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Christian1977
Wohnort: 
Leipzig

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Insgesamt 200 Bewertungen
Bewertung vom 11.04.2023
Das Fräulein
Andric, Ivo

Das Fräulein


ausgezeichnet

Sarajevo, zu Beginn des 20. Jahrhunderts: Als Rajkas Vater seiner 15-jährigen Tochter auf dem Sterbebett einprägt, sie solle im Leben sparen, sparen und sparen, ahnt er wohl selbst nicht, wie sehr er damit dem Leben des Mädchens eine unaufhaltsame Richtung vorgibt. Dabei wollte der Geschäftsmann bloß vermeiden, dass sie dieselben Fehler wie er begeht. Denn Obren Radakovic steht kurz vor seinem Tod vor dem finanziellen Ruin. Rajka nimmt sich die Worte des geliebten Vaters zu Herzen und spart künftig an allen Ecken und Enden. Während ihre finanziellen Mittel anwachsen, wird Rajka selbst immer einsamer, denn bei ihrer Geschäftstüchtigkeit kennt das Fräulein im wahrsten Sinne des Wortes keine Verwandten. Als die Stadt vom Attentat auf den österreich-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand geschockt wird und der Erste Weltkrieg vor der Tür steht, ändert sich auch für Rajka alles. Wem kann sie jetzt noch trauen, auf welches Pferd soll sie setzen, um ihren Reichtum nicht zu gefährden?

Literatur-Nobelpreisträger Ivo Andric (1892 - 1975) schrieb seinen Roman "Das Fräulein" während der deutschen Besetzung Belgrads 1944. Es ist nach "Wesire und Konsuln" und "Die Brücke über die Drina" der dritte Teil seiner sogenannten "Bosnischen Trilogie", dessen drei Werke unabhängig voneinander lesbar sind und die alle innerhalb eines Zeitraums von drei Jahren entstanden. Seit 2011 bringt Zsolnay überarbeitete Fassungen der deutschen Übersetzungen heraus. Das jüngst erschienene "Das Fräulein" bildet auch in dieser Reihe den Abschluss.

Andric erzählt das Leben dieser Rajka Radakovic von ihrem einsamen Tod in Belgrad 1935 ausgehend und blickt mit psychologisch scharfem Blick zurück, wie sich das "Fräulein", wie sie von allen genannt wird, zu diesem verhärmten Menschen entwickeln konnte. Das große Plus des Romans ist dabei die unendlich groß wirkende Fabulierkunst des jugoslawischen Schriftstellers. Schon mit den ersten Sätzen des Werks gelingt es ihm, die Leserschaft mitten hineinzuziehen in das Belgrader Geschehen. Äußerst kleinteilig und atmosphärisch spinnt Andric ein Netz aus poetischen und dennoch zugänglichen Sätzen, in dem man sich leicht verfängt und nicht mehr losgelassen wird. Ein Stil, der sich durch die knapp 300 Seiten zieht. Dabei beweist der Autor, dass es gar nicht so wahnsinnig viel Handlung benötigt, um einen sehr guten Roman zu schreiben. Denn oftmals folgt man dieser Rajka einfach nur durch die Straßen Sarajevos und später Belgrads, partizipiert an ihren Gedanken, an ihren Ängsten und trifft mit ihr Menschen, die es gut oder weniger gut mit ihr meinen.

Die Figuren werden gerade zu Beginn so detailliert und bunt beschrieben, wie ich es zuletzt bei Maxim Billers "Sechs Koffer" kennenlernen durfte. Dabei werden ihre Eigenschaften oft bis ins Groteske gesteigert. Gerade Protagonistin Rajka erscheint wie die Karikatur eines Kapitalisten, eines Geizhalses. Der auktoriale Erzähler spottet manchmal ein wenig über das Fräulein, verlacht sie aber nicht und bleibt stets an ihrer Seite. Viele Schilderungen bekommen einen tragikomischen Unterton, denn blickt man auf das unselige Ende des Fräuleins, bleibt einem das Lachen schon mal im Halse stecken.

Aus psychologischer Sicht besonders stark sind die Szenen, in denen in Sarajevo aufgrund des Attentats großer Aufruhr herrscht und man als Leser eine Mischung aus Euphorie und Bedrohung spürt. Sarajevo und seine Bewohner:innen öffnen sich in dieser Szene und sehen weltbewegenden Ereignissen entgegen, während sich Rajka verschließt, noch stärker abkapselt als zuvor und lediglich daran interessiert ist, ihre Schäfchen ins Trockene zu bringen und auf Seiten der Gewinner stehen zu wollen. Andric setzt diesen apollinisch-dionysischen Kontrast hervorragend um. Im letzten Drittel gelingt ihm zudem ein überraschender Coup, indem er zwei Figuren einführt, die Rajkas bisherige Welt und ihre Anschauungen stark ins Schwanken bringen. Auch hier begibt er sich ganz tief in die Psyche seiner Titel-Antiheldin.

Auf emotionaler Ebene erreicht einen das Buch hingegen eher selten. Lediglich im letzten Drittel bekommt man so etwas wie Mitleid mit Rajka, erkennt in ihr die menschlichen Seiten, die einem über weite Strecken des Romans durch ihr egozentrisches Verhalten verwehrt blieben. Dennoch ist der Roman wegen der Sprache und der Figuren ein insgesamt wirklich gelungener, der Lust darauf macht, noch mehr Werke von Ivo Andric kennenlernen zu wollen.

Bewertung vom 04.04.2023
Den Teufel im Leib
Radiguet, Raymond

Den Teufel im Leib


sehr gut

Frankreich, während des Ersten Weltkriegs: Der 15-jährige François verliebt sich in die drei Jahre ältere Marthe. Doch nicht nur der Altersunterschied ist heikel, denn Marthes Ehemann Jacques kämpft für sein Vaterland an der Front. Mit Leichtigkeit wickelt der Junge die verheiratete Frau um den Finger. Als Marthe schwanger wird, steht sie vor einem Dilemma. Wie soll sie es ihrer Familie und ihrem Mann erklären, der immer mal wieder auf Heimaturlaub ist? Doch trotz der dramatischen Zuspitzung können die beiden einfach nicht voneinander lassen...

