der Neffe könnte der leibliche Sohn des Protagonisten sein. Die Geschwister sind offensichtlich beide psychopathisch, denn auch Markus, der sich als freischaffender Zeichner durchs Leben schlägt, steuert scheinbar auf ein tragisches Ende hin, zumindest auf einen radikalen Wendepunkt. Er verabschiedet sich regelrecht aus seinem bisherigen Leben, trennt sich rigoros von allem Materiellen, das er nur als unnötigen Ballast empfindet. Markus opponiert wie sein pubertierender Neffe gegen die Welt, ist wie jener orientierungslos und macht es seiner Umgebung schwer, eine menschliche Beziehung mit ihm aufrecht zu erhalten, er baut lieber Brücken ab in seiner Sucht nach Selbstauflösung. Realiter aber sollte er eigentlich einige damals kriegswichtige Brücken für ein Kunstmagazin zeichnen, das war sein Auftrag für diese Reise.

Der Roman wimmelt geradezu von derartigen Anspielungen, da gibt es ein abbruchreifes, verlassenes Strandhotel, viele heute noch sichtbaren Relikte des zweiten Weltkrieges, ein Buch über die Geschichte der Landung von einem amerikanischen Autor namens Lee (sic!). Der Rapidograph als klassischer Tuschezeichner taucht immer wieder auf in ausgedehnten Passagen über das Zeichnen, die Ornithologie ist ebenfalls ständiges Thema beim Aufenthalt an der Atlantikküste, es gibt zuhauf minutiöse Wegbeschreibungen, die allenfalls einige Normandie-Fans oder D-Day-Touristen erfreuen dürften, die meisten Leser aber eher nerven. Auch Pop-Musik spielt eine wichtige Rolle, viele Details werden da ausgebreitet, nicht selten übrigens auch über Suizide von Pop-Musikern. All das schafft ein dichtes Netz von Assoziationen, welches mir in seiner überbordenden Vielfalt jedoch reichlich artifiziell erscheint. Eine «ebenso rasante wie poetische Roadnovel» jedenfalls, die uns der Klappentext suggeriert, kann ich nicht erkennen in diesem melancholischen Plot, der eher gemächlich erzählt wird, was an sich ja nicht schlecht ist, das Lesen angenehm macht trotz unübersehbarer Längen.

Wenn der traurige Held mit einer Frau, die seiner toten Schwester zum Verwechseln ähnlich sieht und sich, welch ein Zufall, wohl unsterblich in ihn verliebt hat, seinem abweisenden Wesen zum Trotz, wenn Markus also am Ende auf einer zum Abwracken bestimmten Fähre nach Deutschland zurückfährt, deutet sich ein peinliches Happy End an in diesem Tristesse-Roman, der so banal und unglaubwürdig zu enden eigentlich gar nicht verdient hätte.

3 von 3 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 26.11.2013
Das goldene Notizbuch
Lessing, Doris

Das goldene Notizbuch


gut

«Existenzerhellung» nach Karl Jaspers

Spät wurde der dieser Tage verstorbenen, englischen Schriftstellerin Doris Lessing im Jahre 2007 der Nobelpreis zuerkannt, «der Epikerin weiblicher Erfahrung, die sich mit Skepsis, Leidenschaft und visionärer Kraft eine zersplitterte Zivilisation zur Prüfung vorgenommen» habe, wie das Komitee etwas gestelzt formuliert hat. Und wie so oft gab es auch hier Stimmen, die sich skeptisch geäußert haben, Marcel Reich-Ranicki gehörte dazu. Ihr literaturwissenschaftlich als Hauptwerk angesehener Roman «Das goldene Notizbuch» erschien 1962, in Deutschland dann erst 1978, ein Klassiker des Feminismus, wie behauptet wird. Lessing hat sich vehement gegen dieses Etikett gewehrt, schon im Vorwort von 1971 schreibt sie, sie wolle sich nicht feministisch vereinnahmen lassen.

