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sleepwalker

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Insgesamt 501 Bewertungen
Bewertung vom 27.07.2023
Die letzte Nacht / Georgia Bd.11
Slaughter, Karin

Die letzte Nacht / Georgia Bd.11


ausgezeichnet

Lange hat Karin Slaughter die Fans ihrer „Georgia-Reihe“ warten lassen, bis sie jetzt mit „Die letzte Nacht“ den elften Teil der Serie veröffentlicht hat. Das Buch hat es, wie auch die anderen Teile der Reihe, in sich. Es strotzt vor Spannung und Brutalität, hat neben bodenständiger Ermittlungsarbeit einige Ausflüge ins Private, wartet mit blutigen Szenen und Episoden voller Liebe und Zuneigung auf. Ein fast rundum gelungenes Buch.
„Schreib eine Liste von allem, was dir Angst macht. Das bin ich.“ – junge Frauen werden gestalkt, unter Drogen gesetzt und vergewaltigt. Eine von ihnen stirbt im Grady in Atlanta, in dessen Notaufnahme Dr. Sara Linton Dienst tut. Drei Jahre später steht die Ärztin als Zeugin vor Gericht, der Angeklagte ist Tommy, der Sohn ihres ehemaligen Kommilitonen und Konkurrenten Mac McAllister. Plötzlich reißen bei Sarah alte Wunden auf und sie fühlt sich in die Zeit vor über 15 Jahren zurückversetzt, als sie selbst von einem Uni-Hausmeister brutal vergewaltigt worden ist. Noch dazu sorgt ein Aufeinandertreffen mit Britt McAllister, einer ebenfalls ehemaligen Kommilitonin und Mutter des Angeklagten dafür, dass Sarah beginnt, ihre Vergewaltigung mit dem aktuelleren Fall in Verbindung zu bringen. Aber gibt es die überhaupt? Ihr Verlobter, der GBI-Agent Will Trent und seine Partnerin Faith Mitchell unterstützen sie nach Kräften bei ihren Nachforschungen und das, was sie herausfinden, ist ungeheuerlich.
Manche Bücher fangen mit einem Paukenschlag an, andere hören mit einem auf. Dieses Buch hier schafft beides UND ist dazwischen rasant spannend mit sehr wenigen Erholungspausen für die Leserschaft. Die Geschichte ist hervorragend konzipiert und ausgearbeitet, die Autorin schont ihr Publikum bei den Beschreibungen wie immer nicht. Sie sind brutal, blutig und die Sprache ist oft vulgär und abstoßend. Wenn man Karin Slaughter kennt, weiß man, worauf man sich einlässt. Der Schreibstil ist fesselnd und der Spannungsbogen sehr hoch. Da ist man als Leser für ein paar Exkurse zu den Hochzeitsvorbereitungen von Will und Sarah (welches Kleid trägt sie und natürlich die Frage: lernt Will vor der Zeremonie tanzen?) dankbar. Und auch bei den Einblicken ins Privatleben von Faith mit ihrer neuen Beziehung zum FBI-Agenten Aiden Van Zandt kann man dann wenigstens mal Luft holen und die abgeknabberten Fingernägel beweinen. Wie immer ist es der Autorin auch gelungen, die psychologischen Komponenten der Geschichte voll auszuschöpfen, wobei sie wie gewohnt, mit dem „Kopfkino“ ihrer Leserschaft spielt.
Ein bedrückend realistisches Buch mit Einblicken in die tiefsten Abgründe der menschlichen Psyche und einem Eindruck davon, was passiert, wenn man den moralischen Kompass völlig verloren hat. Konkurrenzdenken, falsche Loyalität, gefährliche Freundschaften treffen auf echte und aufrichtige Gefühle und das alles gibt dem Buch nicht nur enormen Zündstoff, sondern macht es zu einem absoluten Pageturner.
Eine uneingeschränkte Lese-Empfehlung von mir also, gäbe es da nicht ein „Aber“. Die Übersetzung ist in meinen Augen nicht wirklich gelungen. Als „Mensch vom Fach“ habe ich mir den Spaß gegönnt und mir das englische Original besorgt. Angesichts von mindestens einem Dutzend zum Teil gravierenden handwerklichen Fehlern frage ich mich, wie so etwas passieren kann. Das Buch hätte eine bessere Übersetzung und ein angemessenes Schluss-Lektorat verdient. Ein Beispiel gefällig? „Normalerweise hatten sie zu dieser Nachtstunde alle Hände voll mit Schuss- und Stichwunden, Autounfällen, Überdosen und einem gerüttelt Maß an Herzinfarkten zu tun.“ Und das ist beileibe nicht der einzige grobe Fehler, mehr aufzuführen würde aber hier den Rahmen sprengen.
Das Buch ist der elfte Teil der Reihe, man kann es aber gut allein lesen, aber ehrlich: wieso sollte man? Da das Buch aber sonst überragend gut ist, vergebe ich trotz der mangelhaften Übersetzung fünf Sterne und empfehle allen, die der englischen Sprache mächtig sind, sich lieber das Original zu besorgen.