Raymond Radiguets "Den Teufel im Leib" erschien im Original erstmals 1923 - und damit nur kurz vor dem viel zu frühen Typhus-Tod des damals 20-jährigen Autors, der sein Werk bereits drei Jahre zuvor, also mit gerade einmal 17 Jahren, beendete. 100 Jahre später ist das Skandalpotenzial mit Sicherheit nicht mehr so hoch wie damals. Dennoch sollte es dem Pendragon Verlag gelingen, mit seiner liebevoll gestalteten Neuausgabe und -übersetzung für Aufmerksamkeit zu sorgen.

Denn der Verlag mit dem freundlichen kleinen Drachen im Logo gönnt dem Klassiker zu seinem 100-jährigen Bestehen nicht nur eine Neuübersetzung durch Hinrich Schmidt-Henkel, sondern versieht seine Ausgabe mit umfangreichen Anhängen wie Zeichnungen des Radiguet-Freundes Jean Cocteau, erstmals in deutscher Sprache veröffentlichten Texten Cocteaus sowie Gedichten und Briefen von Raymond Radiguet.

Ich-Erzähler François, dessen Name im gesamten Roman nie erwähnt wird, präsentiert sich gleich zu Beginn als zwölfjähriger Don Juan, dessen Liebesbrief an die Klassenkameradin allerdings noch nicht zum Erfolg führt. Der Ton für den Rest des Romans ist damit gleich gesetzt, denn nahezu alles dreht sich in "Den Teufel im Leib" im Folgenden um die Liebe zu Marthe. Das ist vor allem zu Beginn aufregend und zeigt deutlich die Gefühle und Verwirrungen der Jugend. Denn Radiguet schreibt so, wie sein Protagonist liebt. Wild und ohne Rücksicht auf Verluste. Manchmal lamentierend und wehleidig. "Meine Tränen brannten. Wenn eine davon auf ihre Hand fiel, war ich immer darauf gefasst, dass sie aufschrie", heißt es beispielsweise auf S. 55. Große Emotionen, die solche Liebesklassiker schon immer auszeichnete. Marthe selbst bleibt als Figur ein wenig blass, auch wenn sie, die Ehebrecherin, die noch dazu einen Soldaten betrügt, durchaus auch etwas Rebellisches an sich hat. Dennoch ist die Figur des Ich-Erzählers so dominant, dass Marthe es in ihrem Schatten schwer hat.

Zugegebenermaßen verliert sich der Roman mit der Zeit ein wenig in seinem immer gleichen Duktus. François präsentiert sich zunehmend unsympathisch, die beiden können ihre Beziehung trotz aller Widrigkeiten nicht beenden. Ein tragischer Ausgang ist früh zu erkennen. Und auch sprachlich sitzt nicht unbedingt jeder Vergleich, jede Stilblüte.

Man sollte das Ganze daher im historischen Kontext sehen und das Alter Radiguets berücksichtigen. Er war 17, als er diesen Roman schrieb. Mit 15 Jahren ging er von der Schule ab. Und "Den Teufel im Leib" schrieb er 1920, als es noch keine Popliteratur gab, keine Beat-Generation. Nur kurz nach dem Ersten Weltkrieg wagte es dieser Junge, die moralischen und gesellschaftlichen Normen und Werte einfach über den Haufen zu werfen. Das Buch ist Rebellion, Aufbegehren, Aufregung. Also alles, was die Literatur oft so gern sein möchte und es doch recht selten ist. Betrachtet man das Werk unter diesen Gesichtspunkten, ist es etwas Besonderes.

Mit "Den Teufel im Leib" beweist der Pendragon Verlag jedenfalls einmal mehr sein Herz für in Vergessenheit geratene und viel zu früh verstorbene Autoren, wie er es zuletzt durch mehrere Stephen Crane-Veröffentlichungen schon getan hat. Es ist dem Verlag und Raymond Radiguet zu wünschen, dass ein Funken seines Rebellentums auch auf die Leserschaft überspringen wird.

Bewertung vom 30.03.2023
Der Keim
Vesaas, Tarjei

Der Keim


ausgezeichnet

Eine Insel, irgendwo in Norwegen: Während eine Sau gerade Junge bekommt und auf den Feldern und in den Scheunen allgemeine Betriebsamkeit herrscht, betritt ein Fremder namens Andreas Vest das Eiland. Offenbar ist er gekommen, um längere Zeit auf der Insel zu bleiben. Die Einheimischen beäugen ihn zwar skeptisch, bemerken aber auch etwas Anziehendes in seinen Augen, seinem Blick. Andreas seinerseits hört Stimmen und denkt noch immer an das verheerende Fabrikunglück zurück, bei dem er damals fast sein Leben verlor. Als er der 17-jährigen Inga im Wald begegnet, nimmt das Unheil seinen Lauf - und ein Keim nistet sich in der Inselgesellschaft ein...

Dem Guggolz Verlag ist es zu verdanken, dass der norwegische Autor Tarjei Vesaas (1897 - 1970) in den letzten Jahren wieder ins Blickfeld des deutschsprachigen Publikums geraten ist. Mit dem sehr guten "Das Eis-Schloss" und dem überragenden "Die Vögel" brachte der umtriebige Verlag die zwei bekanntesten Romane Vesaas' in wunderbaren Neuübersetzungen von Hinrich Schmidt-Henkel heraus. Mit "Der Keim" ist nun erstmals ein früheres und unbekannteres Werk des Norwegers bei Guggolz erschienen. Ein Wagnis, das sich gelohnt hat.

Bereits 1940 erschien das wie gewohnt auf Nynorsk verfasste Buch unter dem Namen "Kimen" und Vesaas stand dabei unter dem Eindruck der Besetzung Norwegens durch die Nationalsozialisten. In seinem Roman lassen sich verschiedene Szenen in diesen historischen Kontext bringen, doch er funktioniert auch als vornehmlich unpolitischer Gesellschaftsroman. Über allem schweben die großen Themen wie Tod, Trauer, Moral, aber vor allem Schuld und Vergebung.

Wie schon in den beiden Vorgängern setzt Vesaas auch in "Der Keim" auf ein buntes Figurenensemble, verzichtet dabei aber überraschenderweise auf eine echte Hauptfigur. Die Perspektive schwankt von einer Figur zur nächsten, der Erzähler begleitet fast jeden einmal, bleibt dabei aber stets neutral. So ist es an der Leserschaft, ihr Urteil zu fällen über Schuld und Schuldige. Denn bereits in der ersten Hälfte geschehen nahezu unfassbare Verbrechen, über die der Klappentext leider ein wenig zu viel verrät.