Im Mittelpunkt der Geschichte steht Anna, eine erfolgreiche, politisch engagierte, intellektuelle und emanzipierte Schriftstellerin (sic!) mit temporärer Schreibblockade. Sie ist geschieden, hat eine schulpflichtige Tochter, ist alleinerziehend, zeitweise Mitglied der Kommunistischen Partei, versteht sich als «Ungebundene Frau», und so lauten denn auch die Überschriften der fünf Hauptkapitel, die in vier ebenfalls gleichnamige Unterkapitel gegliedert sind, betitelt das rote, schwarze, gelbe und blaue Notizbuch. Im Roten schreibt sie über ihr politisches Leben, das in Afrika begann, und über ihre allmähliche Desillusionierung, was den Kommunismus anbelangt. Das Blaue ist mehr ein Tagebuch, dort hält sie ihre Gefühle fest, es dient aber auch als literarische Stoffsammlung, im Gelben sind vorläufige Texte und Geschichten enthalten, im Schwarzen finden sich eher praktische, alltägliche Notizen, alles das aber ziemlich überlappend, also nicht immer streng abgegrenzt, wie sie selbst anmerkt. Diese Protagonistin erlebt allerlei Abstürze, nicht nur was ihre Schriftstellerei anbelangt, sondern auch bei ihrem politischen Engagement, vor allem aber in ihren problematischen Beziehungen zu Männern. Wobei schnell klar wird, dass alle diese persönlichen Debakel zusammenhängen, sich sogar gegenseitig bedingen.

Man kann von Geschlechterkampf sprechen, der da stattfindet in diesem Roman, die Emanzipation der Frau ist sein Generalthema. «Ungebundene Frauen» aber, der neue weibliche Typus, wie Lessing ihn nennt, scheitern darin grandios, sind aber unverdrossen immer wieder erneut auf der Suche nach einem beständigen Partner, nach wahrer Liebe. Sie finden stattdessen Liebhaber auf Zeit, schnellen Sex mit verheirateten Männern, sie müssen immer wieder erkennen, dass sie, anders als die Männer, nicht in der Lage sind, Liebe und Sexualität zu trennen. Beide Geschlechter, Frauen wie Männer, wirken nicht gerade glücklich bei diesem Spiel, Lösungen für deren Probleme bietet die Autorin jedoch nicht, - wie denn auch, die gibt es ja selbst heute noch nicht, nicht mal ansatzweise! Nur der berühmte erste Satz - hier lautet er «Die beiden Frauen waren allein in ihrer Londoner Wohnung.» - eröffnet zum Schluss hin, im Kapitel «Das goldene Notizbuch», einen kleinen Lichtblick.

Doris Lessing erzählt ihre Geschichte strickt aus weiblicher Perspektive, ist dabei aber absolut fair und unparteilich. Sie entwickelt in ihrem voluminösen Roman ein facettenreiches Szenario der archetypischen Mann/Frau-Problematik, wie es in der Weltliteratur ohne Beispiel ist. Ihr Text ist sprachlich auf hohem Niveau, aber unkompliziert, leicht lesbar mit einfacher Syntax, ohne sprachliche Mätzchen. Der Roman ist in Teilen unübersehbar autobiografisch, über das Fiktionale hinaus aber sicher auch oft dokumentarisch - und damit den Horizont erweiternd. Schon vom Umfang her setzt der Roman die Bereitschaft beim Leser voraus, sich dem komplexen Thema geduldig zu stellen, sich in die virtuos erzählte Geschichte zu vertiefen und deren Aussagen intensiv auf sich wirken zu lassen. Das Ergebnis dieser Lektüre dürfte dann eine «Existenzerhellung» sein, ganz im Sinne von Karl Jaspers.

Bewertung vom 21.11.2013
Soutines letzte Fahrt
Dutli, Ralph

Soutines letzte Fahrt


weniger gut

Manchmal kommt das Beste eben zum Schluss!