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Bewertung vom 24.07.2023
Düster ruht die See / Ben Kitto Bd.6
Penrose, Kate

Düster ruht die See / Ben Kitto Bd.6


ausgezeichnet

Die Scilly-Inseln, auf denen Kate Penroses sechster Ben-Kitto-Krimi „Düster ruht die See“ spielt, sind idyllisch und das Leben könnte für Ben (Abkürzung für Benesek) und seine Lebensgefährtin Nina so schön sein. Sie sind glücklich zusammen und demnächst soll ihr gemeinsames Kind zur Welt kommen. Doch dann taucht plötzlich auf einer höchst umstrittenen Baustelle ein Skelett auf und bringt dunkle Unwetterwolken mit sich. Kurze Zeit später wird auch noch einer der größten Gegner der Baumaßnahmen tot aufgefunden. Noch dazu hat ein im Sterben liegender Gangsterboss Ben und allen anderen an seiner Verhaftung Beteiligten Rache geschworen. Und plötzlich ist das Skelett auf einmal nicht mehr Bens einziges Problem.
Aber von vorn.
Oder auch nicht. Denn das Bisschen, was ich da beschrieben habe, ist praktisch eine Essenz des Buchs. Und so unscheinbar es möglicherweise aussehen mag – das Buch hat es in sich! Es wird in zwei parallel verlaufenden Handlungssträngen erzählt, die auf den ersten Blick simpel scheinen, es natürlich aber nicht sind. So erlebt man im einen Erzählstrang aus der Sicht von Ben das, was auf seiner Heimatinsel Bryher geschieht. Dort wollen Maeve und Danny Trenwith ein Zentrum für Outdoor-Aktivitäten errichten, was bei vielen Inselbewohnern für viel Unmut sorgt. Viele glauben, dass die renommierten Architekten sich die Baugenehmigung ergaunert haben und mit ihrem Bauvorhaben sowohl den Frieden auf der Insel als auch die Natur zerstören werden. Das auf den Baustelle gefundene Skelett stoppt die Arbeiten erst einmal, allerdings liegen die Knochen und der Schädel schon seit 20 bis 30 Jahren dort im Boden, was die Identifizierung schwer macht. Und dann sind die Knochen auch noch plötzlich verschwunden.
Parallel dazu erlebt man die Geschichte aus Sicht der Täterin Ruby. „Leg noch heute los, Ruby. Zeig’s den Mistkerlen, die mich eingebuchtet haben. Nichts anderes zählt. Wenn’s Probleme gibt, knöpf dir ihre Familien vor. Hinterlass eine Spur der Verwüstung, damit uns niemand vergisst.“ – mit diesen Worten hat ihr Vater sie auf ihrem Krankenbett aufgefordert, seine Rachepläne zu verwirklichen. Leichen pflastern Rubys Weg und ihr finales Opfer soll Ben sein. Der hatte seinerzeit ihren Vater als Undercover-Ermittler zur Strecke gebracht. Ben kämpft an allen möglichen Fronten: er sucht einen Mörder, muss das gefundene Skelett identifizieren, ist auf der Flucht vor einem unbekannten Serienkiller – und noch dazu steht seine aufs Festland in Sicherheit gebrachte Lebensgefährtin Nina kurz vor der Niederkunft.
Da hat sich Kate Penrose für ihren sechsten Teil der Ben-Kitto-Reihe eine ganze Menge vorgenommen. Und sie hat alle Elemente, wie gewohnt, gekonnt ausgearbeitet und zu einem stimmigen Schluss geführt. Sprachlich ist das Buch äußerst angenehm zu lesen und der Spannungsbogen ist, trotz aller Ruhe und Idylle durch die Landschaftsbeschreibungen, konstant hoch. Die Charaktere sind Freunden der Serie zum Teil schon bekannt, aber auch sie bekommen einen weiteren Feinschliff verpasst, durch den man neue Facetten an ihnen erkennt. Auch die „neuen“ Charaktere sind sehr bildhaft beschrieben, vor allem natürlich Ruby als designierte Gegenspielerin von Ben und seinen Kollegen. Fast könnte man ihre Intentionen ja verstehen – aber nur fast. Die psychologische Komponente an diesem Krimi ist hervorragend ausgearbeitet. Sowohl Rubys pflichtbewusstes und emotionsloses Verhalten wie auch Bens schmerzhafte Erinnerungen an den traumatischen Undercover-Einsatz geben dem Buch eine sehr spezielle Tiefe, die über den bloßen Krimi hinausgeht.
Das Wiedersehen mit Ben Kitto und den anderen liebgewonnenen Charakteren und die Ermittlungen machen den Krimi für mich wieder einmal zu einem ganz besonderen Vergnügen. Vor allem aber die Atmosphäre auf den Scilly-Inseln, die zwischen klaustrophobisch, einsam und idyllisch hin- und herschwankt hat es mir angetan. Von mir natürlich fünf Sterne.

Bewertung vom 19.07.2023
Kalt lächelt die See / Guernsey-Krimi Bd.1 (eBook, ePUB)
Corbet, Ellis

Kalt lächelt die See / Guernsey-Krimi Bd.1 (eBook, ePUB)