Vesaas erzählt in knappen Sätzen, verkürzten Dialogen und lässt vieles offen. Ein Großteil dieser Lücken ist der Sprachlosigkeit der Inselbewohner:innen zuzuschreiben. Sie können nicht umgehen mit den Folgen dieser Verbrechen, können ihre Trauer nicht in Worte formulieren, schämen sich ihrer selbst. Vesaas gelingt es in diesen Szenen brillant, Empathie und Verachtung zu vereinen. Sicher ist jedenfalls, dass wohl keine einzige Szene die Leser:innen kalt lassen wird. Dafür passiert einfach zu viel, auch im Ungesagten.

Allerdings benötigt der Leser auch starke Nerven. Denn einige dieser Szenen sind so unerträglich, dass sie sich wohl lange ins Gehirn einbrennen oder sich wie ein Keim erst nach und nach entwickeln, um dann die volle Grausamkeit zu entfalten. Beispielsweise, wenn eine Sau ihre neugeborenen Ferkel frisst. Oder wenn ein rasender Mob sich aufmacht, um einen einzelnen Mann über die gesamte Insel zu jagen. Apropos Keim: Der Titelheld spielt natürlich auch eine tragende Rolle in diesem Roman. Äußerst klugt spielt Vesaas mit diesem Begriff, so dass der Keim seine Bedeutung immer wieder wechselt. Von einer bedrohlichen Krankheit wird er zum vermeintlichen Hoffnungsspender. Oder aus dem Tod entsteht wieder neues Leben.

"Der Keim" von Tarjei Vesaas ist ein eindringlicher und intensiver Roman, der inhaltlich und sprachlich viel wagt und dabei die Leserschaft von Beginn an einbindet in diese seltsame Inselgesellschaft - ob sie es will oder nicht. Er zeigt auf und warnt gleichzeitig davor, wie schnell Menschen dazu in der Lage sind, ihre Zivilisiertheit aufzugeben, um in wilder Raserei mehr als nur ein Leben zu zerstören. Mit Blick auf gesellschaftliche Vorkommnisse wie zuletzt in den USA, aber auch in Deutschland, wirkt der Roman dabei erschreckend aktuell und sollte dringend gelesen werden. So erstaunt es nicht, dass eine moralisch geächtete Figur in einer besonders bewegenden Szene ausgerechnet von einer Stute Trost erfährt und sich ein Tier einmal mehr menschlicher als der Mensch verhält. Hervorzuheben ist zudem noch das vor allem auf der emotionalen Ebene sehr gelungene Nachwort von Michael Kumpfmüller und die gewohnt schöne Gestaltung des Buches.

Es bleibt die Hoffnung, dass Guggolz auch in Zukunft auf Romane von Tarjei Vesaas setzen wird und die dritte Veröffentlichung nicht die letzte ist.

2 von 2 Kunden fanden diese Rezension hilfreich.

Bewertung vom 27.03.2023
Seht mich an
Brookner, Anita

Seht mich an


gut

Frances Hinton arbeitet in der Bibliothek eines medizinischen Forschungsinstituts und verwaltet dort das Bildmaterial, das sich vor allem dem menschlichen Wahnsinn in seinen verschiedensten Formen widmet. Privat fühlt sie sich häufig einsam und allein. Sie lebt nach dem Tod ihrer Mutter noch immer mit der gemeinsamen Haushälterin zusammen und auch die Männerwelt liegt ihr nicht unbedingt zu Füßen. Als sie Nick Fraser, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts, und dessen Frau Alix näher kennenlernt, scheint sie der Einsamkeit Schritt für Schritt entfliehen zu können. Doch zu welchem Preis? Denn die beiden entpuppen sich als besitzergreifend und rechthaberisch und versuchen, immer größeren Einfluss auf Frances' Leben nehmen zu wollen...

"Seht mich an" ist der dritte Roman von Anita Brookner (1928 - 2016), der als deutsche Übersetzung bereits 1987 erschien und nun in einer neuen Ausgabe des Eisele Verlag, versehen mit einem informativen Nachwort von Daniel Schreiber, erneut veröffentlicht wurde. Der Verlag folgt damit seiner Prämisse, in Vergessenheit geratene Autorinnen wieder ins Licht der Öffentlichkeit zu rücken, wie zuletzt so bewegend und erfolgreich mit Margaret Laurence und ihrem Roman "Eine Laune Gottes". Für ihren bekanntesten Roman "Hotel du Lac" gewann Brookner 1984 den Booker Prize, der kurz darauf zudem fürs Fernsehen verfilmt wurde.

Eher Fernsehfilm- als Kinoniveau hat dann auch "Seht mich an", obwohl das Buch durchaus vielversprechend beginnt. Ich-Erzählerin Frances reflektiert klar und präzise über ihre Arbeit und die Verbindung zwischen Kunst und Wahnsinn. Dabei merkt man der Autorin ihren kunsthistorischen Hintergrund an, ohne dass dieser belehrend oder artifiziell wirken würde. Vielmehr weckt Brookner in wenigen Worten großes Interesse an ihrer Protatonistin und deren Tätigkeit. Problematisch ist allerdings, dass sich dieses Interesse im Folgenden nicht aufrechterhalten lässt.

Denn die Hauptfigur entpuppt sich als relativ farblos und langweilig. Attribute, die sich ohne Weiteres leider auf den Roman im Ganzen übertragen lassen. Ein Grund dafür sind die Figuren und ihre fehlende Entwicklung. Frances, eigentlich eine kluge Frau, verfällt den vermeintlich charismatischen Nick und Alix mit Haut und Haar. Dabei ist an Alix das Aufregendste schon der Name. Ansonsten entpuppen sich die beiden als nerviges Spießerpaar, das Bohemiens gleichen soll, aber beim Fernsehabend mit Pralinen nur um sich selbst kreist. Es bleibt völlig unverständlich, was Frances an ihnen findet, wodurch dem Roman gleichsam seine Grundlage entzogen wird. Über weite Strecken plätschern die angenehme, aber selbst für 1983 etwas altmodische Sprache und die stagnierende Handlung ohne große Überraschungen oder Aufreger vor sich hin. Man folgt Frances in ihren Gedanken, in ihrem Alltag, ihrer Langeweile, die sich nahtlos auf die Leserschaft überträgt und ihrer Einsamkeit.

