In Abistan, einem riesigen Reich der fernen Zukunft, bestimmen die Verehrung eines einzigen Gottes und das Leugnen der Vergangenheit das Herrschaftssystem. Jegliches individuelle Denken ist abgeschafft; das Eingeschworensein auf ein allgegenwärtiges Überwachungssystem steuert die Ideen und verhindert abweichendes Handeln. Offiziell heißt es, die Bevölkerung lebt einvernehmlich und im guten Glauben. Doch Ati, der Protagonist dieses Romans, der ausdrücklich anknüpft an Orwells Klassiker "1984", hinterfragt die vorgegebenen Direktiven: Er macht sich auf die Suche nach einem Volk von Abtrünnigen, das in einem Ghetto lebt, ohne in der Religion Halt zu suchen ... Während George Orwell in seinem Zukunftsroman das totalitäre Regime Stalins vor Augen hatte, entwirft Boualem Sansal in seinem Roman das Szenario eines Regimes, das auf der religiösen Überhöhung einer Ideologie beruht. Es ist ein Regime, das sich die gegenwärtige Vereinzelung des Individuums auf der Suche nach persönlichem Glück und Wohlergehen auf erschreckende Weise zunutze und zum Motor der Gemeinschaft macht. In Abistan sind Fragen oder Diskussionen gänzlich überflüssig geworden: Eine kleine Gruppe von Herrschenden sorgt für die Gemeinschaft ebenso wie für das Wohlergehen des Einzelnen, wobei den Regeln des Staates folgend das Streben nach spiritueller Erleuchtung den Alltag eines jeden Bürgers diktiert. Sansals Vision ist zugleich faszinierend und erschreckend - in einer Zeit gesellschaftlicher Umbrüche mahnt sie zu gelebter Brüderlichkeit, toleranter Demokratie und einsichtiger Freiheit.
Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Franziska Meier gefällt Boualem Sansals auf Orwell rekurierender Zukunftsentwurf. Natürlich nicht wegen der darin dargestellten Diktatur, sondern wegen Sansals sprachlicher Meisterschaft. Für Meier zeigt sie sich in der Darstellung des nüchternen Neusprech ebenso wie in der geschickten Kontrastierung durch kraftvolle Poesie. Für Meier ein an Camus erinnernder Hoffnungsschimmer in dieser Dystopie, deren Handlung ihr vor lauter Erläuterungen und Kommentaren gelgentlich zwar zu kurz kommt, die als verzweifelte Freiheitssuche und Revolte aber dennoch erkennbar bleibt, wie Meier wissen lässt.
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