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CK
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Raum Stuttgart

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Insgesamt 222 Bewertungen
Bewertung vom 28.02.2025
Frei sein  (Mängelexemplar)

Frei sein (Mängelexemplar)


ausgezeichnet

Wichtiges und kluges Buch:
„Die Freiheit, die Menschen zu sein, die wir sind.“


Die Anthologie „Frei sein! Das Ringen um unseren höchsten Wert“, herausgegeben von Tanja Raich, beinhaltet Texte von zwanzig Autor:innen rund um das Thema „Freiheit“. Diese Beiträge fallen ganz unterschiedlich aus, sind aber allesamt sehr interessant und lesenswert. Die Autor:innen beschäftigen sich mit Aspekten der Freiheit in Bezug auf Körper, Arbeit, Klasse, Liebe, Sex, Feminismus, Literatur, Konsum und so weiter.

"Freiheit entzündet etwas in uns, vielleicht das, was wir (auch) mit dem Menschsein verbinden oder uns zumindest vom Menschsein wünschen."

"Gerade deshalb ist es ein Begriff, der für jede neue Revolution, für jede neue Bewegung notwendig bleibt, nichts anderes steht immer noch so sinnbildlich für Selbstbestimmung und Gleichberechtigung. Wir wollen frei sein. Wir wollen in einer freien Gesellschaft leben, doch scheitert dieses Wort vor allem und gerade an diesem Wir. Wer spricht hier von Freiheit, und von welcher Freiheit ist überhaupt die Rede?"

"Was ist überhaupt eine "freie" Gesellschaft, und worin ist unsere ganz persönliche Freiheit begründet? Kurzum: Wie frei sind wir wirklich, und was braucht es, um frei zu sein?"

Mich persönlich haben ganz besonders die Beiträge von Elisabeth Wellershaus, Linus Giese, Luna Al-Mousli, Ninia LaGrande, Sophia Süßmilch, Şeyda Kurt, Marlene Engelhort, Madita Oeming, Jayrôme C. Robinet, Franziska Hauser und Alexandra Stanić bewegt und beührt.

Meiner Meinung nach ein wirklich sehr lesenswertes und kluges Buch, das viel Stoff zum Nachdenken bietet. Ganz klare Empfehlung von mir!

„Unfreie, die sich für frei halten, kämpfen nicht mehr.“ Madita Oeming

"Genau das steckt für mich in dem Satz "Leben und lesen lassen": Die Freiheit, die Menschen zu sein, die wir sind - ohne Angst ohne Scham und ohne dafür angefeindet oder bedroht zu werden." - Linus Giese

„Freiheit ist: das bisschen letzte Hoffnung, dass es anders werden kann, dass es besser werden kann.“ - Sophia Süßmilch

Bewertung vom 26.02.2025
Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund
Robinet, Jayrôme C.

Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund


sehr gut

Sehr lesenswerte Biografie: Für mehr Diversität

Ich habe bereits mit großer Begeisterung verschiedene Beiträge in Anthologien sowie seinen Roman „Sonne in Scherben“ von Jayrôme C. Robinet gelesen, daher war ich auf neugierig auf seine Biografie namens "Mein Weg von einer weißen Frau zu einem jungen Mann mit Migrationshintergrund".
Jayrôme hat früher als weiße, französische Frau gelebt. Doch dann zieht er nach Berlin, so sein Leben als trans Mann beginnt.
Er nimmt Testosteron und erlebt eine Art zweite Pubertät, ihm wächst ein Bart und plötzlich wird er als „Mann mit Migrationshintergrund“ gesehen. Er bemerkt in verschiedenen Alltagssituationen, dass sich nicht nur seine Identität, sondern auch das Verhalten seiner Mitmenschen ihm gegenüber stark geändert hat.
Sein Vorteil ist, dass Jayrôme es vergleichen kann, wie er als Mann bzw. als Frau behandelt wurde/wird.
Das Buch ist sehr persönlich und unterhaltsam gleichermaßen geschrieben. Es geht hier nicht nur um die generellen Probleme queerer und trans Menschen, gesellschaftliche Wahrnehmungen und Zuordnungen, sondern auch das Thema Rassismus wird behandelt.
Ich finde das Buch sehr lesens- und empfehlenswert für alle, die sich mit dem Thema Diversität beschäftigen möchten.