Trotzdem gelingt es Anita Brookner im Mittelteil plötzlich, für einen kurzen Moment einen veritablen Spannungsbogen zu erzeugen. Frances plant einen Weihnachtsurlaub mit Nicks Kollegen James, zu dem eine Liebesbeziehung möglich scheint. In der Folge geht es darum, diesen vor Nick und Alix so gut wie möglich zu verheimlichen. Dabei beginnt Alix, die Protagonistin in der Bibliothek mit ihren Anrufen zu stalken. Man fiebert in dieser Phase mit der ansonsten unzugänglichen Hauptfigur, die es so gut wie nie schafft, so etwas wie Empathie mit ihr zu empfinden. Doch so schnell diese Ideen auftauchen, so zügig werden sie wieder verworfen. James zieht aus der Wohnung seiner Mutter aus, um bei Alix und Nick zu wohnen, obwohl er sich in deren Anwesenheit merklich unwohl fühlt. Warum? Das bleibt leider Anita Brookners Geheimnis, denn aus den insgesamt wenig komplexen Figuren lässt es sich nicht herauslesen.

So funktioniert "Seht mich an" nur teilweise als psychologisches Drama über die Einsamkeit. Hervorzuheben bleibt dennoch, das wirklich wunderbare Anliegen des Verlags, vergessene Autorinnen wieder in Erinnerung zu rücken. Ich persönlich freue mich aber lieber auf die nächste Margaret Laurence-Veröffentlichung, als es noch einmal mit einem Brookner zu versuchen.

Bewertung vom 20.03.2023
Schmales Land
Dwyer Hickey, Christine

Schmales Land


ausgezeichnet

Meeresrauschen, Urlaub, Sommer: Trotz der verlockenden Aussichten weigert sich der zehnjährige deutsche Waisenjunge Michael beharrlich, als seine amerikanische Adoptivmutter ihn in New York in den Zug Richtung Boston setzen will. Das traumatisierte Kind fürchtet sich vor den Tunneln und dem Fremden im Allgemeinen. Wir schreiben das Jahr 1950 und der Zweite Weltkrieg, in dem Michael seine Eltern verlor, ist noch nicht lange vorbei. Als er in Cape Cod Bekanntschaft mit der exzentrischen Künstlerin Mrs. Aitch macht, scheinen zarte Sonnenstrahlen die dunklen Wolken vertreiben zu können. Doch die Freundschaft ist fragil, denn Mrs. Aitch hadert selbst mit ihrer Existenz und mit ihrem Ehemann, dem berühmten amerikanischen Maler Edward Hopper, dessen Gemälde "Sea Watchers" übrigens auch das Cover ziert.

"Schmales Land" ist der neue Roman der irischen Autorin Christine Dwyer Hickey, der 2020 unter anderem mit dem Walter Scott Prize ausgezeichnet wurde - und tatsächlich der erste, der als deutsche Übersetzung von Uda Strätling jüngst im Unionsverlag erschienen ist. Allein dafür gebührt dem Schweizer Verlag schon Dank, denn das Buch strahlt eine so bemerkenswerte Schönheit und Eleganz aus, dass dem deutschsprachigen Publikum hier ansonsten ein großes Werk entgangen wäre. "Schmales Land" wirkt dabei im positiven Sinne typisch amerikanisch und man muss schon zweimal die Vita der Autorin lesen, um nicht auf den Gedanken zu kommen, dass es sich eigentlich um einen Klassiker der amerikanischen Literatur handelt, der sich nahtlos in die Reihe der großen amerikanischen Erzähler:innen einreihen könnte.

Dwyer Hickey entpuppt sich nämlich nicht nur als begnadete Erzählerin, sondern schafft es auch, dass man als Leser:in eine fast unheimliche Allianz mit den Figuren eingeht. Selten zuvor fühlte ich mich Romanfiguren so eng verbunden wie in "Schmales Land". Ob Waisenjunge Michael, sein gleichaltriger Urlaubsbegleiter Richie oder das Künstlerehepaar Hopper, das namentlich übrigens nicht ein einziges Mal im gesamten Roman auftaucht - Dwyer Hickey gelingt es, dass man sich mit den Figuren freut, mit ihnen leidet und vor allem immer wieder um sie fürchtet. Sie alle strahlen eine große Ambivalenz aus, begehen einerseits zahlreiche Fehler, treffen aber mit ihrem Verhalten mitten ins Herz der Leserschaft. Denn durch die Empathie, die die Autorin ihren Charakteren entgegenbringt, werden diese Fehler nicht nur verzeihlich, sondern sogar verständlich. Letztlich gibt es im gesamten Werk kaum eine Situation, in der man sich in den häufig auftretenden Konflikten klar auf die Seite der einen oder der anderen Figur schlagen kann, weil sie alle bei jedem ihrer Fehltritte etwas eint: Menschlichkeit und Lebendigkeit.

Ein weiterer Vorzug des Buches ist die Multiperspektivität, die mit dem Verständnis und der Komplexität der Figuren unmittelbar zusammenhängt. In gewissen Momenten erlebt man dieselbe Situation hintereinander aus den Augen zweier Figuren und nimmt diese plötzlich ganz anders wahr. Genau wie Mrs. Aitch oder Michael zeigt sich Christine Dwyer Hickey nämlich als hervorragende Beobachterin. Jedes Wort, jede Geste, ja sogar jede Mimik wird von den Figuren unterschiedlich interpretiert. Dadurch entsteht ein einzigartiges Panorama der Kommunikation, das sogar über das Vier-Seiten-Modell von Friedemann Schulz von Thun noch hinausgeht. Die Dialoge sind pointiert und häufig tragikomisch.

Zudem beweist die Autorin mit diesem Buch, dass weder sprachlich noch inhaltlich ein großes Spektakel notwendig ist, um einen herausragend guten Roman zu schreiben. Die Sprache ist klar und elegant, warmherzig und melancholisch, glänzt aber nicht wegen besonderer literarischer Einfälle oder Stilmittel, sondern ist schnörkellos und trotzdem oder gerade deshalb einfach wunderbar. Die Handlung wird langsam und bedächtig erzählt, der Roman ist still und auf den ersten Blick passiert eigentlich gar nicht viel. Doch es sind vielmehr die inneren Dramen, die kleinen Verletzungen und Verfehlungen des Alltags, die den Figuren zusetzen und gerade durch dieses Unprätentiöse eine bemerkenswerte Intensität bei der Leserschaft bewirken sollten.

