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Renas Wortwelt

Bewertungen

Insgesamt 153 Bewertungen
Bewertung vom 17.06.2024
Das Haus der Lügen / Kajsa Coren Bd.7
Teige, Trude

Das Haus der Lügen / Kajsa Coren Bd.7


sehr gut

Die norwegische Autorin, die ich bisher nur aus ihren eher psychologischen Romanen über Ereignisse im zweiten Weltkrieg kenne, legt mit diesem Buch einen weiteren Krimi mit der Journalistin Kajsa Coren im Mittelpunkt vor. Die Vorgängerbände kenne ich daher nicht, das braucht es auch nicht zum Verständnis dieses in sich abgeschlossenen Kriminalromans.
Es ist ein konventionell gestrickter Krimi, der sich insbesondere mit mehreren Fällen von Vergewaltigung beschäftigt. Kajsa frühere Freundin Anki wurde nachts in ihrem eigenen Haus überfallen und ist seither traumatisiert. Dabei war sie bereits vorher durch verschiedene Ereignisse in ihrer Vergangenheit, die nach und nach zutage treten, psychisch und physisch sehr stark beeinträchtigt.
Kajsa beginnt auf Ankis Wunsch, einen Dokumentarfilm über diese zu drehen und fängt dadurch immer mehr an, an deren bisherigen Erzählungen über ihre Familie und ihr Leben zu zweifeln.
Kajsas Lebensgefährte Karsten ist zufälligerweise in diesen Fällen der leitende Ermittler. Zu seinem Team gehören noch Beth Ross und Tom Lohne, deren Privatleben nur nebenbei erwähnt wird und so nicht das eigentliche Thema des Romans überdeckt, was mir wiederum ganz gut gefiel. Doch das ändert sich gewissermaßen, als auch Toms Freundin nachts überfallen und vergewaltigt wird. Dazu kommen noch zwei Vermisstenfälle, die plötzlich wieder akut werden, als man in einer Gegend eine bereits skelettierte Leiche findet.
Dass diese Fälle irgendwie zusammenhängen könnten, beschäftigt dann die Ermittler und auch Kajsa bei ihren Recherchen. Zwischen die Szenen aus Sicht von Kajsa oder Karsten oder auch Beth sind leider wieder einmal einzelne Gedankenszenen aus Sicht des Täters eingefügt. Wie immer hätte ich auf diese gerne verzichtet, lassen sie doch leider arg früh Rückschlüsse zu und bremsen so ein wenig die Spannung. Daher sollte man diese Abschnitte eventuell nur überfliegen.
Der Roman liest sich flott, der Handlungsaufbau ist konventionell mit dem üblichen Spannungshöhepunkt gegen Ende, der allerdings eher ein wenig flach ausfällt, da sich hier alles etwas arg schnell und geschmeidig aufklärt. Die Figuren sind einigermaßen ausgefeilt, mit dem nötigen Hintergrund und ihre Emotionen kommen gut rüber, vor allem Anki ist präzise geschildert. Dass sie dennoch eher auf Distanz bleiben, liegt wohl eher am Genre generell und auch am grundsätzlich etwas distanzierten Schreibstil von Trude Teige.
Trude Teige - Das Haus der Lügen
aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Andreas Brunstermann
aufbau Taschenbuch, Mai 2024
Taschenbuch, 284 Seiten, 12,00 €