Bewertung vom 26.02.2025
No Hard Feelings
Novak, Genevieve

No Hard Feelings


sehr gut

Die liebenswert-chaotische Penny Moore auf dem Weg zu sich selbst

„No hard feelings“ von Genevieve Novak ist so ein Buch, bei dem ich vorher etwas skeptisch war, ob ich es mögen würde. Aber ich muss sagen: JA, ich mag es tatsächlich (mehr als ich dachte).
Zum Inhalt:
Die siebenundzwanzigjährige Penny hat so ihre Probleme. Sie kommt einfach nicht von ihrem Exfreund Max los, der zwar weiterhin Sex und Freundschaft will, aber keine Beziehung. Ihre Freundin Annie macht Karriere, ihre Freundin Bec verlobt sich und ihr Mitbewohner/Freund Leo macht Party ohne Ende. Penny selbst hasst ihren Job und ihre fiese Chefin Margot. Und sie hat einige Probleme mit sich selbst, mit ihrem Selbstwertgefühl, mit Panikattacken und Depressionen. Doch das soll jetzt alles anders werden, sie will ihre Beförderung kriegen und Max wieder als festen Freund gewinnen. Leider sind die schlechten Angewohnheiten und Gedanken sehr schwer loszuwerden …
Ich fand Penny gleichermaßen liebenswert wie chaotisch. Alle Charaktere waren sehr authentisch dargestellt, manchmal vielleicht etwas stereotyp, aber insgesamt passte es für mich. Man konnte die Gedanken und Gefühle von Penny meist gut nachvollziehen; manchmal hätte man sie schütteln wollen, damit sie nicht wieder dieselben Fehler macht!
Ich fühlte mich auf jeden Fall gut unterhalten, und gegen Ende des Romans bekommt die Geschichte dann auch noch einiges an Tiefgang. Ich fand es interessant, wie Penny den Weg zu sich selbst findet, ihren Selbstwert erkennt und somit auch glücklich werden kann.
Der Schreibstil von Genevieve Novak ist modern, scharfsinnig und witzig, ich bin ziemlich begeistert.
Ein Buch zum Lachen und Weinen und Mitfühlen, von mir bekommt es eine Leseempfehlung!

"Ich habe nur eine popelige Sukkulente umgebracht, aber ich schwöre, sie war schon lebensmüde, als m sie zu mir kam."

„Niemand ist glücklich", entgegne ich. "Das hier ist kein Nancy-Meyers-Film. Das Glück ist kein Flugzeug, in das man ein steigt und davonfliegt. Die Menschen erleben nur deshalb ab und zu schöne Momente, damit sie sich nicht auf die Gleise werfen."

"Mein mageres, kleines siebzehnjähriges Ich hatte etwas Besseres verdient als die Enttäuschung, die seine Zukunft darstellen sollte. Vielleicht hat mein siebenundzwanzigjähriges Ich auch etwas Besseres verdient. Vielleicht ist es an der Zeit, dass ich die Verantwortung für das Nervenbündel übernehme, das aus mir geworden ist."

