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Benutzername: 
Almut Scheller-Mahmoud
Wohnort: 
Hamburg

Bewertungen

Insgesamt 82 Bewertungen
Bewertung vom 09.11.2020
Kampuchea
Deville, Patrick

Kampuchea


ausgezeichnet

Der Geschichte nachspüren
2010 reist der Autor vom Mekong-Delta bis an die Grenze nach China.
Er führt uns ein in die Geschichte Indochinas, die den meisten von uns unbekannt sein wird bis auf Schlagworte wie Angkor Vat, Dien Bien Phu, Vietnamkrieg, Coppolas Apokalypse Now, Pol Pot und Killing Fields.

Durch minimalistische Biographien werden wir Zeuge von politischen und kulturellen Umwälzungen. Lebensepisoden von Henri Mouhot, der 1860 Angkor Vat (wieder) entdeckte: ein Narrativ der Steine aus dem 9. Jahrhundert. Angkor Vat soll im 12. Jahrhundert eine Million Einwohner gehabt haben. Prinz Sihanouk, der aus Phnom Penh ein fernöstliches Paris machen wollte und Pol Pot, der in Paris studiert und das Leben des La douce France genossen hatte. Ho Chi Minh, ein Mann mit der unbeugsamen Geschmeidigkeit eines Bambus. Aber auch von Unbekannten wie Vann Nath, der in unermüdlicher Serienarbeit Portraits von Pol Pot erstellen musste. Francois Ponchaud, ein katholischer Priester, der die Khmer-Sprache erlernt und die Codes und Chiffren der Roten Khmer entziffert hatte. Sein anprangerndes, 1977 veröffentlichtes Buch „Kambodscha im Jahre Null“ fand im Westen nirgendwo Gehör. Kong Bunchhoeun, der über 120 Bücher geschrieben, Filme gemacht, gemalt, gedichtet und komponiert hat.


Und immer das verbindende Hauptthema. Die genozidale Herrschaft der Roten Khmer allgegenwärtig. Mit ihrer ideologischen Vermischung von Rousseau, Marx und buddhistischem Denken. In den vier Jahren eines steinzeitlichen Kommunismus wurden fast 2 Millionen Menschen umgebracht, gefoltert, vernichtet. Die Tötungsmaschinerie der Menschheit ist unersättlich: Gulags, KZs, Ruanda. Massengräber der Grausamkeit.

Aber Deville informiert auch über die Vorgeschichte dieser Massaker. Der weiße Mann mit seinem Bewusstsein der Überlegenheit über alle anderen Kulturen und Völker. Vom Opiumkrieg mit China, in dem die Truppen den Pekinger Sommerpalast plünderten. Taliban und IS sind auch da nur Nachahmer.
Die Prozesse gegen Pol Pot und einen Gefängniswärter: ein unscheinbarer, biederer Beamter, der seine Pflicht erfüllte. Da tauchen Assoziationen auf zur „Banalität des Bösen“.

Eine kaleidoskopische Lektüre, bunt und farbig, aber eben nicht nur schön. So erliest man sich in kurzen Kapiteln, Zeiten und Orte wechselnd, die Ahnung eines Gesamtbilds einer komplexen kulturellen und politischen Andersartigkeit. Dieses Buch vereint Reportage, Biographie, Prosa, Reisebericht und auch Autobiographisches. Devilles Neugier auf das Heute und Gestern, die Verknüpfungen von Biographien, von Tätern und Opfern. Von Kolonisierten und Kolonisatoren. Für Deville sind Reisen und Schreiben unabdingbar miteinander verwoben, um so Knoten für Knoten des Heute und des Gestern knüpfen zu können. Für ihn gilt nicht das Zitat von Pascal’s Zimmer.

Die Geschichte vom Flügelschlag des Schmetterlings, der viele Tausend Kilometer entfernt und Jahrzehnte später eine Katastrophe auslöst, ist das perfekte Motto für diesen geschichtsträchtigen Roman.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 04.11.2020
Blauer Elefant
Mourad, Ahmed

Blauer Elefant


gut

Ahmed Mourad präsentiert uns eine kafkaeske, eindringliche Geschichte, für die man einen langen Atem braucht, um sich in den Gefilden der Halluzinationen und der vWahnvorstellungen zurecht zu finden. Ein Szenario der Albträume, ein psychedelisches Labyrinth und ein mentales Konstrukt mit Teufeln und Dämonen, mit Magie und mysteriöser Zahlenmagie.


Jachjar, ein 37 Jahre alter forensischer Psychiater, verlor vor Jahren bei einem Autounfall seine Frau und seine Tochter: er war schuld und überlebte und blieb deshalb fünf Jahre seiner Arbeit fern.
Er versank in schweren Depressionen und Verwahrlosung, zudem ist er zuckerkrank und süchtig nach selbstgedrehten Zigaretten, nach Kaffee, nach Haschisch, Whisky und nach Sex mit Maja, einer Gelegenheitsgeliebten, einer ausgeflippten jungen Frau, mit der er das Ritual des Ab-sinthtrinkens pflegt.

Jachjar wird von der Leiterin seiner Klinik nach einer letzten Abmahnung zur Arbeit gerufen und findet sich auf der Station 8 wieder, wo Menschen, über deren Schuldfähigkeit man sich uneins ist, stationiert sind.

E trifft auf einen alten Kollegen, Scharif al Kurdi, der beschuldigt wird, seine Frau Basma ermor-det, sie aus dem 30. Stock eines Hochhauses gestürzt zu haben.
Der Anwalt plädiert auf unschuldig, es sei Selbstmord gewesen. Als Jachjar Scharifs Foto in der Polizeiakte sieht, fällt ihm eine tätowierte Linie von der Schulter bis in die Handfläche mit um den Arm mäandernden Querlinien auf: das Muster erinnert an einen bestimmten arabischen Buchstaben und dessen Spiegelbild.

Durch seine Recherchen trifft er Lubna wieder, seine große Liebe und zugleich Scharifs Schwester. Sie treffen sich regelmäßig und fühlen sich immer noch zueinander hingezogen, obwohl Lubna inzwischen verheiratet und Mutter einer kleinen Tochter ist.

Nach Einnahme des „Blauen Elephanten“, einer Droge, einer Substanz ähnlich, die sich angeblich im Körper während des Sterbeprozesses bilden soll, erlebt Jachjar und der Leser mit ihm Horrorszenen. Die verschiedenen Erzählebenen verlieren sich in surrealen Dimensionen, so dass offen bleibt, ob nicht alles nur eine Einbildung des Protagonisten ist. Man fühlt sich wie ein Wünschelrutengänger in einem Gärprozess.


Ahmed Mourad baut viele kleine kulturgeschichtliche Reminiszenzen in seinen Text ein (unter-füttert durch Erläuterungen). Ansonsten finde ich den Stil anbiedernd modern,
so gewollt modern, mit vielen überflüssigen Anglizismen. Ganz besonders störend seltsame „Adjektiv-Sätze“ wie: „und betastete meinen Hals, der so verbeult war wie eine leere Pepsi-Dose“, „sie ließ mich warten, bis ich so gut abgehangen war wie ein Stück zähes Kamelfleisch“, „aus meinem Rachen kam ein Gestank wie aus dem Hintern eines toten Schweins“, „wie ein alters-schwacher Löwe mit Haarausfall auf der Flucht vor der Peitsche seines Dompteurs“.

Wer Verwirrspiele der psychedelischen Art im Metier von Psychothrillern mag, ist mit der Lektüre gut bedient. Das Ende wird natürlich nicht verraten.