Bewertung vom 12.06.2024
Der Sommer zu Hause
Patchett, Ann

Der Sommer zu Hause


ausgezeichnet

Er ist nicht spannend, er zeigt keine Action, keine Dramatik, es gibt keine romantische Liebe und kein Happy End. Aber trotzdem oder vielleicht gerade deswegen ist dieser Roman etwas ganz Besonderes, etwas ganz besonders Schönes.
Ann Patchett erzählt behutsam, mit Humor und Melancholie, mit Einfühlsamkeit und Präzision von einem Sommer auf dem Land, auf einer Kirschplantage in Michigan, während der Pandemie. Und sie erzählt von einer toxischen Beziehung, von Schauspielern. Von Freundschaft und Familienglück, von Ehrlichkeit und von Träumen, von solchen, die wahr werden und anderen, die verborgen bleiben.
Im Sommer der Pandemie kommen die drei Töchter von Lara nach Hause auf die Kirschfarm der Eltern. Abgeschieden von anderen Menschen und ohne die sonst üblichen Hilfskräfte muss die Familie nahezu allein die Kirschernte bewältigen. Unterbrochen wird die viele und harte Arbeit durch Laras Erzählung ihres Lebens. Die Töchter, Emily, die Älteste, die einmal den Hof übernehmen wird, Maisie, die Mittlere, angehende Tierärztin, und Nell, das Nesthäkchen, das davon träumt, Schauspielerin zu werden. So, wie ihre Mutter das einmal war.
Davon also, angefeuert durch immer mehr Fragen der Töchter, berichtet Lara. Nüchtern, ehrlich, und ohne ihr Leben als junges Mädchen und junge Frau zu beschönigen. Dabei dreht sich vor allem alles um ihre Bekanntschaft, ihre damalige Beziehung zum Filmstar Peter Duke, von dem sich Emily als pubertierender Teenager wünschte, er wäre ihr Vater.
Lara, die als Schülerin die Emily in „Unsere kleine Stadt“ in ihrer kleinen Stadt spielt, kommt auf diese Weise zur Schauspielerei, dreht sogar einen Film in Kalifornien und wird dann nach Tom Lake eingeladen, einem winzigen Städtchen mit Sommertheater. In diesem einen Sommer begegnet sie Duke zum ersten Mal, es geschieht so viel und gleichzeitig eigentlich so wenig in dieser kleinen, überschaubaren Welt und dieser begrenzten Zeit.
Dabei stehen neben Lara, aus deren Sicht der gesamte Roman in Ich-Form geschrieben ist, vor allem eben Peter Duke, sein Bruder Sebastian und Pallas, eine Tänzerin und Schauspielerin in der Truppe, im Mittelpunkt.
Geschickt verwebt Ann Patchett dabei die aktuelle Romanhandlung, während der die vier Frauen unentwegt Kirschen ernten, mit der Erzählung Laras. Immer wieder stellen die drei Mädchen ihrer Mutter kritische Fragen, drängen sie dazu, mehr zu erzählen, als sie je getan hat. Dazwischen spielt auch immer ihr Vater Joe eine große Rolle, der Laras Geschichte schon damals ab einem gewissen Zeitpunkt miterlebte und daher vieles weiß.
Der gesamte Roman ist einfach nur schön, es fällt schwer, auszudrücken, wie er wirkt, man muss ihn einfach lesen. Die Familie, so sehr es nach kitschiger heiler Welt klingt, weil sie so harmonisch sind, so sehr wirkt es dennoch authentisch.
Es ist kein Pageturner, sondern eine warmherzige, mit zartem, leisem Humor und sehr viel Empathie erzählter Roman, in leichtfüßiger, unprätentiöser Sprache. Er erzählt von herrlich normalen Menschen – wenn man von Peter Duke einmal absieht, dafür aber ist er ein typisches Schauspieler-Abbild. Von einer Familie voller Liebe und Verständnis. Und so langweilig das klingt, so wenig langweilig ist das Buch.
Ann Patchett ist eine so präzise Beobachterin, winzige Gesten, Blicke, Manierismen, sie schildert das so, dass man es vor sich sieht. Und ganz nebenbei lernt man einiges über das Schauspielerleben, das Filmgeschäft und das Kirschenernten.
Uneingeschränkte Leseempfehlung für diesen Diamanten unter den Büchern. Man muss ihn lesen und genießen, langsam, Wort für Wort, Satz für Satz. Und seine Freunde daran haben. So wie schon „Das Holländerhaus“ von Ann Patchett, so ist auch dieser Roman eine große Lesefreude.
Ann Patchett - Der Sommer zu Hause
aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer
Berlin Verlag, Mai 2024
Gebundene Ausgabe, 399 Seiten, 26,00 €