Insgesamt ist "Schmales Land" für mich der bislang stärkste Roman des Jahres, ein funkelndes Juwel, das sowohl Freund:innen von Künstlerromanen, als auch Leser:innen von Entwicklungsromanen begeistern dürfte. Hoffentlich gelingt Christine Dwyer Hickey damit auch auf dem deutschsprachigen Markt der verdiente Durchbruch.

Bewertung vom 13.03.2023
Lichte Tage
Winman, Sarah

Lichte Tage


gut

Oxford, Anfang der 1960er-Jahre: Als sich die beiden zwölfjährigen Jungen Ellis und Michael erstmals begegnen, bemerken sie gleich, dass dies der Beginn einer außergewöhnlichen Freundschaft sein könnte. Den zeichnenden Ellis und den lesenden Michael eint nicht nur die Liebe zur Kunst. Vielmehr herrscht zwischen ihnen selbst eine seltsame Anziehungskraft. Und so überrascht es nicht, dass es zwei Jahre später zum ersten Kuss der beiden kommt. Mehr als 30 Jahre später sitzt Ellis in einer Art Midlife-Crisis vereinsamt in seinem Haus und blickt zurück auf diese Freundschaft, die zarte Liebe - und auf das Leben mit seiner fünf Jahre zuvor tödlich verunglückten Ehefrau Annie. Auf die lichten Tage also, die in der vorherrschenden Dunkelheit allerdings kaum Hoffnung geben...

"Lichte Tage" ist der neue Roman der Schriftstellerin und Schauspielerin Sarah Winman, der in der deutschen Übersetzung von Elina Baumbach jüngst bei Klett-Cotta erschienen ist. Und er beginnt mit einem Ärgernis, denn eine Namensverwechslung im ersten Satz des Romans habe ich zuvor wohl auch noch nicht erlebt. Da diese Verwechslung erst nach etwa 50 Seiten deutlich wird, herrschte bei mir doch einige Zeit Verwirrung. Ansonsten mäandert die Handlung nach einem kurzen Prolog größtenteils zwischen den 1960er- und den 1990er-Jahren hin und her. Man kann ihr gut folgen, da sie sich ebenso wenig wie die Sprache als besonders komplex erweist. Höhepunkte sind sicherlich die ersten Begegnungen zwischen den Jungen und der Beginn ihrer Freundschaft und Liebe. Sarah Winman nimmt im gesamten Roman jede Art von Liebe, jede Beziehung als gegeben hin, ohne sie infrage zu stellen oder an ihr zu zweifeln. Ob homo-, bi- oder heterosexuell: In "Lichte Tage" herrscht diesbezüglich eine bemerkenswerte Selbstverständlichkeit vor. Frei nach dem Motto: "Lieb doch, wen du willst!"

Bedauerlich ist hingegen, dass sie sich teilweise für die falschen Momente Zeit nimmt und andere dahingehend vernachlässigt. So begleiten wir beispielsweise Ellis äußerst kleinteilig in die Dusche, lassen ihn den Wasserhahn einschalten, warten, aus der Dusche und wieder nach unten gehen. Hier hätte dem Roman eine Straffung, eine Verdichtung gut getan. Über zentrale Momente in der Jugend rauscht "Lichte Tage" hingegen hinweg. Genauso unbefriedigend scheint die Figur Annie zu sein. Während die Anfangsszenen zwischen Ellis und ihr noch recht ausführlich und bisweilen ein wenig kitschig erzählt werden, ist sie irgendwann nur noch eine Art "liebenswerter Keil" in der Beziehung zwischen Ellis und Michael. Annie wird von beiden Männern auf eine Art geliebt und liebt zurück. Aber was das Besondere an ihr ist, wird leider nicht deutlich. Zudem entpuppt sich "Lichte Tage" in den ersten zwei Dritteln des Romans doch als arg dialoglastig, wobei diese manchmal ein wenig hölzern wirken.

Umso erstaunlicher ist das, wenn man das letzte Drittel des Romans liest. In Michaels Tagebuch verfolgt man seine Rückkehr nach Südfrankreich, wo er als junger Mann mit Ellis einen unvergesslichen Urlaub erlebte. Plötzlich ist die Sprache poetisch, der ganze Text wird von einer bemerkenswerten Melancholie erfüllt. Hier zeigt sich, welch großes Potenzial dieses Buch gehabt hätte, wie schön Sarah Winman schreiben kann. Doch im Vergleich zur ersten Hälfte des Romans wirkt dies eher etwas unpassend und unrund. Fast so, als hätte plötzlich eine zweite Autorin Lust am Fabulieren empfunden.

Fazit: "Lichte Tage" ist eine nur in Ansätzen gelungene Mischung aus Coming-of-Age- und Liebesroman, deren großes Potenzial zwar spürbar ist, aber nicht konsequent genutzt wird. In Erinnerung bleibt die besondere Beziehung zwischen Ellis und Michael und Sarah Winmans empathischer und selbstverständlicher Umgang damit sowie der melancholische Rückblick Michaels auf die eigene Jugend.

Bewertung vom 16.02.2023
Der Inselmann
Gieselmann, Dirk

Der Inselmann


ausgezeichnet

Irgendwo in der DDR zu Beginn der 1960er-Jahre: Der zehnjährige Hans ist ein Träumer und Einzelgänger. Sein einziger Freund ist Nachbarsjunge Karl-Georg und auch seine Eltern scheinen eher mit sich und ihren Problemen beschäftigt, als sich liebevoll um ihr einziges Kind kümmern zu können. Als der Vater beschließt, unter den vage bleibenden gesellschaftlichen Bedingungen nicht mehr weiterleben zu wollen, ändert sich für Hans alles. Denn von der Stadt ziehen sie auf eine Insel mitten in einem See. Während der Junge anfangs nur mit dem verwilderten Hund Bull Freundschaft schließt, fühlt er sich nach und nach eins mit der ansonsten unbewohnten Insel. Doch gerade, als er sein persönliches Paradies gefunden zu haben scheint, meldet sich die Schulbehörde und bestellt ihn zum Besuch der Volksschule ein...