ausgezeichnet

Enge Familienbande, schwierige Familienverhältnisse, außereheliche Verhältnisse, vermisste und ermordete Personen – und das alles vor der malerischen Kulisse der Kanalinsel Guernsey, damit wartet „Kalt lächelt die See“ von Ellis Corbet auf. Hinter dem Pseudonym Ellis Corbet verbirgt sich eine erfolgreiche deutsche Autorin, die mit diesem Krimi einen gelungenen Auftakt zu einer neuen Serie vorgelegt hat. Inzwischen ist auch der zweite Teil um Inspector Kate Langlois und ihr Team erschienen.
Aber von vorn.
Beim Angeln bemerkt Rentner Rob vor der Küste der Kanalinsel Guernseys ein ziellos im Wasser treibendes Segelboot. Als ehemaliger Feuerwehrmann schaut er auf der „Aventura“ nach, ob jemand Hilfe braucht und entdeckt nicht nur, dass das Boot verlassen ist, sondern findet auch Blut an der Reling. Inspector Kate Langlois und ihr neuer, frisch aus London eingetroffener, Kollege Tom Walker machen sich an die Ermittlungen. Komplizierter wird der Fall, als klar ist, dass das Boot von Stephanie und Greg Harmon gechartert worden war. Zwei Jahre zuvor war Ava, die kleine Adoptivtochter des Ehepaares, spurlos verschwunden. Vermutlich wurde sie aus ihrem Zimmer entführt, während die Eltern bei den Nachbarn zu Besuch waren. Hat das Verschwinden des Ehepaares etwas mit der Entführung ihrer Tochter zu tun? Hat der Mediziner Dr. Hobbs, ein Tennispartner und ehemaliger Praxiskollege des verschwundenen Mannes etwas mit der Sache zu tun? Die beiden sind zwar im Sport Partner geblieben, die Praxisgemeinschaft wurde aber im Streit aufgelöst. Und was ist mit Emily und David Baynes, dem Ehepaar, bei dem die Harmons zu Besuch waren, als ihre Tochter verschwand? Nach und nach finden sich einige Verdächtige, vor allem, als sich herausstellt, dass die Blutspur im verlassenen Boot nicht mit einem der beiden Harmons übereinstimmt. Und als dann auch noch Emily Baynes vermisst wird, läuft den Ermittlern die Zeit davon.
Kleine Kinder mit dem Babyphone allein zu Hause zu lassen, während man selbst bei den Nachbarn auf einen Drink ist, ist keine gute Idee. Da erinnert der Fall „Ava“ sehr an das Verschwinden von Madeleine McCann, die 2007 in Portugal verschwand. Auch ihr Vater ist Arzt, auch sie verschwand spurlos.
Ellis Corbet hat mit „Kalt lächelt die See“ für mich einen spannenden Krimi geschaffen, der mich von der ersten bis zur letzten Seite in seinen Bann gezogen hat. Sie schafft genau die richtige Ausgewogenheit zwischen Krimi, Ermittlungen und persönlichen Beziehungen und das alles vor der malerischen Kulisse Guernseys. Sprachlich gelungen, wird der Krimi in einem Haupterzählungsstrang und mehreren eher angedeuteten Nebensträngen erzählt, was den Krimi nicht unübersichtlich macht, sondern der Leserschaft tiefere Einblicke gibt und sie den Ermittlern immer einen Schritt voraus sein lässt.
Familie spielt bei Inspector Kate Langlois eine große Rolle, sie ist mit ihrem Großvater und ihrer Mutter eng verbunden. Tom Walker hingegen scheint ein eher „einsamer Wolf“ zu sein. Und auch seine Herangehensweise an die Ermittlungen ist völlig anders als die seiner Kollegin. Da sind Reibereien vorprogrammiert und die Autorin hat detailliert ausgearbeitet, wie der „Großstädter“ nach und nach mit den Gepflogenheiten der Insel vertraut gemacht wird. Überhaupt fand ich die Landschaft und die Charaktere sehr gut und bildhaft dargestellt. Einzig der französische Archäologe Nicolas, der Kate mit seinem Wissen unter die Arme greift, ist noch ein wenig blass. Und ganz nebenbei erfährt man noch einige Besonderheiten über Guernsey, seine Geschichte und man lernt einige Wörter auf Guernésiais, eine Sprache, von der ich nicht einmal wusste, dass sie existiert.
Also. Kriminalfall, Ermittlungen, Landschaft, Charaktere, Zwischenmenschliches – alles vorhanden. Ein paar falsche Fährten steigern die Spannung, die Geschichte ist gut konstruiert, die Leserschaft wird zum Miträtseln animiert und der Schluss ist stimmig. Was bleibt mir da anderes, als fünf Sterne zu vergeben?