Bewertung vom 10.06.2024
Das Baumhaus
Buck, Vera

Das Baumhaus


sehr gut

Der Roman um nicht nur ein verschwundenes Kind in den schwedischen Wäldern hat durchaus ein hohes Spannungspotential, das allerdings wenig subtil, dafür umso mehr mühsam konstruiert wirkt. Dazu gibt es zu viele Erzählebenen und -stränge, die verwirren und ablenken.
Die Ehe von Henrik und Nora ist nicht mehr die allerbeste, als sie beschließen, nach Nordschweden zu reisen, in das von Hendriks Familie ererbte Holzhaus, mitten im Wald. Ihr fünfjähriger Sohn Fynn genießt die Zeit mit beiden Eltern, ist doch vor allem Nora sonst stark in ihren Beruf eingebunden. Henrik ist Schriftsteller und, was ihm nicht nur Nora immer wieder zum Vorwurf macht, mit einer großen Fantasie begabt.
Diese führt dazu, dass Nora ihm nicht immer alles glaubt, was er erzählt. So erging es ihm schon als Kind, als sein Vater ihm nie glaubte, Henrik daher besonders an seinem Großvater hing. In der Erinnerung, die immer wieder aufblitzt, hatte Henrik ein sehr schlechtes Verhältnis zu seinen Eltern.
Schon bei der Ankunft im Haus scheint es so, als habe es etwas zu verbergen. Als wäre jemand darin gewesen, als gäbe es Geheimnisse. Als Fynn schließlich verschwindet und Henrik von einem Baumhaus erzählt, dass er im Wald entdeckt haben will, glaubt ihm Nora nicht. Stattdessen macht sie ihn für Fynns Verschwinden verantwortlich, war er doch mit ihm zusammen gewesen, während sie einkaufen war.
Diese Geschehnisse werden abwechselnd aus den Perspektiven von Nora und Henrik erzählt. So erfahren wir auch, dass Nora von einem Stalker bedroht wird, den sie nun der Entführung Fynns beschuldigt.
Ein weitere Erzählperspektive ist Rosa. Sie ist forensische Forscherin, untersucht die Auswirkung von toten Lebewesen auf das Wachstum von Bäumen. Bei ihren Untersuchungen im Wald findet sie das Skelett eines Kindes und wird dann aufgrund ihrer Kenntnisse von der Polizei um Mithilfe gebeten bei der Suche nach Fynn. Rosa ist gegen ihren Willen nach Hause gekommen, um ihren Bruder, der seit einem Unfall gelähmt ist, zu pflegen, zusammen mit ihrem Vater. Dieser hält gar nichts von ihrem Beruf und so kämpft sie nicht nur mit ihren eigenen Dämonen, sondern auch gegen die Missachtung und die Erinnerungen an ihre von Qualen und Demütigungen geprägte Kindheit.
Und schließlich gibt es eine weitere Perspektive. Das ist Marla, von der man am Anfang nicht weiß, wer sie ist, wann ihre Geschichte sich zuträgt und wie das mit den anderen Geschehnissen zusammenhängt. Dies klärt sich erst sehr spät und ziemlich überraschend auf.
Überhaupt ist das Ende, so wie schon die gesamte Geschichte, sehr konstruiert, die Aufklärung der Zusammenhänge und die Hintergründe müssen erzählt werden, statt dass sie sich, wie es besser gewesen wäre, im Laufe der Handlung ergeben. Ähnliches gilt für die gesamte Handlung, vieles wird zu sehr auserzählt, viele Spannungsmomente sind zu deutlich auf eben diese hin geschaffen, zu mühsam herbeigeführt, wirken nicht aus der Handlung, aus den Figuren entstanden. Von den Charakteren berühren nur Rosa und Marla, die Figuren von Nora und Henrik wirken zu schablonenhaft, sie agieren zu vorhersehbar, zu sehr, wie man es in einem Thriller erwarten würde. Sie erwecken kein Mitgefühl, kein Mitfiebern, außer eben, zumindest ansatzweise, die Figuren von Rosa, wegen ihrer vergangenen Erfahrungen vor allem, und Marla, insbesondere zu Beginn ihrer Geschichte.
Alles in allem ein seriöser, thrillerartiger Roman, der aber, verglichen beispielsweise mit dem letztjährigen uneingeschränkten Highlight einer anderen deutschen Autorin, „Acht Wölfe“ von Ulla Scheler, seine Mängel hat.
Vera Buck - Das Baumhaus
Rowohlt Polaris, Mai 2024
Klappenbroschur, 396 Seiten,17,00 €

Bewertung vom 03.06.2024
In den Augen meiner Mutter
Leevers, Jo

In den Augen meiner Mutter


gut

Wieder einmal ein Roman um die Beziehung von Müttern zu Töchtern, von Kindern zu Eltern, ein Roman um eine Familie voller Probleme, voller Drama.
Der erste Roman, den ich von Jo Leevers gelesen habe, hat mir ausgenommen gut gefallen. Er war gefühlvoll ohne rührselig zu sein, er zeigte einen leisen Humor und die Figuren waren authentisch und sympathisch. Vor allem war er optimistisch und hell.
Leider hat mich dieser neuer Roman dagegen etwas enttäuscht. Er ist eher düster und zäh, die Handlung ist überfrachtet und die Charaktere haben kein Mitempfinden wecken können.
Im Mittelpunkt der Handlung steht Georgie, hochschwanger, deren Lebensgefährte unverhofft dienstlich verreisen musste. Sie hat einiges aus ihrer Vergangenheit, aus ihrer Familiengeschichte vor ihm verschwiegen. So erzählt sie ihm auch nicht, dass sie, nachdem sie plötzlich ein Foto ihrer seit vielen Jahren verschwundenen Mutter in der Zeitung sieht, aufbricht, um diese zu suchen. Sie bittet ihren Bruder Dan, zu dem ihre Beziehung auch seit zwei Jahren unterbrochen war, um Hilfe und gemeinsam begeben sich beide auf die Reise.
Unterwegs kommen sich Georgie und Dan wieder näher, können über das Ereignis, das sie trennte – den Tod eines gemeinsamen Freundes – erstmals offen reden. Doch die Reise bringt erst einmal keinen Erfolg, denn Nancy, ihre Mutter, ist von dort, wo sie war, bereits wieder verschwunden.
In vielen Rückblicken, bis zu Nancys Kindheit, über ihre Studienzeit, ihre Ehe und die Geburt der Kinder, erfahren wir, was damals vorfiel und wieso Nancy die Familie verlassen musste. In weiteren Rückschauen wird auch Georgies Geschichte erzählt, wie sie als Kind und Teenager mit dem Verschwinden der Mutter und der gleichzeitigen Gleichgültigkeit des Vaters ihr gegenüber fertig werden musste, wie sie Finn, Dans besten Freund kennen und lieben lernte und wie es schließlich zur Katastrophe kam.
Dazwischen wiederum sind Szenen aus Nancys Perspektive eingefügt in der aktuellen Handlung. Sie reist per Anhalter mit ihrer Hündin Bree, um weiter im Verborgenen leben zu können.
Am Ende, das darf man ohne zu spoilern verraten, begegnen sich Nancy und ihre Kinder und es gelingt, sich auszusprechen, all die vergangenen und gegenwärtigen Schwierigkeiten aufzuarbeiten und auszuräumen.
So fesselnd die Handlung in der Zusammenfassung klingen mag, so wenig konnte sie mich fesseln. Zum einen verhindern die häufigen Zeit- und Perspektivwechsel, dass man überhaupt richtig in die Handlung, in die Geschichte eintauchen kann, dass man eine Beziehung zu den Figuren aufbauen kann. Zum anderen sind es mir einfach zu viele Probleme, die diese Familie getroffen hat. Das ist überdramatisiert, überfrachtet und wirkt dadurch zu konstruiert. So hätte es meines Erachtens den gesamten Handlungsstrang um den Tod des Freundes Finn gar nicht gebraucht.
Hinzu kommen noch der eine oder andere Logikfehler, so wie die unendliche Fahrt von Georgie und Dan, deren Navi, auch nachdem sie mehrere Stunden gefahren sind, immer nur eine oder sogar weniger von der genannten Fahrtzeit abzieht. Das passte dann leider hinten und vorne nicht.
Dazu ist vieles recht klischeehaft, so ist der Bösewicht der Geschichte zu böse gezeichnet, so dass er fast ein wenig wie eine Karikatur wirkt. Die Gefühle der Figuren sind oft zu dick aufgetragen, um zu überzeugen. Einzig die Beschreibungen von Nancy in der Jetztzeit erzeugen eine gewisse Empathie und Mitleiden.
Der Schreibstil von Jo Leevers ist nicht schlechter als in „Café Leben“, aber diesmal konnte er mir dennoch den Roman nicht näherbringen. Schade.
Jo Leevers - In den Augen meiner Mutter
Originaltitel: The Last Time I Saw You
aus dem Englischen von Maria Hochsieder
Droemer, Mai 2024
Gebundene Ausgabe, 352 Seiten, 23,00 €