Bewertung vom 24.02.2025
Der Polarkreis
Marklund, Liza

Der Polarkreis


sehr gut

Spannender Auftakt zu einer Schweden-Krimi-Reihe

„Der Polarkreis: Kriminalroman (Die Polarkreis-Trilogie 1)“ von Liza Marklund ist der Auftakt zu einer neuen Krimireihe. Früher habe ich viele Schweden-Krimis gelesen, bisher aber noch nichts von Liza Marklund. Das düster-atmosphärische Cover hat mich jedoch neugierig gemacht.
Im ersten Band der Reihe wird im Jahr 2019 in einer schwedischen Kleinstadt eine kopflose Frauenleiche gefunden. Es wird schnell klar, dass es sich hier um Sofia handeln muss, die vor vierzig Jahren als 17jähriges Mädchen spurlos verschwand. Das Geheimnis um ihr Verschwinden wurde bis heute nie gelöst.
Damals trafen sich fünf Teenager-Mädchen regelmäßig in ihrem Buchklub namens „Der Polarkreis“. Nun treffen sich die vier übrigen Frauen zum ersten Mal seit damals wieder, um der Frage nachzugehen, was damals geschehen ist. Es wird immer klarer, dass der Auslöser für das Verbrechen auch mit dem Buchklub zu tun hat ...
Das Buch wechselt zwischen heute und der Vergangenheit in den 1980ern, was die Spannung natürlich immens erhöht. Der Schreibstil ist gut lesbar. Anfangs tat ich mir mit den zahlreichen Namen und Personen etwas schwer, kam dann aber doch recht schnell ins Buch.
Die Atmosphäre ist gut spürbar dargestellt und die Autorin hat die Charaktere und die Beziehungen der damaligen Clique sehr authentisch beschrieben.
Die Spannung konnte bis zum Schluss aufrechterhalten bzw. sogar noch gesteigert werden. Das Ende bringt eine überraschende Wende, aber ich möchte nicht spoilern.
Natürlich wird man auch neugierig auf den nächsten Band dieser Reihe. Ich denke, es lohnt sich, hier noch die weiteren Bände zu lesen. Von mir gibt es solide 4 von 5 Sternen.

Bewertung vom 24.02.2025
Sind Antisemitisten anwesend?

Sind Antisemitisten anwesend?


sehr gut

Wichtiges Thema: Ein kluges Buch, das zum Nachdenken anregt

Das Buch „Sind Antisemitisten anwesend?: Satiren, Geschichten und Cartoons gegen Judenhass“, herausgegeben von Lea Streisand, Heiko Werning und Michael Bittner behandelt ein sehr wichtiges Thema. Die Umsetzung des Themas Antisemitismus ist hier mal recht interessant gestaltet, nämlich in Form von ca. 80 Satiren, Essays, Gedichte, Geschichten und Cartoons. Die Beiträge stammen von Lea Streisand (dank ihr wurde ich zugegebenermaßen überhaupt auf das Buch aufmerksam, da ich ein großer Fan von ihr bin!), Ahne, Katja Berlin, Bov Bjerg, Franz Dobler, Danny Dziuk, Hartmut El Kurdi, Alexander Estis, Flix, Katharina Greve, Thomas Gsella, Rattelschneck, André Herzberg, Dmitrij Kapitelman, Charles Lewinsky, Julia Mateus, Til Mette, Susanne M. Riedel, Stefanie Sargnagel, Dana von Suffrin, Peter Wawerzinek, Bodo Wartke, Ella Carina Werner und anderen.
Die Beiträge der Autor*innen sind natürlich ganz unterschiedlich – zugegeben, nicht alle haben mich auf die gleiche Weise angesprochen, aber das empfindet ja jeder anders. Viele Texte sind sehr persönlich und sehr berührend, oft auch erschütternd.
Auf jeden Fall ist das ein sehr kluges und (leider!) notwendiges Buch, das stark zum Nachdenken anregt. Von mir bekommt es eine klare Leseempfehlung!

Bewertung vom 21.02.2025
Der süßeste Bruder der Welt und andere Irrtümer
Lindell, Elin

Der süßeste Bruder der Welt und andere Irrtümer


ausgezeichnet

Witzige & kluge Graphic Novel zum Thema Patchwork-Familien

„Der süßeste Bruder der Welt - und andere Irrtümer“ von Elin Lindell ist eine witzige Graphic Novel über eine besondere Patchwork-Familie. Es geht hier um Dani, die selbst durch eine Samenspende entstanden ist. Sie hätte unglaublich gerne ein Geschwisterchen. Doch ihre alleinstehende Mutter möchte das partout nicht. Aber als Dani heimlich in Mamas Dating-App herumschnüffelt, swiped sie bei einem peinlichen Typen versehentlich nach rechts! Kaum zu glauben, aber ihre Mutter verliebt sich tatsächlich und bringt mit dem neuen Mann auch gleich noch einen Bruder mit in die Familie. Der seltsame Typ entspricht so überhaupt nicht Danis Wunschvorstellung vom „süßen kleinen Brüderchen“. Also muss ein Plan B her ...