Bewertung vom 07.07.2023
Die kranke Frau
Cleghorn, Elinor

Die kranke Frau


gut

„Die Geschichte der Menstruation ist eine Geschichte voller Missverständnisse“ – meine Generation wuchs mit diesem Satz aus der Tampon-Werbung auf. Aber, wie das Buch „Die kranke Frau“ von Elinor Cleghorn zeigt, war nicht nur der weibliche Zyklus, sondern der ganze weibliche Körper lange ein Rätsel für die männerdominierte Medizin. War? Kann man dem Buch mit dem Untertitel „Wie Sexismus, Mythen und Fehldiagnosen die Medizin bis heute beeinflussen“ glauben, ist die Frau in der Medizin immer noch unterrepräsentiert. Das mag in vielen Bereichen stimmen, der Maßstab vieler medizinischer Studien ist auch heute noch ein 75kg schwerer Mann. Aber so schwarz-weiß und frauenfeindlich, wie die Autorin es darstellt, ist das ganze Thema vermutlich auch nicht. Die Empörung, die sie an den Tag legt, war so unverblümt, dass sie die vielen interessanten Fakten und den Lesegenuss für mich störte. Statt eines aufrüttelnden Buchs schuf sie für mich eher ein Ärgernis. Schade.
Aber von vorn.
Lange Zeit war die Medizin ausschließlich männlich. Seit der Antike standen Männer im Mittelpunkt, Frauen waren eher „unbekannte Wesen“. Das änderte sich auch in der Neuzeit nicht. Frauen durften nicht körperlich untersucht werden, selbst ihre Obduktion war lange verboten. Bis ins späte 19. Jahrhundert durften Frauen nicht studieren, somit gab es also keine Ärztinnen, Aberglaube war überall präsent. Krankheiten wurden bei Frauen sehr lange (zum Teil auch heute noch) auf psychische Probleme (Stichwort: Hysterie) oder „wahrscheinlich sind es einfach die Hormone.“ reduziert. Wenigstens glauben moderne Mediziner nicht mehr an die „wandernde“ oder „erstickende“ Gebärmutter oder dass Frauen (vor allem während der Menstruation) andere Menschen verhexen könnten. Da spielte die ausschließlich männliche Medizin der (ebenfalls ausschließlich männlichen) Hexenverfolgung hervorragend in die Hände. Allerdings ist manchen Medizinern bis heute nicht bewusst, dass manche Krankheiten bei Männern und Frauen unterschiedliche Symptome aufweisen. Da haben sicher viele noch einiges zu lernen.
Für mich scheint sich die Autorin manchmal in ihrem Feldzug zu verrennen, einiges von dem, was sie sagt, ist nicht ganz korrekt. Weder ihre Aussagen zum Hippokratischen Eid noch die zu Gicht („Gicht ist eine dieser altmodischen Krankheiten, die durch zu viel Käse und Alkohol entstehen“) stimmen und auch in anderen Bereichen scheint ihr der Effekt wichtiger zu sein als die faktische Belegbarkeit. Ihre Schreibe ist emotional, das Buch flüssig zu lesen. Sie kämpft für die Sichtbarkeit der Frauen in der Medizin und das ehrt sie. Ihre eigene Betroffenheit und die Arzt-Odyssee, die sie auf dem Weg zu ihrer Lupus-Diagnose (Lupus erythematodes ist eine seltene Autoimmunkrankheit) durchmachen musste, spiegelt sich aber in jedem Abschnitt des Buchs, das dadurch für mich nichts Halbes und nichts Ganzes wurde. Es ist kein medizinhistorisches Werk, keine Autobiografie und kein Fachbuch. Es ist eine Mischung aus allem und verliert durch die fehlende Konstanz für mich eine Menge Kraft, die im Thema gesteckt hätte.
Ja, das Buch macht die Leserschaft stellenweise fassungslos und vielleicht hat man beim nächsten Arztbesuch (vor allem als Frau) ein unguteres Gefühl als sonst, aus Angst, man könnte eventuell nicht ernstgenommen werden. Und vor allem heute kämpfen viele mit LongCovid-Symptomatik gegen die sprichwörtlichen Windmühlen, allerdings sowohl weiblich als auch männlich gelesene Menschen. Aber das „nicht Ernstgenommen werden“ – und das weiß ich aus erster Hand – trifft nicht nur Frauen. Es trifft ebenso Homosexuelle, trans Menschen, Menschen südländischer Herkunft (Stichwort: Morbus mediterraneus) und alles in allem liegt es nicht an DER Medizin (dem „medizinischen Establishment“) oder an DEN männlichen Ärzten, sondern am jeweiligen Charakter. Da ist in der medizinischen Ausbildung noch einiges zu tun, das Buch hätte ein guter Wegweiser sein können, ist es für mich aber nicht geworden. Von mir drei Sterne.

Bewertung vom 29.06.2023
Der Teufelshof / Akte Nordsee Bd.2
Almstädt, Eva

Der Teufelshof / Akte Nordsee Bd.2


sehr gut

Bodenständiger Krimi mit (für mich) überraschendem Ende – so kann ich „Akte Nordsee - Der Teufelshof“, den neuen Fentje-Jacobsen-Krimi aus der Feder von Eva Almstädt knapp und auf den Punkt beschreiben. Aber natürlich gibt es zu dem Buch noch mehr zu sagen. Fakt ist aber: der zweite Teil der Reihe um die junge Anwältin ist ein ruhiger, überwiegend unblutiger Krimi mit sympathischen Charakteren und einer gut ausgearbeiteten Geschichte und einem Schluss, der mich etwas zwiegespalten zurücklässt.
Aber von vorn.
Henning Fehnsen, ein Nachbar und alter Freund von Anwältin Fentje Jacobsen feiert seine Hochzeit mit Anna mit einem großen Fest. Am nächsten Morgen findet eine Nachbarin Hennings Eltern erschossen in ihrem Haus, Henning selbst ist schwer verletzt. Anna wird nach langer Suche völlig verstört in der Scheune gefunden, sie ist von Anfang an die Hauptverdächtige für die Polizei und für viele, die die Familie kennen. Viele glauben, die junge Frau, die aus Lettland für ein landwirtschaftliches Praktikum nach Deutschland gekommen ist, nur auf der Suche nach einem deutschen Mann war. Und jetzt ist sie auch noch schwanger!
Fentje beschließt, Anna anwaltlich zu vertreten und beginnt, eigene Nachforschungen anzustellen. Dabei trifft sie auf einen alten Bekannten: der Journalist Niklas John ist ebenfalls an dem Fall dran, wenn auch aus anderen Gründen. Er und Anna waren früher einmal ein Paar. Und da ist dann auch noch Annas Ex-Mann Thomas Mayer, der einen eher zweifelhaften Ruf genießt. Aber wäre er zu einem Doppelmord fähig? Als dann ein Brandanschlag auf die Wohnung von Niklas verübt und Fentje überfallen wird, beginnen die Dinge, sich zu überschlagen.
Wenn man ruhige und gut konstruierte Krimis in angenehmer Sprache sucht, ist man bei Eva Almstädt immer an der richtigen Adresse. Schon mit ihrer Pia Korittki-Serie konnte die Autorin punkten und die detektivisch veranlagte, engagierte Anwältin Fentje Jacobsen als zentrale Figur in ihrer neuen Reihe ist ebenso ein Garant für spannende Unterhaltung mit der Aufforderung zum Miträtseln. Zusammen mit ihrem Gegenpart/Mitstreiter, dem Journalisten Niklas John, bildet sie ein interessantes Duo.
Das Buch ist der zweite Teil einer Serie, kann natürlich auch allein gelesen und verstanden werden, aber die Lektüre des ersten Bandes („Akte Nordsee – Am dunklen Wasser“) kann ich nur empfehlen. Einige Elemente aus dem ersten Teil werden „weitergesponnen“, so beispielsweise Fentjes Leben auf dem Hof ihrer Familie samt ihrer Nichte Sofia und ihrer Großmutter Gretje, einem echten norddeutschen Original. Eines der größten Probleme von Oma Gretje ist auf jeden Fall nicht ihre eigene zunehmende Tüddeligkeit, sondern die Tatsache, dass Fentje nach wie vor nicht verheiratet ist.
Die gut und facettenreich ausgearbeiteten Charaktere sind neben den verschiedenen Erzählperspektiven und der stellenweise beklemmenden Atmosphäre ein tragendes Element des Krimis. Allerdings kommt der stellenweise so ruhig daher, dass er ein paar Längen hat. Alles in allem ist er allerdings spannend und sehr gut konzipiert, wenn auch der Schluss für mich zwar stimmig ist, aber etwas überstürzt und überraschend kam. So überraschend, dass er für mich nicht hundertprozentig zum Rest des Buchs passt. Schade fand ich auch, dass die Geschichte hinter dem Titel „Teufelshof“ zwar sehr kurz erzählt wird, aber nicht wirklich etwas mit der Krimi-Handlung zu tun hat. Allerdings fand ich das Buch alles in allem besser als den ersten Teil der Reihe, die Entwicklung der Charaktere ist deutlich zu erkennen und ich freue mich jetzt schon auf den nächsten Band. Einziger Kritikpunkt für mich bleibt also der überstürzte Schluss und daher vergebe ich vier Punkte.