Bewertung vom 31.05.2024
Der rote Spatz
Huwyler, Marcel

Der rote Spatz


ausgezeichnet

Er ist einfach ein Garant für gute Unterhaltung, dieser Schweizer Autor. Seine beiden weiblichen Serien-Heldinnen sind mir inzwischen richtig ans Herz gewachsen. Daher ist auch das Erscheinen dieses neuen Romans eine große Freude.
Eliza Roth-Schild, laut ihrer Visitenkarte Expertin in Business Research, wird von einem fulminant reichen Österreicher gebeten, in der Schweiz diverse Internate zu begutachten, damit er dann eines auswählen kann für seinen Sohn. Dieser ist in den Augen des Vaters ein verwöhntes Muttersöhnchen und muss daher den Armen eben dieser Mutter entrissen und in einem strengen Internat zu einem wahren Mann gemacht werden.
Nachdem Eliza auch diesen Auftrag natürlich wieder mit Bravour – und Unterstützung ihres Taxi fahrenden Mitarbeiters Herrn Wälti – abgeschlossen hat, wird sie anderntags jedoch von der Polizei sehr brutal verhaftet und zum Verhör mitgenommen. Der Vorwurf: Ebendiesen Sohn des Unternehmers entführt zu haben.
Zum Glück kann dieser Verdacht schnell ausgeräumt werden und Eliza bekommt als Entschädigung einen weiteren Auftrag des Vaters, sie soll seinen Sohn finden. Also macht sie sich zusammen mit Wälti daran, die Entführung aufzuklären. Dass sie dabei natürlich andere und bessere Spuren als die Polizei verfolgt, ist selbstverständlich. Ebenso, dass sie auch diesen Fall schnell, unkonventionell und sehr smart erledigt.
Elizas Mitbewohner Fabio verfolgt indessen andere Spuren, nämlich die in die Vergangenheit seiner Familie. Er hat interessante Briefe seines verstorbenen Großvaters gefunden und sucht nun die Absenderin dieser Korrespondenz. Selbstredend begegnet er auch diesmal wieder der „Frau seiner Träume“, doch wie immer bleibt ihm am Ende nur der Liebeskummer.
Wieder ist Marcel Huwyler ein ganz besonders flotter, wendungsreicher und sehr unterhaltsamer Roman gelungen. Man zögert zwar, es einen Krimi zu nennen, zu offensichtlich und zu schnell ist erkennbar, was geschehen ist mit dem verschwundenen Söhnchen. Ungemeinen Spaß macht die Lektüre dennoch. Die Szenen um Fabio und seine Recherchen sind dagegen ein wenig dröger, da auch hier die Ereignisse recht erwartbar sind.
Aber es sind die herrliche Sprache, der witzige Stil und die pfeilgenau treffende Wortwahl, es sind die mit Liebe und Empathie, mit Humor und viel Eigenart gezeichneten Figuren, die diese Romane auszeichnen. Auch wenn ich Violetta Morgenstern aus der gleichnamigen Reihe von Huwyler doch lieber mag als Eliza, so ist mir diese inzwischen auch sehr ans Herz gewachsen. Also hoffe ich für beide Damen auf noch etliche Fortsetzungen.
Marcel Huwyler - Der rote Spatz
atlantis, April 2024
Taschenbuch, 253 Seiten, 18,90 €