Dirk Gieselmann machte sich bislang vor allem als Journalist einen Namen und wurde unter anderem für seine humorvolle Live-Berichterstattung des Fußball-Magazins "11 Freunde" mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnet. Überraschend ernst und gefühlvoll präsentiert sich sein Debütroman "Der Inselmann", der nun bei Kiepenheuer & Witsch erschienen ist. Es ist eine poetische Reise in die Seele eines jungen Individualisten, der irgendwie nicht in die Gesellschaft zu passen scheint. Gieselmann beobachtet und begleitet seinen kleinen Protagonisten mit großer Empathie und scheint immer eine schützende Hand über ihm ausbreiten zu wollen. Da überrascht es nicht, dass er Hans in einem Interview mit Radio Eins kürzlich als Freund bezeichnete. Für Hans ist diese Freundschaft überlebenswichtig, denn ohne seinen Förderer Gieselmann könnte er in doppeltem Sinne nicht in dieser Welt existieren.

Ganz unmittelbar springt den Leser:innen die Schönheit des Textes ins Auge und ins Herz. Gleich zu Beginn legt der Autor damit den Grundstein für eine hochpoetische Reise seiner Hauptfigur und kreiert eine dichte Atmosphäre, in der Gieselmann zahlreiche wundervolle Bilder und Metaphern gelingen. Insbesondere die Naturbeschreibungen, aber auch Hans' Empathie mit den Tieren erinnern in diesen Momenten an Florian Knöpplers "Kronsnest", dem vielleicht bewegendsten Coming-of-Age-Roman der jüngsten Vergangenheit, auch wenn dieser handlungsorientierter und dialoglastiger war. Und im Finale tauchen sogar Bezüge zum jungen Aussteiger Christopher McCandless auf und Jon Krakauers dazugehöriges Buch "In die Wildnis". Denn letztlich ist Hans' Kampf nach persönlicher Freiheit auch immer ein Zwiestreit zwischen Kultur und Natur, zwischen Gesellschaft und Individuum.

Zentrales Thema ist nämlich immer wieder die Individualität, die Freiheit des Einzelnen in einem nie explizit genannten Land, das doch so sehr auf das Kollektiv setzte. Doch auch die Stille hat für den Roman eine immense Bedeutung. So wird Hans an einer Stelle als "Gebieter der Stille" bezeichnet. Allerdings könnte man Dirk Gieselmann auch selbst als einen solchen bezeichnen. Denn ihm gelingt es, mit seinem erstaunlich leisen Roman, den kurzen, pointierten Sätzen und der großen Melancholie so viel im Leser zum Schwingen zu bringen, dass einen die vielen offenen Fragen letztlich gar nicht stören.

Insgesamt gelingt Gieselmann ein bemerkenswerter und sprachlich innovativer Debütroman, dessen großer Pluspunkt die Atmosphäre ist, hinter die die eigentliche Handlung manchmal ein wenig zurücktritt. Hans ist ein liebenswerter Protagonist, dessen innere Entwicklung beeindruckt und unvergessen bleibt. Mit Gieselmann meldet sich eine weitere aufregende Stimme in der jüngeren deutschen Literatur zu Wort, von der wir hoffentlich noch viel hören werden.

Bewertung vom 30.01.2023
The Shards
Ellis, Bret Easton

The Shards


ausgezeichnet

Es wäre aufgrund der Serienkiller-Thematik zu einfach, Bret Easton Ellis' jüngst bei Kiepenheuer & Witsch erschienenen neuen Roman "The Shards" als schnöden Psychothriller zu lesen oder zu bezeichnen. Denn in dem 740 Seiten schweren Pageturner steckt so viel mehr, als man es auf den ersten Blick erwarten könnte. Bereits im Vorwort, das bis sage und schreibe Seite 24 andauert, erkennt man die große Fabulierlust des Autors, seine Liebe zum Detail, seinen Blick für vermeintliche Nebensächlichkeiten. Es soll nicht das letzte Mal sein, dass man sich während der Lektüre an Stephen Kings große Werke erinnert fühlt. Ellis betont in seinem Vorwort fast schon obsessiv, wie stark ihn die Vorkommnisse im September 1981 traumatisiert hätten und erklärt, warum er sich erst jetzt in der Lage fühle, diese Geschehnisse niederzuschreiben. Denn der Protagonist und Ich-Erzähler - und hier beginnt bereits das Verwirrspiel mit den Leser:innen - heißt eben Bret Ellis und nur "Easton" scheint einen Keil zwischen Hauptfigur und Autor treiben zu wollen. Bret ist ein Erzähler, der mit zunehmender Dauer immer paranoider und unzuverlässiger zu werden scheint. Es ist daher dringend zu empfehlen, bei der Lektüre auf jeden kleinsten Zwischenton des Erzählers zu achten, jede Äußerung gerade im Finale des Buches auf die Goldwaage zu legen. Denn ansonsten entgehen der Leserschaft möglicherweise zentrale Details.

Im September 1981 beginnt das letzte Schuljahr für Bret und seine Freunde auf der Buckley School. Ellis baut eine Scheinwelt der Reichen und Schönen auf und ist sich nicht zu schade, die ein oder andere Klischeefigur auftreten zu lassen. Wie an amerikanischen Highschools üblich, gibt es natürlich den beliebten und etwas einfältigen Football-Star, der selbstverständlich mit dem schönsten Mädchen der Schule ein Traumpaar bildet. Es gibt den dauerbekifften Träumer, die drogenabhängige Tochter eines berühmten Filmproduzenten. Und natürlich gibt es Bret, der inmitten dieser Clique den coolen Unauffälligen gibt. Diese Unauffälligkeit ist ein zentrales Element, um den Protagonisten und alle seine folgenden Handlungen zu verstehen. Denn sie ist nicht aufgesetzt, sondern überlebenswichtig: Bret versteckt seine Homosexualität vor den anderen und hat sich mit Debbie, jener Filmproduzententochter, sogar eine Schein-Freundin zugelegt. Doch diese Scheinwelt bricht nach und nach wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Spätestens mit dem Auftritt Robert Mallorys lassen sich vorherige Oberflächlichkeiten nicht mehr aufrechterhalten.

Während also der Großteil seiner Freunde nichts davon ahnt, konfrontiert der Ich-Erzähler seine Leserschaft umso expliziter mit dieser Homosexualität. Denn gerade in der ersten Hälfte des Romans bleibt man von den Details nicht verschont. In diesen Momenten erinnert "The Shards" ein wenig an Alan Hollinghurst, wobei dessen Figuren in der Regel etwas bornierter scheinen. Berührender sind da schon die stillen Momente, Brets Gedanken und Gefühle, die er verstecken muss.