Ich hatte gar nicht erwartet, dass mir dieses Buch so gut gefallen würde. Dieser Comic-Roman ist nicht nur großartig illustriert, er ist witzig und unterhaltsam, hat aber auch wirklich Tiefgang und begegnet Kindern/Jugendlichen auf Augenhöhe.
Der Schreibstil von Elin Lindell ist sehr witzig und lebendig. Die Gestaltung des Buchs hat uns sehr gut gefallen, sehr witzige Illustrationen.

Das ist mal ein wirklich schönes und modernes Buch über Patchworkfamilien in der heutigen Zeit.
Ganz klare Leseempfehlung von uns!

Bewertung vom 21.02.2025
Service
Gilmartin, Sarah

Service


ausgezeichnet

Hm, noch ein weiterer #metoo-Roman, brauchen wir den wirklich?
Im Fall von Sarah Gilmartins Roman „Service“ sage ich eindeutig: JA, brauchen wir!
Die Thematik ist zwar an sich nicht neu, hier ist das Setting aber mal in der Nobel-Restaurant-Szene angesiedelt, zudem ist die Umsetzung mit den drei Erzählperspektiven wirklich sehr gelungen. Dass nicht nur das Opfer, sondern auch der Täter und dessen Ehefrau zu Wort kommen, sorgt hier für ein besonderes Lesevergnügen. Insbesondere die Sicht und Gedankengänge von Julie, der Ehefrau, fand ich sehr interessant.

Der Titel „Service“ mutet recht harmlos an und zu Beginn des Buchs wird man auch erstmal in die Welt der Sterne-Restaurants und die stressigen Tagesabläufe eingeführt. Diese Beschreibungen fand ich sehr authentisch und glaubwürdig, besonders was die Situation der Frauen im Service und das Klientel im Restaurant angeht:

"Die ganze Atmosphäre. Das Anspruchsdenken. Bloß weil sie reich sind, können sie uns, das Personal, behandeln, wie sie wollen."

Und dann geht es richtig los: Hannah wird mit ihrer Vergangenheit konfrontiert, obwohl sie die Erinnerungen an ihre Zeit im Restaurant vor 10 Jahren lieber weiterhin verdrängen will. Sie möchte sich nicht mehr mit dem befassen, was damals passiert ist. Daher möchte sie nicht im Gerichtsverfahren gegen ihren früheren Chef Daniel aussagen. Dem berühmten Sternekoch werden sexuelle Übergriffe vorgeworfen, weswegen er gezwungen war, sein Restaurant zu schließen. Er kann das gar nicht fassen, da er selbst dem Vorfall, um den es bei der Anklage geht, kaum Bedeutung beimisst. Er sieht sich selbst als Opfer von Rufmord und einer ungerechtfertigten Anklage. Gleichzeitig muss sich seine Frau Julie neu sortieren, nicht nur die Belagerung durch die Presse setzen ihr zu, sondern auch die Frage, wie gut sie den Mann an ihrer Seite eigentlich wirklich kennt?

"Die Frage verfolgt mich überall hin: wie konnte ich nicht wissen, dass mein Mann mit anderen Frauen anwandelte? Und dahinter die Frage, die mir noch niemand gestellt hat: Wie konnte ich nicht wissen, dass mein Mann ein Triebtäter ist? Aus irgendeinem Grund habe ich darauf keine Antwort, lediglich den grausamen Gedanken, dass all die Jahre bedeutungslos waren, unsere Ehe eine Illusion."

Auf dem Weg bis zur Gerichtsverhandlung nimmt die Handlung ordentlich an Fahrt auf. Dabei gibt es immer wieder Rückblenden, die die Spannung ebenso aufrechterhalten.
Ich möchte hier nicht spoilern und sage daher nichts zum Ende der Geschichte - lest dieses Buch unbedingt selbst!
Wer „Prima facie“ von Suzie Miller mochte, dem wird sicher auch dieses Buch gefallen.
Für mich ist es auf jeden Fall ein echtes Highlight zu einem sehr wichtigen Thema!