Bewertung vom 24.05.2024
Liebe, Stolz und andere Vorurteile
Dean, Becky

Liebe, Stolz und andere Vorurteile


ausgezeichnet

Das ist wieder mal so ein Roman, der einen eher abschreckenden deutschen Titel trägt (der englische Originaltitel ist aber auch nicht viel besser). Wenn man diesen ignoriert, findet man eine sehr liebenswerte Geschichte um zwei junge Menschen, die ihren Weg noch finden wollen oder müssen.
Brittany hat fast ihr ganzes Leben davon geträumt, Profi-Fußballerin zu werden. Sie hatte bereits ein Stipendium für ein Studium an der Sporthochschule in Kalifornien in der Tasche, als eine üble Knieverletzung ihren Traum platzen lässt. Denn nicht nur die Folgen der Verletzung, sondern vor allem eine Krankheit, die während der Behandlung entdeckt wurde, macht es für sie unmöglich, diesen Sport künftig auszuüben.
Da kommt es ihr gerade recht, dass ihre Englischlehrerin, die verblüffenderweise über erhebliche Geldmittel zu verfügen scheint, einen Wettbewerb ausschreibt. Britt und drei ihrer Klassenkamerad:innen werden eingeladen, nach Großbritannien zu reisen und dort in einer Art Schnitzeljagd diverse Aufgaben zu lösen. Dem Gewinner bzw. der Gewinnerin winkt ein Preisgeld von 100.000 Dollar.
Wenn nur die Aufgaben, die es zu lösen gilt, nicht alle mit Literatur zu tun hätten, ein Fach, das die sportliche Britt eher weniger spannend findet. Zu ihrem Glück lernt sie gleich zu Beginn der Tour den netten und gut aussehenden Luke kennen, der ein echter Bücher-Nerd zu sein scheint. Zumindest kann er Britt eine große Hilfe sein, denn er stimmt zu, sie auf ihrer Reise zu begleiten. Dritte im Team ist die Begleitperson, die alle Teilnehmer dabei haben. Alexis ist eine sehr geduldige, sehr verschwiegene und sehr humorvolle junge Frau, die noch dazu eine Verwandte Lukes ist, wie sich herausstellt.
So gehen die drei auf die Reise quer durch England und Schottland, versuchen, die Aufgaben zu lösen und geraten dabei durch Britt in immer neue Abenteuer. Denn Britt ist eine äußert liebenswerte 18-Jährige, die selten ein Blatt vor den Mund nimmt, mit jedem ins Gespräch kommt und meist von einem Dilemma in das nächste Fettnäpfchen gerät. Dabei hat sie das Herz auf dem rechten Fleck, hadert aber mit ihrer Krankheit. Und vor allem mit ihrer Zukunft, hat diese doch ihr alle Pläne zerstört und so muss sie erst ihren Weg finden, um neue Pläne machen zu können.
Inzwischen entwickeln sich zwischen Britt und Luke immer mehr Gefühle, die sie aber nicht zulassen will, da sie auf zwei Kontinenten leben und Britt schon zu viele Menschen in ihrem Leben verloren hat.
Der Roman ist ein reines Lesevergnügen. Die jungen Menschen, die im Mittelpunkt stehen, sind absolut realistisch gezeichnet, mit ihren Unsicherheiten, ihrer immer einsturzgefährdeten Mauer, die sie um sich bauen. Immer wieder treffen Britt und ihre Klassenkameraden aufeinander während der Reise und stets kommen dabei alte und neue Animositäten, ungelöste und nicht ausgesprochene Vorwürfe und bittere Erinnerungen hoch.
All das wird voller Wärme, mit wunderbar leichtfüßigem, dabei auch feinsinnigem Humor erzählt, die Figuren sind liebevoll, mit Verständnis und Empathie beschrieben. Die Dialoge, vor allem die witzigen zwischen Britt und Alexis, sind herrlich und spiegeln perfekt den britischen Humor.
Dazu kommen die literarischen Verweise auf Klassiker der englischen und schottischen Literatur, was zusätzlich großen Spaß bereitet. Ein rundum gelungener Roman, durch den man geradezu fliegt, auch, weil das sonst bei Liebesgeschichten vorhersehbare Happy End diesmal eben gar nicht so zuverlässig erwartbar ist und die Geschichte daher viel Spannung entwickelt.
Sehr empfehlenswert.
Becky Dean - Liebe, Stolz und andere Vorurteile
Originaltitel: Love and Other Great Expectations
aus dem Englischen von Susanne Just
Arctis, April 2024
Taschenbuch, 395 Seiten, 18,00 €