Nicht jeder Bücherfreund wird mit dem Namen Chaim Soutine etwas anfangen können, es sei denn, er kennt sich gut aus in der Welt der Malerei. Spätestens mit der Lektüre des Romans «Soutines letzte Fahrt» von Ralph Dutli, dem Erstling dieses als Lyriker bekannten Schweizer Autors, dürfte sich das entscheidend ändern. Schon das vollformatige, bunte Titelbild wirkt ja erhellend, zeigt es doch des Malers wohl berühmtestes und in seiner speziellen Malweise für ihn typisches Gemälde, «Der Konditorjunge von Céret». In einer geschickt zwischen historischen Fakten und phantasievoller Fiktion hin und her pendelnden Erzählung schildert der Autor das turbulente Leben dieses weißrussischen Malers jüdischer Konfession in seinen Höhen und Tiefen, und sein Ende natürlich auch, auf das ja der Romantitel schon hinweist, seine «letzte Fahrt» nämlich.

«Die Welthauptstadt der Malerei» ist in dieser Biografie der eigentliche Schauplatz des Geschehens, das Paris der ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts, die Metropole des Expressionismus und Surrealismus. In den Cafés von Montmartre tummelt sich eine illustre Gesellschaft von Schriftstellern und Malern, viele bekannt Namen sind darunter, und Soutine ist einer von ihnen, erlebt in seinem Atelier die Höhen und Tiefen des Künstlertums jener Zeit. Bis dann der zweite Weltkrieg und die Besetzung der Stadt durch die Deutschen ihn als Juden in die Illegalität zwingt, er muss sich verstecken, schließlich aufs Land fliehen. Ein Magengeschwür, an dem er schon jahrelang leidet, zwingt ihn zur heimlichen Rückkehr, nur eine sofortige Operation in Paris könnte ihn eventuell noch retten. Und so wird er auf Nebenwegen, ständig den allgegenwärtigen Kontrollen der Besatzer ausweichend, in einem Leichenwagen versteckt nach Paris gebracht, begleitet von Marie-Berthe Aurenche, von ihm «Ma-Be» genannt, die ehemalige Frau von Max Ernst, die sich seiner wie ein Schutzengel angenommen hat.

Im Delirium ziehen während dieser beschwerlichen Fahrt die Stationen seines Lebens an dem unter Morphium stehende Maler vorbei, ein endloser innerer Monolog, von der frühesten Jugend in Smilowitschi bei Minsk über Wilna bis ins Mekka der Malerei, in die Stadt an der Seine. Halluzinierend durchlebt er noch mal die bitteren Hungerjahre seiner erbärmlichen Existenz, er erinnert sich an seine enge Freundschaft mit Amedeo Modigliani, an seinen langjährigen Kunsthändler Zborowski, an die glückhafte Entdeckung schließlich durch den amerikanischen Kunstsammler Barnes, der Dutzende seiner Werke kauft und ihm damit erstmals ein weniger bedrückendes Leben ermöglicht. In dieser an bizarren Details reichen Biografie kommt sogar das wegen der Gurlitt-Affäre hochaktuelle Thema Raubkunst zur Sprache, auch in Paris werden natürlich viele Kunstwerke für Görings «Carinhall» und für das geplante Linzer Führermuseum konfisziert. Bei Soutines Beisetzung schließlich auf dem Montparnasse stehen Max Jakob, Jean Cocteau und Pablo Picasso an seinem Grabe, und auch seine beiden letzten Frauen, «Mademoiselle Garde», mit der er eine uneheliche Tochter hat, und «Ma-Be» natürlich.

Ralph Dutli ist es gelungen, den Schreibstil seines Romans perfekt dem Sujet anzupassen, der expressiven Malkunst von Chaim Soutine. Beides jedoch dürfte nicht jedermanns Sache sein, die Malkunst wie die Sprachkunst. Letztere, und nur davon soll hier die Rede sein, leistet sich viele Längen, nervt zuweilen sogar mit den ausufernden Morphium-Fantasien. Und so ist denn auch das letzte Kapitel des Romans für mich das erfreulichste, denn überraschend tritt da plötzlich der Autor als Ich-Erzähler auf und erläutert seine Motive, seine Faszination für diesen Stoff, trifft dann auch noch auf einen mysteriösen, ehemaligen Geheimagenten, der einst bei der Beerdigung Soutines anwesend war und ihm einiges Denkwürdige sagt, sogar zum Thema innerer Monolog übrigens. Manchmal kommt das Beste eben zum Schluss!