Bewertung vom 29.06.2023
Der dreizehnte Mann / Eberhardt & Jarmer ermitteln Bd.2
Schwiecker, Florian;Tsokos, Michael

Der dreizehnte Mann / Eberhardt & Jarmer ermitteln Bd.2


weniger gut

Zugegeben, das Granther-Experiment (oder das Kentler-Experiment, wie es tatsächlich hieß), sagte mich vor der Lektüre von „Der dreizehnte Mann“ von Florian Schwiecker und Michael Tskokos nichts. Daher hat mich das Buch und die Geschichte dahinter sehr interessiert. Und, wie leider schon öfter bei Büchern von Michael Tsokos, blieb ich zwiegespalten zurück. Und wieder einmal stellt sich für mich die Frage: Wie kann man ein Thema, das so viel Potential bietet, so unbefriedigend und unspannend abhandeln? Was für eine Enttäuschung.
Aber von vorn.
Bis in die 2000er Jahre wurden von Jugendämtern Kinder und Jugendliche als Pflegekinder an pädophile Pflegeväter vermittelt. Timo Krampe und Jörg Grünwald waren zwei von ihnen und möchten durch ein Zeitungsinterview an die Öffentlichkeit gehen und einen riesigen Skandal aufdecken. Doch kurz vor dem Interview verschwindet Jörg. Wenig später landet auf dem Obduktionstisch von Gerichtsmediziner Dr. Justus Jarmer eine unbekannte Wasserleiche. Wem ist daran gelegen, den Skandal weiterhin unter Verschluss zu halten? Zusammen mit dem Strafrechtsanwalt Rocco Eberhardt versucht Dr. Jarmer, den Dingen auf den Grund zu gehen.
„Der dreizehnte Mann“ ist nach „Die 7. Zeugin“ der zweite Teil um das Duo Jarmer/Eberhardt. Ich habe den ersten Teil nicht gelesen, hatte aber beim vorliegenden Buch keine Verständnisprobleme. Meine Probleme mit dem Buch liegen ganz wo anders. Die Geschichte, die dem Buch zugrunde liegt, ist ebenso spannend wie unfassbar. Ein Jugendamt vermittelt Pflegekinder an Männer, deren pädophile Neigungen bekannt sind – und hält es für eine gute Idee! Was für einen Krimi hätte man daraus machen können! Aber das Autorenduo setzte es für mich völlig unbefriedigend um, denn mir fehlte fast gänzlich die Spannung. Die Geschichte wird so gemächlich und oberflächlich erzählt, dass die Lektüre für mich kein Vergnügen war und ich oft mit dem Gedanken gespielt habe, sie einfach abzubrechen.
Der Schreibstil ist gut und an sich lässt sich das Buch leicht und flüssig lesen, die Sprache ist nüchtern und prägnant, dazu sind die Kapitel aus unterschiedlichen Perspektiven, ebenfalls eher kurzgehalten. So wirkte das Buch auf mich stellenweise fast ein wenig gehetzt und ein richtiger Lesefluss wollte sich nicht einstellen. Die Charaktere sind etwas zweidimensional und für mich zu stereotyp ausgearbeitet. Eigentlich bin ich ein großer Freund von True Crime und finde es immer gut, wenn Menschen „vom Fach“ (Michael Tsokos ist Rechtsmediziner, Florian Schwiecker hat als Strafverteidiger gearbeitet) Bücher schreiben. Ich bin auf den Gebiet Recht und Rechtsmedizin kein völliger Laie, aber selbst mich hat die fachliche Nüchternheit und die Faktenlastigkeit ein wenig erschlagen und mir die Spannung und das Lesevergnügen genommen.
Ein bisschen versöhnt hat mich der für mich überraschende Schluss. Gegen Ende hatte ich das Gefühl, das Autorenduo hat sich „warmgelaufen“, aber in dem Moment, als die Geschichte für mich eine rundere Sache wurde, war sie auch schon zu Ende. Mein Fazit ist also: zu wenig Spannung, zu oberflächlich, Potential zu wenig ausgeschöpft. Daher von mir keine Lese-Empfehlung und zwei Sterne.