Bewertung vom 22.05.2024
The Happiness Blueprint
Zetterberg, Ally

The Happiness Blueprint


ausgezeichnet

Dieser Roman ist der Beweis, dass auch ein vorhersehbarer Plot beim Lesen sehr viel Spaß machen und erhebliche Spannung entwickeln kann.
Klara, die Menschen mit Schuhen vergleicht und in Schrifttypen und -größen einsortiert, muss ihr Leben in London verlassen und nach Hause kommen, nach Schweden. Ihr Vater muss sich einer Krebstherapie unterziehen und niemand sonst kommt in Frage, in dieser Zeit sein Geschäft weiterzuführen. Seine kleine Firma saniert Bäder und gestaltet Inneneinrichtungen.
Nicht alle der drei Mitarbeiter allerdings fügen sich Klaras Regeln und so besteht recht schnell Bedarf an Neueinstellungen. Auf ihre Anzeige bewirbt sich der gutaussehende Tischler Alex, der sehr bald nicht nur die handwerklichen Aufgaben übernimmt, sondern Klara auch hilft, die Organisation der Firma zu verbessern. Dazu synchronisieren die beiden ihre Kalender, was dazu führt, dass Klara beispielsweise entdeckt, dass Alex angeblich zu einer Paartherapie geht und er kann lesen, dass sie sich mit einem ehemaligen Freund trifft.
Es kommt, was kommen muss: Klara und Alex kommen sich immer näher, tauschen sich über die Kalender nicht nur hinsichtlich Firmenangelegenheiten aus, sondern auch immer öfter über privates. Wenn Alex nur keinen Ehering tragen würde, dann hätte Klara Hoffnung. Allerdings will sie eigentlich auch gar nicht in Schweden bleiben, sondern zurück nach London.
Alex hingegen kämpft gegen seine Depression an, die entstand nach dem Unfalltod seines jüngeren Bruders, für den Alex sich schuldig fühlt. Um dies zu kompensieren, sucht er wie besessen nach Zeugen des Unfalls, dessen Verursacher Unfallflucht begangen hatte.
Hier ahnt man früh, worauf das hinausläuft, dennoch entsteht eine gewisse Spannung, wie und wann die Auflösung kommt. Dass genau sie zu Schwierigkeiten in der sich entwickelnden Beziehung zwischen Klara und Alex führen wird, ist absehbar. Der Umgang vor allem von Alex damit ist dann allerdings ein wenig arg überzogen, nur um den üblichen Klimax im Roman zu erzeugen. Auch bleibt hier vieles ungeklärt, etliche Fragen im Zusammenhang damit unbeantwortet, man als Leserin somit etwas unbefriedigt zurück.
Trotzdem war die Lektüre des Romans eine reine Freude. Der Schreibstil ist flüssig, nie kommt Langeweile auf. Die Figuren sind liebenswert, vor allem Klara mit ihren Schrullen (es dauert, bis sie selbst erkennt, woran diese liegen), Alex Trauer um seinen Bruder scheint ein wenig dick aufgetragen, vor allem im Vergleich zu der von dessen Ehemann oder seinen Eltern, aber sei es drum.
Auch die Nebenfiguren, wie Klaras von Mann, Kind und Beruf überforderte Schwester oder ihre nach der Scheidung in Spanien lebende Mutter, die per Videocall an allem teilhaben will, sind präzise, mit Empathie, Augenzwinkern und leisem, nie zu dick aufgetragenen Humor gezeichnet.
Ein rundum gelungener Liebesroman, wobei sich mir ehrlich gesagt der Sinn des englischen Titels nicht erschlossen hat.
Ally Zetterberg - The Happiness Blueprint: Liebe und andere Baustellen
aus dem Englischen von Nora Petroll
Rowohlt Polaris, April 2024
Klappenbroschur, 399 Seiten, 16,00 €

