Keine leichte Kost: „Die Geschichte auf der Rückseite meiner Geschichten...“
„Wie liebt und begehrt man, wenn Verletzendes verborgen hinter einem liegt?
Wie lebt und liebt man immer weiter?“
„Das Lieben danach“ von Helene Bracht hatte mich dank Klappentext und Leseprobe sehr neugierig auf
das Buch gemacht, auch wenn ich ein Blurb direkt auf dem Cover etwas ungewöhnlich finde und bei zuviel…mehrKeine leichte Kost: „Die Geschichte auf der Rückseite meiner Geschichten...“
„Wie liebt und begehrt man, wenn Verletzendes verborgen hinter einem liegt?
Wie lebt und liebt man immer weiter?“
„Das Lieben danach“ von Helene Bracht hatte mich dank Klappentext und Leseprobe sehr neugierig auf das Buch gemacht, auch wenn ich ein Blurb direkt auf dem Cover etwas ungewöhnlich finde und bei zuviel Vorab-Lob eigentlich misstrauisch bin. Ich hatte also recht hohe Erwartungen an dieses Buch - diese wurden nicht komplett erfüllt; dennoch ist es ein sehr lesenswertes und wichtiges Buch.
„Die Geschichte erschien mir viele Jahre lang gänzlich unerheblich.“ - Die heute siebzigjährige Helene Bracht erzählt rückblickend von ihrem Leben, ihrem Umgang und ihren Erfahrungen mit Sexualität - und davon, dass sie als Kind missbraucht wurde. Die Art und Weise, wie sie dies tut, ist ungewöhnlich, wenngleich größtenteils gelungen. Die Mechanismen von Trauma, Scham und Selbstschutz sind hier gut verständlich gemacht, ohne dass man als Leser*in überfordert oder getriggert wird. Man merkt allerdings, dass die Autorin durch ihren Beruf als Psychologin ihr Leben und ihr Verhalten ganz anders analysieren kann als andere Betroffene das im Allgemeinen könnten. So bleibt der Bericht eine persönliche Sache, die sich nicht unbedingt auf andere Betroffene übertragen lässt. Dennoch zeigt das Buch auf, wie unterschiedlich und schwer greifbar Missbrauchserfahrungen sein können und welche Folgen im späteren Leben, Fühlen und Handeln dies haben kann.
Ich finde die Verbindung von persönlicher und fachlicher Auseinandersetzung mit dem Thema Missbrauch und dessen Folgen gut gelungen. Für ihre Selbstanalyse benötigte die Autorin nachvollziehbarerweise viel Abstand und eine gute Portioni an Lebenserfahrung, da sich bestimmte Muster erst wiederholen mussten, um (selbst)erkennbar zu werden.
Ein feinfühliges und anspruchsvolles Buch, das einem noch einige Zeit im Gedächtnis bleiben wird.
"War es Strafe oder Scham? Schon als Kind hielt ich wage beides für möglich.
Ich erinnere mich an das Toben in meinem Kindergemüt inmitten dieser brütenden Reglosigkeit, an all die Widersprüche in mir, über die ich noch stummer wurde als zuvor. Ich erinnere mich, wie ich hätte im Boden versinken können vor Scham und doch gleichzeitig den Rücken straffen wollte, um mich groß zu machen, um es laut in die Welt hinauszurufen: Ich bin was ganz Besonderes. Ich hatte große Sehnsucht, wurde geschüttelt von der Trauer, dass er nicht mehr kommen würde, mein Strecker. Nie mehr. Einfach weg, kein Abschied, nichts. Und gleichzeitig war ich wie von einem Albtraum befreit, voll überwältigender Erleichterung darüber, dass es endlich vorbei war."
"Es ist lohnend, denke ich, auf Spurensuche zu gehen, denn niemand stellt in Abrede, dass eine frühe Erfahrung mit sexueller, körperlicher oder emotionaler Gewalt Spuren und Prägungen hinterlässt. Es sind besonders die feinen, kaum sichtbaren Seelengravuren, die über Jahrzehnte konstanten Muster des Begehrens, der Identitätsbildung und der Bindungsfähigkeit, denen Aufmerksamkeit gebührt.:
"Die Leerstellen, die Auslassungen in unseren verschiedenen Versionen über uns selbst sind selten auf den ersten Blick zu erkennen."
"Und natürlich - das hat sich mittlerweile herumgesprochen - ist auch der Begriff Missbrauch so scheußlich wie falsch, denn sein Gegenkonzept wäre ein regelkonformer Gebrauch von Menschen, namentlich Kindern, was die begriffliche Schieflage unzweifelhaft offenbart. Wie so oft kommt Sprache auch hier als Tätersprache daher. Kurzum, es gibt keinen Namen, der halbwegs angemessen die Dimension der Grenzverletzung fassen kann, um die es geht. Keinen ebenso, der auch nur annähernd die lebenslang wirksame Kontamination von Intimität, Vertrauen und Bindung ahnen lässt, mit der es die Betroffenen zu tun haben."
"Ich meinerseits wusste lange Zeit gar nicht so recht, was Selbstachtung eigentlich ist. Allem voran wusste ich nicht, dass zu Selbstachtung auch gehört, in der Lage zu sein, etwas zu verweigern, was eine andere Person von einem will. Dass man das überhaupt können kann und dürfen darf. Ich hatte gelernt, dass der Schlüssel zur Selbstachtung im Blick eines anderen liegt und dass Selbstwertbestätigung der Lohn dafür war, jemand anderen zu wählen zu sein. Was könnte daraus wohl anderes erwachsen als eine verzweifelte Angewiesenheit auf die Bestätigung Anderer."