"Dieser Sommer ruinierte tatsächlich mein letztes Studienjahr, aber nicht so, wie meine Eltern befürchtet hatten. Im September kehrte ich als anderer Mensch als Trinity College zurück, beschädigt und wachsam, konnte die Geschehnisse nicht hinter mir lassen und war zu verängstigt, um auf eine bessere Zukunft zu vertrauen. Tage, Wochen, Monate, die ich mit der Frage verschwendete, wieso es mir passiert war. Ich war wütend auf alles.
....
.... während meine eigentliche Frage lautete: könnt ihr mir helfen, nicht mehr kaputt zu sein?"

"Gelegentlich gelingt es einem, das Trauma auszublenden, doch die Nachwirkungen vergisst man nicht."

"Und danach, als sie sagte, man könne sich entscheiden, ob man Opfer oder Überlebende sein wolle, dachte ich: Schon, oder man kann sich entscheiden, beides zu sein."

„Auf einmal bin ich wutentbrannt, spüre denselben grenzenlosen Zorn wie nach jener Nacht: Ich war nicht diejenige, die das Problem verursacht hatte, musste es aber trotzdem beseitigen, da die Welt nie müde wird, Frauen mit Aufgaben zu überhäufen.“

Bewertung vom 18.02.2025
Die Sterne ordnen
Romagnolo, Raffaella

Die Sterne ordnen


ausgezeichnet

Raffaella Romagnolos Roman „Die Sterne ordnen“ spielt im Piemont, kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Erst seit Kurzem ist Frieden in Europa. Erzählt wird hier die Geschichte der zehnjährigen Francesca, die in einem Waisenhaus direkt neben der Schule lebt. Sie kümmert sich liebevoll um eine Katze, aber mit Menschen spricht sie nicht. Sie ist intelligent und verständigt sich mit Gesten mit ihrer Banknachbarin. Die beiden Mädchen freunden sich an.
Gilla, die junge Lehrerin, vermutet hinter Francescas Schweigen ein Geheimnis. Sie möchte mehr über das Mädchen erfahren, da sie ahnt, dass es einen Grund für das Schweigen geben muss.

Raffaella Romagnolo erzählt diese Geschichte mit viel Feingefühlt und von der Atmosphäre her stimmig.
Alle Charaktere kommen sehr authentisch rüber und man kann die Personen förmlich vor sich sehen und gut nachvollziehen, wie sie sich verhalten und was sie fühlen bzw. denken.
Die Szenenwechsel zwischen dem Heute (1945/1945, das erste Schuljahr nach dem Krieg) und der Vergangenheit (vor/während des Krieges) fand ich sehr gelungen.
Dieser aufrüttelnde und tief berührende Roman über die Nachkriegszeit in Italien ist ein Buch, das lange nachklingt. Und ebenso erschüttert. Die Grauen des Krieges und dessen Folgen sind hier sehr eindrücklich beschrieben.
Gerade in den heutigen Zeiten sind solche Bücher immens wichtig, die uns klar machen, was Krieg, Verfolgung und Flucht für jeden Menschen bedeuten könne.
Von mir gibt es eine ganz klare Leseempfehlung!

"Die Lehrerin lässt den Blick über die Klasse schweifen. Riesige Augen. Kein Laut. Sie warten auf das Urteil. Sie muss vermeiden, dass die Disziplin in tausend scharfe Splitter zerfällt und das Schuljahr zum Scherbenhaufen wird. Augen wie aufgerissene Fenster. Sie hat den Eindruck, als könne sie die Gedanken aller Schülerinnen lesen. Es sind ihre eigenen Punkt was ist gut, Maestra? Was ist böse? Augen wie Tiegel, wie Spiegel. Wie soll man damit umgehen? Sowas erklären sie einem nicht im Lehrerinneninstitut."

"Und ich schweige lieber, statt zu lügen."