Bewertung vom 20.05.2024
Ein Ort für immer
Norton, Graham

Ein Ort für immer


ausgezeichnet

Ein Schicksal, das heutzutage sicher öfter vorkommt, als man glaubt. Plötzlich sitzt ein Partner auf der Straße, weil der andere keine Vorsorge getroffen hat.
In dem Roman des irischen Autors Graham Norton, des ersten, den ich von ihm las, geht es vor allem um das, was unser Zuhause ausmacht. Für fast alle der wunderbar ausgearbeiteten Figuren stellt sich diese Frage, nicht alle finden eine Antwort.
Im Mittelpunkt steht Carol, fast fünfzig und glücklich in ihrer Liebe zu dem wesentlich älteren Declan. Seit 10 Jahren lebt sie bei ihm in seinem Haus, verheiratet sind sie nicht. Denn Declans Ehefrau ist seit vielen Jahren verschwunden, er also noch gebunden. Die erwachsenen Kinder Declans, Killian und Sally, lehnen Carol ab und auch Carols Sohn Craig ist eher distanziert, lebt sein eigenes Leben fernab.
Als dann Declans Demenz sehr rasch voranschreitet und Carol ihn nicht mehr allein versorgen kann, entscheiden Killian und Sally, ihren Vater in ein Pflegeheim zu geben. Und das Haus, in dem sie aufgewachsen sind und an dem inzwischen Carols Herz hängt, zu verkaufen, obwohl sie wissen, dass ihr Vater genau dies niemals zugelassen hätte. Damit steht Carol, die längst auch ihren Beruf als Lehrerin aufgegeben hatte, quasi auf der Straße und muss wieder bei ihren Eltern Moira und Dave einziehen.
Besonders Moira ist eine wunderbar gelungene Figur. Sie nimmt stets die Fäden in die Hand, findet immer eine Lösung, auch für das kurioseste Problem, und hat ebenso stets eine passende Antwort parat. Ihr Erfindungsgeist wird besonders auf die Probe gestellt, als sie und Carol in Declans Haus eine erschütternde Entdeckung machen.
Denn aus Mitleid mit ihrer Tochter und um Declans Kindern eins auszuwischen, kaufen Dave und Moira das Haus. Damit es sich anschließend gewinnbringend wieder veräußern lässt, wollen Moira und Carol es ein wenig renovieren, wobei sie über den erwähnten Fund stolpern.
Damit wird die ganze Geschichte nicht nur wunderbar komisch und absurd, sondern gewinnt so richtig an Fahrt. Die Spannung steigt, denn über allem schwebt stets die offene Frage, was mit Declans Frau Joan geschah.
Auch wenn mir die ständige Zögerlichkeit und Ängstlichkeit Carols, ihre Unentschlossenheit und ihr ewiger Wunsch, niemandem auf die Füße zu treten, etwas auf die Nerven ging, Moira macht das alles wett. Dazu der wunderbare Schreibstil Graham Nortons, der mit Empathie die Gefühlswelt der Figuren darstellen kann, mit Verständnis und immer mit feinsinnigem Humor.
Killian, voller Zweifel über seine Ehe mit seinem Mann Colin und dessen Wunsch nach einem Heim und einem Baby. Sally, die einsame und verklemmte Seele in ihrem winzigen unaufgeräumten Cottage, die am meisten unter dem Verlust der Mutter litt, und Carol, damit hadernd, dass sie in ihrem Alter ohne zuhause ist und quasi vor dem Nichts steht.
Ein absolut gelungener Roman, der ernste Themen nahbar macht, ohne rührselig oder kitschig zu werden, der einen anrührenden Ton findet, voller Subtilität und Einfühlungsvermögen. Dass manches unrealistisch und absurd, macht das eigentliche Vergnügen am Roman aus, auch wenn die Auflösung am Ende etwas arg konstruiert wirkt.
Unbedingt empfehlenswert.
Graham Norton - Ein Ort für Immer
aus dem Englischen von Silke Jellinghaus
Kindler, April 2024
Gebundene Ausgabe, 382 Seiten, 25,00 €

Bewertung vom 15.05.2024
Joseph Süßkind Oppenheimer
Erdtmann, Raquel

Joseph Süßkind Oppenheimer


sehr gut

Wer, wenn nicht eine Gerichtsreporterin, könnte diese Geschichte erzählen. Die Geschichte des Juden Joseph Süs Oppenheimer, der 1738 nach einem Schauprozess hingerichtet wurde und später als literarische Figur „Jud Süß“ unter anderem durch Lion Feuchtwanger Berühmtheit erlangte.
Akribisch recherchierte Details, aufwändig nachgezeichnete Lebenswege und erschütternd deutliche Beschreibungen der Judenfeindlichkeit zeichnen dieses Buch aus. Raquel Erdtmann schildert das Leben des Mannes, der seiner Zeit um einige Jahrhunderte voraus war, der sich nicht verbiegen lassen wollte und der sich weder den Vorschriften noch den Einschränkungen, die den Juden auferlegt waren, beugen wollte.
Kein Wunder also, dass er sich gerade bei denen unbeliebt machte, die diese Vorschriften aufgestellt hatten. Joseph Süs Oppenheimer war erfolgreicher Unternehmer, der weit modernere Methoden der Buchführung, der Finanzverwaltung und der Finanzkontrolle anwendete, als damals üblich war. Er wurde schließlich Finanzrat des Herzogs von Württemberg, ein Amt, das er nicht wollte und das er am Ende mit dem Leben bezahlte.
In die Lebensgeschichte Oppenheimers flicht die Autorin immer wieder Hintergrundinformationen über jüdisches Leben, jüdische Riten und Gebräuche ein. Sie beschreibt die Umstände, unter denen Juden in den Gettos zu leben gezwungen waren, wie und wo sie arbeiten durften und welchen Anfeindungen sie ausgesetzt waren. Immer wieder setzt sich Oppenheimer darüber hinweg, so beispielsweise, als er in Frankfurt am Main sein Geschäftsgebäude weit außerhalb des Judenviertels bezieht und sein Unternehmen aufbaut.
Besonders unbeliebt macht er sich aber durch seine Unbestechlichkeit und seinen vehementen Kampf gegen Korruption und Ämtermissbrauch. All das lassen ihn seine Gegner büßen, als der Herzog stirbt und er so dessen Schutz verliert. Oppenheimer kommt in Haft, unter unmenschlichen Bedingungen, doch weder seinen Stolz noch seine Hoffnung auf Gerechtigkeit verliert er. Bis zuletzt, als seine Hinrichtung zu einem Spektakel wird.
Die Schilderungen des Prozesses, sein Vegetieren über viele Monate in dem verließartigen Gefängnis, sein Glauben an Gerechtigkeit und schließlich die unmenschliche Dreistigkeit, mit der eben dieser Gerechtigkeit Hohn gesprochen wurde während des Prozesses erschüttern sehr. Die Lektüre dieses Buches ist spannend wie ein Krimi, informativ und fesselnd, berührend und doch auch manchmal amüsant, wenn der Jude Oppenheimer den Katholiken und Protestanten gleichermaßen Hohn lacht. Raquel Erdtmann schreibt flüssig, oft mit einem Augenzwinkern, ohne zu beschönigen, aber auch ohne anzuklagen.
Keine leichte Lektüre, mit manchen Längen, aber ungemein interessant – auch, weil thematisch leider immer noch oder wieder aktuell.
Raquel Erdmann - Joseph Süßkind Oppenheimer
Steidl, April 2024
Gebundene Ausgabe, 272 Seiten, 24,00 €