Bewertung vom 09.06.2023
»Ich kämpfe für eine bessere Polizei« - #Better Police
Dobrowolski, Oliver von

»Ich kämpfe für eine bessere Polizei« - #Better Police


ausgezeichnet

Oliver von Dobrowolskis Buch „Ich kämpfe für eine bessere Polizei“ ist ein Buch, das mich gleichermaßen nachhaltig beeindruckt wie verstört hat. Der langjährige Polizeibeamte schreibt über Dinge, die bei der Polizei schieflaufen. Das, was in den Medien und von den Verantwortlichen so gern als „bedauerliche Einzelfälle“ bezeichnet wird, ist in Wahrheit oft eher die Regel als die Ausnahme und ein erschreckender Trend in eine gefährliche Richtung.
Ebenso wie der Autor (wir sind etwa gleichaltrig) bin noch in einer Zeit aufgewachsen, als Polizisten und Richter als integre Respektspersonen angesehen wurden. Sicher stand dies nicht allen zu, dennoch waren vermutlich noch die meisten „rechtschaffen“. Heute sind viel zu viele mehr rechts als schaffend und S*xismus, s*xuelle Belästigung und Machtmissbrauch sind viel zu häufig. Das Bild, das Oliver von Dobrowolski von seinen Kollegen zeichnet, ist sehr durchwachsen. Natürlich arbeiten dort immer noch überwiegend kompetente Menschen, die für die innere Sicherheit des Landes einstehen und auch sie machen einen Teil des Buchs aus.
Aber es gibt eben zum Glück nicht nur sie.
Offen, kompetent und menschlich beschreibt der Autor den Polizeidienst und man merkt beim Lesen, wie sehr er seinen Beruf liebt. Sein Plädoyer für eine bessere Polizei (#betterpolice) ist deshalb sehr leidenschaftlich und fesselnd, wenn er über seine Sorge über die Entwicklungen innerhalb der Polizei, rechtsextreme Chatgruppen, Rassismus, Gewalt und Diskriminierungen schreibt. Ein mutiges Buch, das zwar sprachlich gut und leicht zu lesen ist, inhaltlich aber schwer zu verdauen. Seine Lösungsansätze sind für den Laien nachvollziehbar, aber vermutlich innerhalb der Strukturen nicht leicht zu implementieren. Er wurde aus den eigenen Reihen als Nestbeschmutzer und „Kollegenschwein“ beschimpft und hat sich mit seinen Aussagen (auch in den sozialen Medien) bei vielen sehr unbeliebt gemacht.
Für mich war das Buch ein Lichtblick und gibt mir Hoffnung, dass sich irgendwann einmal wieder etwas zum Guten ändern wird und die vielbesungenen „Einzelfällle“ wieder eben das sein werden. Von mir fünf Sterne.

Bewertung vom 09.06.2023
Ostseenebel / Pia Korittki Bd.18 (eBook, ePUB)
Almstädt, Eva

Ostseenebel / Pia Korittki Bd.18 (eBook, ePUB)


gut

Urlaub mit Leiche – das ist es, was eine junge Frau in Eva Almstädts mittlerweile 18. Pia-Korittki-Krimi erleben muss. „Ostseenebel“ ist ein solider Krimi mit vielen falschen Fährten, ausgiebiger Ermittlungsarbeit und einer gewissen Prise Lokalkolorit und Privatleben. Also alles in allem bodenständig und unterhaltsam. Leider aber auch nicht mehr, weshalb mich das Buch eher zwiegespalten und etwas unbefriedigt zurücklässt.
Aber von vorn.
Alva Dohrmann möchte doch einfach nur Urlaub in Stüvensee, einem eher beschaulichen Ort an der Ostsee machen. Dazu hat sie im Internet ein Haus gemietet, dessen Eigentümerin, die Anwältin Linn Aubach sich selbst für einige Zeit selbst in Urlaub befindet. Doch schon nach ihrer ersten Nacht findet Alva im Garten neben dem Teich einen Toten. Und es ist nicht irgendein Toter, sondern der eher unbeliebte Ortsbürgermeister Burkhard Schönfeld, der da mit eingeschlagenem Schädel unter einer Schicht aus Seerosenblättern liegt. Die Ermittlungsarbeiten führen Kriminalhauptkommissarin Pia Korittki von der Kriminalpolizei Lübeck und ihre Kollegen in alle möglichen Richtungen. Der Tote hatte jede Menge Feinde, dazu haben einige der Ortsbewohner eher dürftige Alibis, allen voran die Nichte und Alleinerbin des Toten. Aber auch die Ärztin, ihr Ehemann und einige andere im Dorf machen sich nach und nach verdächtig. Und dann verschwindet plötzlich Alva Dohrmann spurlos und in den Dünen wird eine weibliche Leiche gefunden und die Polizei tappt nach wie vor im Dunkeln.
Ein toter Unsympath, reichlich Verdächtige, Liebeleien und Landschaft – eigentlich hat Eva Almstädts Buch alles, was ein Krimi braucht. Spannungsbogen ist ebenfalls vorhanden, wenn auch nicht fingernagel-abknabber hoch. Was mich genau an dem Krimi stört, kann ich auch gar nicht hundertprozentig sagen. Er las sich für mich nicht so flüssig, wie ich es von der Autorin gewohnt bin, sondern ein bisschen hölzern und sperrig. Die Hauptcharaktere sind ziemlich gut ausgearbeitet, man merkt, dass die Autorin sie über 18 Teile der Reihe entwickelt hat. Dagegen können die Nebencharaktere auf ihrer Stippvisite im Alltag von Pia und Co. nicht punkten. Sie sind eher zweidimensional und fallen nur durch schlechte Lügen und eigenartiges Verhalten auf und ihre Hauptaufgabe scheint das Legen falscher Fährten für die Leserschaft. Das Privatleben von Pia Korittki und ihrem Sohn Felix ist eine nette Konstante, die sich durch alle Teile der Serie zieht und es ist nett, sie weiterzuverfolgen, im vorliegenden Band ist es aber mehr Beiwerk, da Felix auf Klassenfahrt ist.
Die Krimi-Handlung ist, wie gesagt, solide erzählt und stellenweise, vor allem gegen Ende, spannend. Allerdings finde ich die Konstruktion für die Autorin ungewohnt dürftig, die Auflösung ist zwar stimmig, kommt aber etwas plötzlich und für mich so überraschend, dass ich insgesamt mit der Auflösung nicht ganz warm werden kann. Für mich hatte das Buch sehr viel Potential und die Autorin hat bei weitem nicht alles ausgeschöpft.
Zwar ist das Buch keine komplette Enttäuschung, kommt aber über ein „nett“ und „unterhaltsam“ nicht hinaus. Für mich eher etwas für nebenher, vielleicht als Urlaubslektüre im Strandkorb an der Ostsee.
Daher von mir drei Sterne.