"Sie stützt sich auf die Schaufel. Auf einmal weiß sie nicht mehr, was sie damit anfangen soll, Übelkeit würgt sie bei dem Gedanken, sie dabeizuhaben. Als sei sie an einer Schändung schuld. Sie ist mit der Vorstellung hergekommen, die Straße von Trümmern zu befreien, aber es handelt sich nicht um Trümmer, und das ist keine Straße, kein Platz, keine Stadt mehr. Das ist ein Friedhof."

Bewertung vom 17.02.2025
Die Stärkste unter ihnen (eBook, ePUB)
Seemann, Selina

Die Stärkste unter ihnen (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Selina Seemann hat mit „Die Stärkste unter ihnen“ ein wirklich starkes Romandebüt hingelegt!
Es geht hier um die knapp zwanzigjährige Milena, die gerade eine lange Beziehung beendet hat. Eigentlich möchte sie diese gerne vergessen und reist nach Irland, um sich dort mit Josh zu treffen, den sie bereits seit einiger Zeit kennt. Sie wünscht sich eine Beziehung mit ihm, doch das funktioniert nicht. Denn ihre Vergangenheit holt sie ein ...
Im Klappentext wurde ja schon angedeutet, dass es hier um „Grooming“ geht, und wem das nichts sagt: „Als Grooming wird die gezielte Kontaktaufnahme Erwachsener mit Minderjährigen in Missbrauchsabsicht bezeichnet, indem stufenweise ihr Vertrauen erschlichen wird.“
Und genau das passiert Milena. Als sie 14 ist, gewinnt Nick, ein 20 Jahre älterer Mann, verheiratet und Jugendbetreuer einer Kirche, ihr Vertrauen und beginnt eine Beziehung mit ihr. Diese ist von Anfang an von missbräuchlichen Machtstrukturen geprägt. Er macht sie emotional von sich abhängig, sie würde alles tun, um ihn zu halten, obwohl ihr selbst irgendwann klar wird, dass er sie belügt und betrügt. Dennoch macht sie alles mit, den Sex, das Schlafen mit anderen Mänern auf seinen Wunsch (und er sieht zu), Besuche in Swingerclubs, ... bis sie irgendwann nicht mehr kann. Doch so einfach ist es nicht, aus dieser Beziehung auszubrechen.
Selina Seemann schafft es überzeugend und in großartiger Sprache, die Selbstbefreiung einer jungen Frau zu beschreiben.
Das Buch ist absolut fesselnd, ich konnte es (trotz des schweren Themas) gar nicht mehr aus der Hand legen. Einige Szenen sind wirklich hart zu lesen, aber die Autorin hat das Thema meiner Meinung nach großatig umgesetzt, mit einer sehr authentischen und starken Protagonistin.
Mein einziger Kritikpunkt ist, dass die Eltern der damals immerhin erst fünfzehnjährigen Milena so gar nicht auftauchen in diesem Buch. Das finde ich (selbst Mutter) etwas irritierend ...
Ansonsten: ein wirklich lesenswertes und starkes Buch, das noch lange nachwirken wird.
Ganz klare Leseempfehlung von mir!

"... und glaubte, dass er mir nur wehtun wollte, um mich weiter von sich zu entfernen, um es leichter zu machen, wenn er mich jetzt verließ. In diesem Moment spürte ich die Verletzung unter der Verzweiflung nicht mehr. Meine würde hatte der Kellner in dem indischen Bahnhofsrestaurant mit meinem Tablett und den Resten des Currys abgeräumt. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, ohne Nick zu sein."

"Ich hätte gehen können in diesem Augenblick, ich hätte die Fahrstuhltür offen lassen und mich umdrehen können, durch die Garage gehen, durch den Stadtteil laufen, bis zum Bahnhof hätte ich rennen können, aber ich tat es nicht. Wie so oft entschied ich mich gegen das, was vernünftig gewesen wäre, und für Nick."

"Eins der Dinge, die am schwersten zu begreifen waren, war die Tatsache, dass man gute Erinnerungen an schlechte Menschen haben konnte."

"... und ich spürte, alles würde gut werden, bald, nachdem es noch schlimmer wurde."