Bewertung vom 13.05.2024
Wie Treibgut im Fluss
Wagner, Andreas

Wie Treibgut im Fluss


sehr gut

Ein Roman um Freundschaft und Trennung, um Tradition und Religion, um Aufbegehren und Unterordnen und um Familie und ihre Generationen.
Tief in die Vergangenheit blickt Ich-Erzähler Niklas, um die Geschichte seiner Familie zu ergründen. In der unausgesprochenen Hoffnung, dass sie ihm hilft, sein eigenes Leben in den Griff zu bekommen, seinem Sohn ein guter Vater zu sein.
Vor fast 300 Jahren beginnt die Geschichte, sie beginnt mit den armen Bauern im Hunsrück, die einer Schimäre nachjagen, als sie davon träumen, nach Amerika auszuwandern, nach Pennsylvanien. Gegen den Willen seiner Frau Catharina schließt sich Peter der Auswanderergruppe an. Doch sie kommen nicht weit. Die Niederlande lassen die Menschen nicht einreisen, nicht durchreisen zum Hafen. So landen sie am Niederrhein, können nicht vorwärts und nicht zurück, beginnen hier zu siedeln.
Das Leben ist hart und beschwerlich, weshalb die Sehnsucht nach einen besseren Leben, nach einem anderen Land bleibt. Zumal die Menschen aus dem Hunsrück nun hier zwischen Angehörigen einer anderen Religion leben, mit denen es keine Verbindung, keinen Austausch gibt. Protestanten und Katholiken begegnen einander voller Misstrauen, ein Zusammen, geschweige denn eine Freundschaft kann und darf es nicht geben.
Das bleibt über die Jahrhunderte so. Nur die kleine Ännie begehrt dagegen auf, als sie, das Protestantenmädchen die gleichaltrige Katholikin Josephine kennenlernt. Trotz aller Unterschiede, trotz aller Bestrafungen für ihr Vergehen, mit Katholischen zu reden und trotz einer langen und andauernden Trennung bleiben die beiden Mädchen in Verbindung, als junge Frauen, als Ehefrauen und Mütter, als alte Frauen, bis zum Tod. Nur zusammen dürfen und können sie nicht sein.
Josephine wird später die Großmutter des Ich-Erzählers Niklas, der ihre Geschichte erst erfährt, als sie gestorben ist. Sie hat sie ihm gewissermaßen hinterlassen.
Dieser historische Teil des Romans ist ausgesprochen spannend. Die Schicksale der Menschen zu verfolgen, ihren Kampf ums Überleben, mit Vorurteilen, mit Krieg und Armut, mit Rollenbildern und mit den eigenen Wertevorstellungen, ist hochinteressant und dieser Teil des Buchs ist auch sehr gut geschrieben.
Weniger spannend und auch weniger interessant ist der in der Gegenwart spielende Teil des Romans, in dem wir Niklas begleiten, der einen Tag mit seinem Sohn am Rhein verbringt, mit ihm an die Orte der damaligen Ereignisse wandert und währenddessen damit hadert, ob er ein guter Vater ist. Dass er seine Frau betrogen hat und daher seinen Sohn nur an bestimmten Tagen bei sich hat, belastet die Beziehung zu dem Jungen. So ist dieser Teil des Romans eher dröge, die Stimmung von Niklas nicht immer nachvollziehbar, wirkt oft wehleidig. Auch sein Umgang mit dem Vermächtnis seiner Großmutter verwirrt, wirkt unverständlich.
Dennoch ist das Buch als Ganzes unbedingt zu empfehlen, ein großer Roman voller faszinierender Figuren, der mir bisher nicht bekannte historische Ereignisse anschaulich beschreibt.
Andreas Wagner - Wie Treibgut im Fluss
Droemer, April 2024
Gebundene Ausgabe, 349 Seiten, 24,00 €