Bewertung vom 30.05.2023
Rot. Blut. Tot.
Nordby, Anne

Rot. Blut. Tot.


ausgezeichnet

Der intensive Blick des Wolfs an der Hallenwand auf dem Copenhell-Gelände in Kopenhagen ist an sich schon eindrucksvoll. Mit einer darunter liegenden Leiche beginnt der neue Thriller von Anne Nørdby. "Rot. Blut. Tot" ist nach „Eis. Kalt. Tot“ der zweite Band um das dänische Ermittlerduo Jesper Bæk und Kirsten Vinther und zu meiner Freude ist auch die Super Recognizerin Marit Rauch Iversen wieder mit an Bord. Herausgekommen ist ein enorm spannendes, bedrückendes, vielschichtiges Buch, das die Leserschaft nicht nur mit nach Kopenhagen und die Insel Møn nimmt, sondern auch auf eine Reise in die mystische Welt der Asengläubigen.
Aber von vorn.
Ein Toter wird unter dem Copenhell-Wolf auf der Halbinsel Refshaleøen gefunden. Die Leiche ist grausam zugerichtet und der Mord wirft Fragen auf, denn der Tote war unheilbar an Krebs erkrankt und hätte ohnehin nur noch kurze Zeit zu leben gehabt. Noch bevor Jesper Bæk und seine Kollegen auch nur annähernd eine Idee haben, wer hinter der Tat stecken könnte, wird auf der Insel Møn eine weitere Leiche gefunden. Der Modus Operandi ist zu ähnlich, als dass es keinen Zusammenhang geben könnte. Für die Bewohner der Insel ist schnell klar, dass es sich beim Täter um Hans Erik Rask, einen intelligenzgeminderten Mann handeln muss. Schließlich saß er wegen des Mordes an einem kleinen Mädchen 31 Jahre im Gefängnis gesessen. Da er inzwischen entlassen wurde, ist für alle klar: der Wolf von Møn ist zurück. Die Ermittler stoßen bei ihrer Arbeit in dem durch unterschiedliche religiöse Ansichten tief gespaltenen Dorf abwechseln auf Ablehnung und Unterstützung. Die Polizei versucht, bei ihrer Fahndung nach Hans Erik Rask dem wütenden Mob zuvorzukommen, der den Mann am liebsten lynchen würde. Aber nach und nach tauchen immer mehr Ungereimtheiten auf, und was hat alles mit der ehemaligen Tierversuchsanstalt auf der Nachbarinsel zu tun?
Ich kenne Anne Nørdby von der Tom-Skagen-Reihe und habe auch „Eis. Kalt. Tot“, den Vorgängerband zu diesem Buch gelesen. Aber mit „Rot. Blut. Tot“ toppt die Autorin alles, was ich bislang von ihr kenne. Die Verflechtung der mystischen Aspekte (sie zitiert die Edda, Wölfe spielen eine zentrale Rolle und das Publikum erfährt einiges über den Asatro, eine Glaubensgemeinschaft, die an die Asen, also die nordischen Götter glaubt), Krimigeschehen und aktueller dänischer Politik ist hervorragend gelungen und gibt dem Buch einen sehr speziellen Touch. Die Insel Lindolm samt der inzwischen aufgegebenen Tierversuchsanstalt ist ebenso real wie die Idee der FD (Dansk Folkeparti), dort straffällig gewordene Asylbewerber:innen unterbringen zu wollen und auch das Ghettogesetz gibt es seit 2021. Dazu ist der Spannungsbogen fast konstant sehr hoch und auch sprachlich ist das Buch sehr ansprechend geschrieben. Die Geschichte wird in verschiedenen Erzählsträngen erzählt, aus der Sicht der Ermittler, aus der Sicht des Wolfs von Møn, dessen Gedankengänge ab und zu auch Licht in die Geschehnisse der Vergangenheit bringen. Die Charaktere sind gut ausgearbeitet, wer den ersten Band der Reihe kennt, kann eine deutliche Entwicklung feststellen. Die Balance zwischen Ermittlungsarbeit und Privatleben der Ermittler ist ausgewogen, wenn auch die Probleme von Jespers Tochter Josefine mit se*ualisierter Gewalt in der Polizeischule etwas zu oberflächlich angerissen werden. Der Schluss war für mich eine Überraschung – alles in allem macht das Buch einfach Lust auf mehr.
Als Dänemark-Fan mit dem Copenhell-Wolf als Aufnäher auf der Hose bin ich natürlich nicht ganz unparteiisch, was das Buch angeht. Dennoch gebe ich eine klare Lese-Empfehlung für alle Freunde des Scandi-Noir, von Kopenhagen, der Insel Møn, für alle, die sich für die alten nordischen Religionen interessieren und überhaupt alle, die spannende und gut geschriebene Thriller mögen. Von mir natürlich fünf Sterne.

