Karla Henning beschreibt in ihrem Buch "Die Gleichzeitigkeit der Dinge" das wundersame Phänomen, dass als sehr gegensätzlich empfundene Dinge gleichzeitig da sein und gefühlt werden können. Dabei konzentriert sie sich auf den Schmerz und die Schönheit. In einer sehr angenehm zu lesenden, zarten,
nachdenklichen, einfühlsamen und klaren Sprache verknüpft sie theoretische Überlegungen u.A. aus…mehrKarla Henning beschreibt in ihrem Buch "Die Gleichzeitigkeit der Dinge" das wundersame Phänomen, dass als sehr gegensätzlich empfundene Dinge gleichzeitig da sein und gefühlt werden können. Dabei konzentriert sie sich auf den Schmerz und die Schönheit. In einer sehr angenehm zu lesenden, zarten, nachdenklichen, einfühlsamen und klaren Sprache verknüpft sie theoretische Überlegungen u.A. aus Psychologie, Philosophie und spirituellem Wissen mit eigenen Erlebnissen und zeigt sich immer wieder verwundert über eben die Gleichzeitigkeit der Dinge, wie etwa der sehr schmerzliche Verlust eines Menschen, zu dem man eine tiefe Beziehung hatte, und das Erlebnis etwa eines wunderschönen Sonnenunterganges, den man auch in der tiefsten Trauerphase noch genießen kann.
Der erste Teil über den Schmerz nimmt mit 43 Seiten den größten Anteil des Buches ein und setzt sich in 4 Kapiteln mit verschiedenen Arten von Schmerz auseinander. Den Grundton dieses Teils habe ich dem Thema angemessen als melancholisch empfunden, wobei diese Melancholie immer wieder durch die Gleichzeitigkeit der Erfahrung des Schmerzes und der Schönheit entsteht. Besonders kritisch sieht die Autorin dabei den gesellschaftlichen Umgang mit Schmerz: Er soll möglichst schnell überwunden werden, damit das normale Leben weitergehen kann. Die Gleichzeitigkeit der Dinge zuzulassen, in dem Sinne, dass Schmerz zum Leben dazu gehört ebenso wie die schönen Dinge, findet heute wenig Verständnis.
Auch im Weltschmerz, mit dem wir auf die aktuelle Situation der Welt mit ihren vielen Kriegen, ihrer ungerechten Ressourcenverteilung, ihrer Umweltzerstörung und der sich anbahnenden Klimakatastrophe reagieren, können wir wieder die Gleichzeitigkeit der Dinge entdecken: „Orte, die ich im Rahmen meiner Arbeit kennengelernt habe, wie zum Beispiel das Flüchtlingslager Gambella an der Grenze zwischen Südsudan und Äthiopien, erscheinen auf der einen Seite wie die ‚Hölle auf Erden‘, aber wenn man es schafft, über den Punkt des Schmerzes hinauszuschauen, sieht man auch die unglaubliche Resilienz und zwischenmenschliche Schönheit, die sich an solchen Orten oder vielleicht gerade an solchen Orten zeigt.“
Der 2. relativ kurze Teil über die Schönheit ist eine Art Kontrapunkt zum Schmerz.
Im 3. Teil des Buches beschäftigt sich Karla Henning mit dem „Kapitalismus des Reparierens, Optimierens, Heilens und ‚darüber Hinwegkommens‘ “. Die Autorin setzt sich hier mit dem sogenannten positiven Denken auseinander. Im Kapitalismus sind Negativitäten wie beispielsweise der Schmerz verpönt und müssen möglichst schnell „repariert“ werden, als sei die Psyche eine Maschine. Schließlich geht sie in diesem Zusammenhang auch auf den Einfluss des Internets ein: „Wie ein Brandbeschleuniger wirkt hier zudem das Glücksdiktat der sozialen Medien.“ Karla Henning fragt, „warum es so schwierig ist auszuhalten, wie es ist“. Sie beschreibt zunächst, wie schwer es Menschen fällt, auch den Schmerz anderer Menschen auszuhalten, erläutert in diesem Zusammenhang den Unterschied zwischen Mitleid, Mitgefühl und Empathie, um schließlich eine Lanze für die Dualität des Lebens zu brechen, indem sie u.A. den Psychiater und Psychoanalytiker Gustav Jung zitiert, nach dem es gelte, „ ‚das Gute im Schlechten und das Schlechte im Guten zu suchen.‘ Dieser Satz ist mehr als eine philosophische Überlegung, er ist eine tiefe Einsicht in die Dualität menschlicher Erfahrung. Jung wollte damit verdeutlichen, dass in den dunkelsten Ecken des Lebens Lichtstrahlen verborgen sind und dass selbst in den hellsten Momenten Schatten lauern können.“
Im 4. und letzten Teil „Was dann?“ diskutiert Karla Henning Möglichkeiten, mit der Ambivalenz, die sich aus der Gleichzeitigkeit von Schmerz und Schönheit ergibt, umzugehen. Sie würdigt dabei vor allem kritisch Konzepte aus den spirituellen Lehren, wie das Konzept der Akzeptanz der Dinge, wie sie sind, der Achtsamkeit und der Meditation. Sie beschreibt das Gefühl der Melancholie als ein Mischgefühl der schmerzlichen Freude, das eng mit dieser Ambivalenz korrespondiert. Sie geht auch kurz auf die Rolle von Gleichmut und Selbstmitgefühl ein, die sie als innere Haltungen beschreibt, mit denen man der Ambivalenz der Gleichzeitigkeit der Dinge begegnen kann. Sie beschließt diesen Teil mit der Empfehlung, den Mut aufzubringen, dem Leben nicht auszuweichen, was eine wesentliche Rolle für die persönliche Entwicklung darstellt.
Das Buch endet schließlich mit einem sehr berührenden Epilog, in dem die Autorin den Mut aufbringt, anhand einer sehr persönlichen Erfahrung die Botschaft ihres Buches noch einmal exemplarisch zu demonstrieren und zusammenzufassen.