"Ich hatte so viel Zeit damit verbracht, mich zu fragen, warum er die Dinge tat, die er tat. Jetzt begann ich mich zu fragen, warum ich das alles mitmachte."

"Und da ist noch so eine Sache. Ich sage jetzt, dass ihr mich gezwungen hat, aber er hat das nicht mit körperlicher Gewalt getan oder so. Er hat mich emotional von sich abhängig gemacht."

"Ich war fünfzehn, als das anfing, ich war wahnsinnig verliebt. Ich hatte überhaupt nicht die Ressourcen, mich da anders zu verhalten und zu erkennen dass das Grooming und Missbrauch waren. Dass er als erwachsener Mann überhaupt nicht das Recht hatte, diese Dinge mit mir zu machen. Und dann war ich irgendwie drin und kam nicht mehr raus. Ich habe mir jahrelang selbst Vorwürfe gemacht, weil ich nicht deutlich genug Nein gesagt habe. Und weil er das wahrscheinlich nach mir noch mit anderen gemacht hat, so wie er es vor mir und während unsere Beziehung auch getan hat."

Bewertung vom 15.02.2025
Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung
Giese, Linus

Lieber Jonas oder Der Wunsch nach Selbstbestimmung


ausgezeichnet

Dieses Buch ist eine kleine Perle!
Erschienen im wunderbaren Kjona-Verlag, schreibt Linus Giese zwar auf "nur" 75 Seiten, aber der Inhalt ist sehr wertvoll und von starker Aussagekraft.
Das Buch, welches in Form eines Briefes geschrieben ist (das finde ich sehr schön und passend), behandelt hauptsächlich das Thema Selbstbestimmung. Und die Frage, warum wir selbst über unseren Namen und unser Geschlecht entscheiden können sollten.
Anhand seiner eigenen Lebensgeschichte erzählt Linus Giese hier sensibel und persönlich.
Aber es geht auch um Trans Menschen allgemein. Diese erleben leider alltägliche Diskriminierung, auch strukturell, auf dem Arbeitsmarkt, im Gesundheitswesen und durch das Transsexuellengesetz, das als verfassungswidrig eingestuft wurde.
Linus Giese entwirft ein Szenario, wie wir leben würden, wenn das Recht auf Selbstbestimmung für alle nicht nur ideell eingeräumt, sondern auch gesetzlich verankert würde.
Ich wünschte, dieses Buch würde von möglichst vielen, ja allen Menschen gelesen werden! Um sich besser in andere Menschen hineinzuversetzen und ihre Lebensentwürfe verstehen zu können.
Für mehr Toleranz, Offenheit und Menschlichkeit in unserer Gesellschaft!
Eine ganz klare Leseempfehlung von!

"Es ist unglaublich schmerzhaft in einer Gesellschaft aufzuwachsen, die nur zwei Räume kennt - nur zwei Kategorien, zwei Boxen -, ich möchte Raum für Menschen schaffen, die aus diesen beiden Kategorien herausfallen. Wir brauchen neue Räume."

"Wir leben in einer Welt, in der ein Großteil der Menschen davon ausgeht, dass sie selbst und ihre Kinder cis und heterosexuell sind, weil das so sein muss und schon immer so gewesen sei. Weil das normal sei. Umso wichtiger ist es dass wir an unterschiedlichen Stellen versuchen, diese "Normativität" infrage zu stellen und aufzubrechen."

"Gleichzeitig besteht die Gefahr, dass Kinderbücher Norman verstärken und Vorstellungswelten begrenzen: wenn es in Büchern keine Feuerwehrfrauen, keine ÄrztInnen und dachdeckerin gibt, dann glauben Mädchen irgendwann, dass ihnen bestimmte Berufe einfach nicht zugänglich sind. Es ist schwer von etwas zu träumen, wenn du es nicht sehen kannst."

"Vielen weißen, heterosexuellen, gesunden cis Menschen fällt oft gar nicht auf, welche Geschichten in Büchern nicht erzählt werden. Es ist mühsam, immer wieder hinzuschauen und - auch die eigenen - Lücken und Leerstellen zu hinterfragen."