Ebenso explizit und grausam sind die Details der Trawler-Morde, die im letzten Drittel an einen Slasher-Film erinnern. Sie sind zu verzeihen, denn zuvor schafft es Bret Easton Ellis auf wirklich außergewöhnliche Art und Weise, eine so unheimliche und bedrohliche Atmosphäre zu erzeugen, wie ich sie lange nicht mehr gelesen habe. In einer besonders aufregenden Szene verbringt Bret allein eine Nacht in einem Haus in der Wüste in Palm Springs und wird durch Geräusche und einen durchs Haus wandernden Lichtstrahl einer Taschenlampe geweckt, was fast schon atemberaubend spannend ist. Ohnehin schafft Ellis immer wieder Cliffhanger und Andeutungen an den Kapitelenden, die es den Lesenden unglaublich schwer machen, das Buch aus der Hand zu legen.

Die Einsamkeit der Jugendlichen ist ein weiterer zentraler Aspekt in "The Shards". Denn die Erwachsenen glänzen vornehmlich durch Abwesenheit oder Fehlverhalten. So erwacht Bret jeden Morgen in seinem "leeren Haus am Mulholland Drive", die Eltern eines verschwundenen Mitschülers bemerken erst drei Tage später dessen Verlust. Eine Einsamkeit, die sich ganz hervorragend auch am melancholischen Soundtrack des Buches ablesen und nachhören lässt, denn der Einsatz der Musik spielt eine so wichtige Rolle, dass man sich auch diesen Ellis-Roman wieder, wie schon bei "American Psycho", unbedingt als Verfilmung vorstellen kann.

Insgesamt ist "The Shards" eine äußerst gelungene Mischung aus Coming-of-Age-Drama, Highschool-Roman, Psychothriller und Horror, die neben den King- und Hollinghurst-Referenzen in ihren filmischen Momenten auch an David Lynch, Brian de Palma oder John Carpenter erinnert. Nicht zuletzt wegen der zahlreichen Orts- und Straßennamen in Hollywood und Los Angeles. Unbedingt lesenswert, auch wenn das Buch insgesamt vielleicht 50 oder 100 Seiten kürzer hätte ausfallen können.

Bewertung vom 10.01.2023
Ein Leben in vier Welten
Brachvogel, Frank

Ein Leben in vier Welten


sehr gut

Als der fast 91-jährige Albert Pawlak an Heiligabend vor seinem Computer in Vancouver zusammenbricht, ist es nicht die erste lebensbedrohliche Situation, der er sich ausgesetzt sieht. Schon ein paar Jahre zuvor musste er sich nach einem Herzinfarkt einer Operation unterziehen. Doch im Vergleich zu dem Leben, das Albert führte, muten diese eigentlich doch so dramatischen Ereignisse fast unspektakulär an. Denn Albert lebte ein "Leben in vier Welten": vom Nationalsozialismus über die neu gegründete DDR, von der Flucht in die Bundesrepublik bis zur Auswanderung nach Kanada.

Man muss zunächst einmal festhalten, wie professionell dieser selbstverlegte Roman geraten ist. Neben einem ansprechenden Cover hat sich Brachvogel in seinem Debüt ein sehr gutes Lektorat und offenbar auch Korrektorat geleistet. Äußerst gelungen ist auch der Schachzug, vielen der insgesamt 20 Kapiteln ein Zitat voranzustellen, das unmittelbar auf die Handlung Bezug nimmt.

Die Geschichte, die Ich-Erzähler Albert präsentiert, ist spannend genug. Wohl kaum jemand kann von sich behaupten, in vier verschiedenen Welten gelebt zu haben. Brachvogel wählt konsequent die Retrospektive. Gemeinsam mit den Leser:innen lässt der schwerkranke Albert diese unterschiedlichen Welten vor seinen Augen Revue passieren. Man folgt dem jungen Albert, als er für die Nationalsozialisten als 14-jähriger Junge Flugzeugteile herstellt. Man begleitet ihn als jungen Mann auf seinen Einsätzen in einem Bergwerk im Erzgebirge in der frisch gegründeten DDR. Man leidet mit ihm nach seiner Flucht in den Westen unter den rassistischen Anfeindungen, denen er sich wegen seines aus dem Polnischen stammenden Nachnamens ausgesetzt sieht. Und man atmet mit ihm den Duft der Freiheit und des Neuanfangs nach seiner Auswanderung nach Kanada.

Das Überraschendste an dem Roman ist jedoch, dass er auf einer zweiten Ebene ebenfalls gut funktioniert, ohne dies vielleicht überhaupt zu wollen. Denn auf den ersten Blick ist Albert ein klarer Sympathieträger. Ein charmanter und fleißiger Protagonist, der sich trotz aller Widrigkeiten durchkämpft und dadurch letztlich zu seinem persönlichen Glück findet. Ein empathischer Mensch, der stets an seine Familie denkt und ihr einen Großteil des hart erarbeiteten Lohns zur Verfügung stellt. Und dennoch rattert es im Kopf des Lesenden. Was ist das eigentlich für ein Mensch, der in allen politischen Systemen zu bestehen weiß und dabei immer strebsam seinen Dienst für die Mächtigen leistet? Warum erfahren wir so wenig über sein Privatleben, dafür aber fast alles über die verschiedenen Arbeitsstellen? Kann man es als Leser so durchgehen lassen, dass er Nationalsozialimus und Kommunismus gleichsetzt? Ist es Albert abzunehmen, dass er und vor allem sein gesamtes Umfeld keine Ahnung über die Vorkommnisse hatten, die sich in einem Konzentrationslager in unmittelbarer Nähe abspielten? Der Roman gibt auf all diese Fragen keine Antworten, sondern überlässt es der Leserschaft, diese zu finden. Das macht aus dem eindeutig positiv konnotierten Albert eine erstaunlich komplexe Figur, die stets auf dem schmalen Grat zwischen Anpassung und Widerstand zu wandeln scheint.