Bewertung vom 30.05.2023
Josses Tal
Rehse, Angelika

Josses Tal


ausgezeichnet

„Josses Tal“ ist der Debütroman der Autorin Angelika Rehse, den sie mit 74 Jahren veröffentlicht hat. Es ist eine bedrückende Geschichte über (Familien)Ehre und toxische Freundschaften zwischen 1930 und 1943, über Mitläufertum, falsche Vorbilder, politische Puppenspieler, Schuld und Reue. Es handelt von der Geschichte von Josef Tomulka, genannt Josse, der 1925 als uneheliches Kind geboren wurde, was vor allem aus Sicht seines Großvaters eine Schande für die Familie war. In dem Entwicklungsroman, bei dem die Entwicklung in eine gefährliche Richtung geht, erzählt der in der norwegischen Einöde lebende Protagonist seine Geschichte in Rückblenden und nimmt die Leserschaft mit in seien Kindheit und Jugend im damaligen Schlesien. Ein gut erzähltes, ansprechend geschriebenes und nachdenklich machendes Buch.
Aber von vorn.
„Also die Leinwand, auf der mein Leben gemalt ist, war von vornherein nicht weiß. Sie war vergilbt und rissig und wurde im Laufe der Zeit mit hässlichen Brauntönen bemalt.“ So beginnt Josse seine Lebensgeschichte. Seine Kindheit ist geprägt von den Schlägen des Großvaters, der Unterwürfigkeit der Großmutter und der Verzweiflung der Mutter. Er ist ein uneheliches Kind, die Mutter hat die Identität seines Vaters nie preisgegeben. Dafür, dass die Mutter ein „rumgewischtes Frauenzimmer“ ist, lässt der Großvater den Jungen leiden. Für einen Neuanfang zieht die Familie um und schon am ersten Tag trifft Josse auf Wilhelm, den Sohn der neuen Nachbarn. Der junge Medizinstudent beschützt ihn vor den Schlägen des Großvaters und wird fortan ein Idol für den kleinen Jungen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als dem Vorbild zu gefallen und irgendwann auch eine braune SA-Uniform zu tragen. Lange lässt sich Josse von dem Älteren leiten, der ihn ein „Prachtkind“ nennt und fortwährend lobt und nach und nach wächst er in die nationalsozialistischen Strukturen hinein. Dienste bei den Pimpfen und der HJ begeistern ihn, endlich findet er etwas, bei dem er glänzen kann und ein Gefühl der Dazugehörigkeit erlebt. Ohne nachzudenken, bespitzelt er Nachbarn und Bekannte. Seine Mutter stirbt an Diphtherie, Bücher werden verbrannt, jüdische Mitbürger werden deportiert, der Krieg bricht aus – und mittendrin ist Josse, dem die Mutter auf dem Totenbett ein Geheimnis anvertraut hat, das ihn in riesige innere Konflikte bringt und ihm die Augen öffnet, als es schon fast zu spät ist.
Was für ein Buch! Angelika Rehse hat einen Entwicklungsroman geschrieben, der das Heranwachsen eines jungen Menschen zur Zeit der Nationalsozialisten beschreibt. Es war die Zeit, in der meine Großeltern aufgewachsen sind, die Zeit, in der Rattenfänger wie Wilhelm beeinflussbaren Kinder und junge Menschen mit ihrem Gedankengut indoktrinierten und sie alles in allem so manipulierten, bis ihr moralischer Kompass nicht mehr verlässlich funktionierte. Gar nicht so weit weg von dem, was wir momentan wieder erleben, umso wichtiger sind solche Bücher, um die Anfänge zu erkennen und dagegen anzugehen. Damals wie heute „ernähren“ sich die radikalen Strömungen (nicht nur in der Politik, sondern auch in der Religion) von unsicheren, unzufriedenen und „abgehängten“ Menschen, die Bestätigung und Anerkennung suchen.
Trotz der angenehmen und leichten Sprache ist das Buch keine leichte Kost. Die Atmosphäre ist fast durchgehend bedrückend und gewaltbeladen, Josses Unsicherheit und seine inneren Konflikte sind spürbar. Wieso er Wilhelm so verehrte, ist nachvollziehbar – er suchte eine Vaterfigur, einen Freund und ein männliches Vorbild, so etwas hatte vorher in seinem Leben gefehlt. Angelika Rehse hat damit ein fulminantes Debut vorgelegt, das Lust auf mehr macht und einen zum Nachdenken bringt. Ein beeindruckendes Wert, von mir fünf Sterne dafür.