Ein paar Schwächen weist der Roman in seiner Dramaturgie auf. Durch die Retrospektive wirkt das Buch bisweilen wie eine Nacherzählung. Albert erzählt zu kleinteilig, wodurch Redundanzen entstehen. Gefühle der Figuren werden zu oft betitelt. Hier könnte das Vertrauen in die Leserschaft noch größer sein, denn Freude, Trauer und Wut lassen sich aus dem Roman auch so deutlich herauslesen, ohne dass sie benannt werden müssten. Brachvogel könnte sich längere Satzkonstruktionen zutrauen, anstatt über weite Strecken vornehmlich auf Hauptsätze zu setzen. Zudem fehlt in einigen Momenten die Atmosphäre. Dass der Autor diese nämlich sehr gut beherrscht, blitzt immer wieder auf, wie beispielsweise auf Seite 21, wo sich Albert als Kind gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Emil nach einem Versteckspiel seinem Lieblingsplatz mit Blick auf die Ostsee nähert. Ein magischer Kindheitsmoment und meine absolute Lieblingsstelle im Buch, von denen ich mir noch mehr gewünscht hätte.

Insgesamt ist "Ein Leben in vier Welten" jedoch ein lesenswerter Debütroman, der nicht nur durch die unglaubliche Geschichte des Protagonisten Albert zu überzeugen weiß, sondern auch zum Nachdenken anregt. Zum Nachdenken über deutsch-deutsche Geschichte, über Alberts Geschichte und Person speziell, aber auch über sich selbst und die eigene Haltung. Und zur Reflexion über aktuelle Kriege und Konflikte - und über Menschen, die gezwungen sind, ihre Welt aufzugeben, um in einer anderen Welt ein vermeintlich besseres Leben zu finden.

Bewertung vom 27.12.2022
Herz der Finsternis
Conrad, Joseph

Herz der Finsternis


gut

Als Kapitän Marlow seinen Flussdampfer in den Kongo steuert, weiß er noch nicht, dass diese Fahrt sein bisheriges Verständnis von menschlicher Zivilisation über den Haufen werfen wird. Sein Auftrag ist es, den erfolgreichen, aber erkrankten Handelsagenten Kurtz aufzuspüren und in die Heimat zurückzubringen. Doch je tiefer der Dampfer in die afrikanische Wildnis eindringt, desto bedrohlicher wird die Reise. Marlow und seine Begleiter sehen sich mehr als einmal Angriffen vom Flussufer ausgesetzt. Doch das eigentliche Grauen lauert dort, wo Marlow es nicht erwartet hatte: im Herzen der Finsternis, dem Schrecken des englischen Kolonialismus.

Vor nicht allzu langer Zeit startete der Penguin Verlag mit seiner "Penguin Edition" eine neue Klassiker-Reihe im Taschenbuchformat, in der populäre Werke der Weltliteratur in knallbuntem Design "Farbe ins Bücherregal" bringen sollten. In kräftigem Lila ist nun "Herz der Finsternis" von Joseph Conrad in der deutschen Übersetzung von Fritz Güttinger und versehen mit einem Nachwort von Ernst Weiss erschienen. Die Erzählung wurde erstmals 1899 veröffentlicht und gilt bis heute als eines der wichtigsten Prosastücke in englischer Sprache. Neben der Besonderheit, dass Conrad als Sohn polnischer Eltern erst mit 21 Jahren Englisch lernte, ist für die Lektüre von "Herz der Finsternis" erwähnenswert, dass der Autor selbst als Kapitän eines Flussdampfers in den Kongo fuhr. Somit erhöht sich die Authentizität der Erzählung um ein Vielfaches.

Seine stärksten Momente hat "Herz der Finsternis" eindeutig in den Momenten, in denen es Joseph Conrad gelingt, die Atmosphäre der Flussfahrten fast spürbar zu machen. Sei es auf der einleitenden Fahrt auf der Themse, auf der ein anonymer Ich-Erzähler den Protagonisten Marlow einführt, oder später auf der zentralen Dampferfahrt in den Kongo. Gut spürbar ist auch der innere Kampf Marlows, von dessen Aufbruchstimmung und Optimismus zu Beginn seiner Reise nach und nach überhaupt nichts mehr übrig bleibt und er sich nur noch Gewalt und Gefahren gegenübersieht.

Doch das Buch weist aus heutiger Sicht auch Schwächen auf. Trotz seines hehren Ansinnens - der Fundamentalkritik am englischen Kolonialismus und Rassismus - wirkt die Umsetzung fragwürdig. Denn Conrad gelingt es nicht, der afrikanischen Bevölkerung ein Gesicht zu geben. Nicht einmal ein diffuses. Ständig schreibt er von "schwarzen Leibern", von unkultivierten "Wilden", von Menschen ohne Zeitbegriff, die es nicht gewohnt waren, die Folgen ihres Handelns zu bedenken. Und auch die Figurenkonstruktion an sich ist nicht immer gelungen. Insbesondere die Figur Kurtz, die uns mehr als 100 Seiten lang als ein Mythos, ja, fast als eine Legende präsentiert wird, entpuppt sich letztlich als Enttäuschung und als wahnsinnig wirkender Krimineller, aus dem überhaupt nicht hervorgeht, warum er zuvor ein solch hohes Ansehen hatte. Stilistisch gibt es zahlreiche Wiederholungen, was aber natürlich auch dem Fakt geschuldet sein könnte, dass Joseph Conrad eben kein Muttersprachler war. Zudem entpuppt sich "Herz der Finsternis" als relativ handlungsarm, so dass die Erzählung in ihrer Gesamtheit deutlich länger wirkt als die gerade einmal gut 150 Seiten.

Das Nachwort des Schrifstellers Ernst Weiss ist durchaus emotional und macht deutlich, was Weiss an seinem Schrifstellerkollegen schätzte. Doch letztlich hätten ein paar sachlichere Fakten zu Conrad und zur Entstehung von "Herz der Finsternis" sicherlich einen höheren Informationsgehalt gehabt. Besser ist da die Editorische Notiz des Verlags, in der deutlich gemacht wird, warum man davon abgesehen hat, diskriminierende Begriffe der Erzählung zu ändern und sie somit als historisches Dokument für sich stehen zu lassen.

Die historische Bedeutung der Erzählung ist es letztlich auch, die eine erneute Veröffentlichung rechtfertigt und dafür sorgt, dass das "Herz der Finsternis" auch von einer jüngeren Generation erschlossen werden kann. Denn bei aller Kritik darf man nicht vergessen: Joseph Conrad war einer der Ersten, der mit seinem Werk öffentlich Kritik am europäischen Kolonialismus und Rassismus verübte. Eine Leistung, die ihm niemand mehr nehmen kann.