Wie weit springt ein Floh - und warum? Was haben Dichter und Schachspieler gemein? Primo Levi, Schriftsteller und Chemiker, schaut in vielen dieser witzig erzählten Betrachtungen über den Zaun seines eigenen Metiers hinaus und dilettiert genüsslich - und zum Vergnügen des Lesers - im Bereich der Naturwissenschaften, der Linguistik und der Astronomie.
Der Chemiker Primo Levi findet den literarischen Stein der Weisen
Das große Ganze - steht es inzwischen nicht unter dem gutsituierten Verdacht, totalitäre Zwänge auszuüben? Seit der Nachkriegszeit wird ihm deshalb der kulturelle Prozeß gemacht. Der einzelne in seinen Einzelheiten, das Sichtbare, Naheliegende, die Unverdächtigkeit des Dinglichen, die kleine Alltäglichkeit sollte vor großen ideologischen Übergriffen schützen. Hier entlang verläuft jedenfalls die Auffanglinie von Trümmerliteratur, Nouveau Roman oder Neorealismus.
An ihr auch bezog Primo Levi (1919 bis 1987) Stellung, als er aus Auschwitz zurückkam. Seinem ersten Werk, "Ist das ein Mensch?" (1947), vertraute er an: "So ist menschliche Natur, daß sich Leiden und Schmerzen für unser Empfinden nicht zu einem Ganzen zusammenfügen; sie verbergen sich." Diese Einsicht hat seine Sichtweise bis zuletzt grundiert. Wohl deshalb auch hat er nur einen einzigen Roman geschrieben ("Wann, wenn nicht jetzt?", 1982). Alles andere sammelt jeweils aufs neue Erzählbausteine; in einer Geschichte kommen sie allerdings nicht mehr unter. Doch Levi wußte aus solchen Fragmenten, Miniaturen, Anekdoten und Glossen eine Kunst zu machen. Ein letztes Beispiel dafür sind die vorliegenden Feuilletons und Streiflichter, die von 1976 bis 1984 in der Tageszeitung "La Stampa" erschienen. Wie in seinem langen Berufsleben erweist er sich auch darin als Chemiker der Literatur. Noch so beiläufige, unauffällige, marginale Lebensinhaltsstoffe, die wir wie Kleingeld behandeln, ziehen seinen eindringlichen Blick an. Da es immer Wichtigeres gibt, sind sie nicht der Rede wert. Hier setzt Levi an. Er bringt sie in sein Sprachlabor, ,demontiert' ihre stumme Oberfläche und bringt sie wieder zum Sprechen. Er fragt: Warum sind Schmetterlinge schön? Warum haben wir Angst vor Spinnen? Warum halten wir Ohrwürmer für gefährlich? Wie ein Mikroskop ein (sein) Leben verändern kann; warum es nicht wahr ist, daß sich nur durch Dunkelheit die Dunkelheit ausdrücken läßt, aus der wir kommen (sein literarisches Credo, das er gegen Celan und Trakl setzt). Wie wir Insekten den Schellack abgewannen und er ihre Arbeiterinnen zu Insekten macht; was uns fossile Wörter zu sagen haben. Ob man ein völlig neues Tier erfinden könnte. In diesem Sinne läßt er aus Wassertropfen Ozeane entstehen.
Alles hat eine Geschichte, wenn man den Dingen nur auf den Grund geht. Dies ist der ,wissenschaftlich' neugierige Vorsatz von Levis Fabulierlust. Sie stört mit Vergnügen (auf seiten des Autors und des Lesers) unsere Alltäglichkeit mit ihrer mentalen Seßhaftigkeit, um uns damit vertraut zu machen, daß wir uns - eigentlich - inmitten einer Wunderkammer unabgegoltener Geschichten befinden.
Doch allmählich, je mehr Levi von diesen Mosaiksteinen auslegt, formiert sich unterhalb ihres anmutigen Esprit ein Souterrain mit ganz eigenen Gesetzen. Ein Autor, der alle Freiheiten hat, wenn er eine Figur erfindet, ist danach an sie gebunden. Hier herrscht die Unverständlichkeit jahrhundertealter Abzählverse; ein Schmetterling in der Vergrößerung weckt Gefühle des Grauens und des Ekels; Holz verlangt nach Oxydation, das heißt nach seiner Selbstzerstörung; eine Art unter den Glühwürmchen lockt die Männchen an, um sie aufzufressen; der Name Derrick - man kennt ihn - geht auf einen Scharfrichter zurück, der in seinen Beruf vernarrt war und ein neues Galgenmodell erfand.
Die Sachfiktionen, die Levi erzählt, stellen die kleine Welt des Alltags auf den Kopf: Sie weisen ihr nach, daß ihre Sicherheit ihrerseits auf einer abgründigen Fiktion beruht - verläßlich ist sie nur, solange keine Fragen gestellt werden. Wer es dennoch tut, weil er sich seiner verbliebenen Gewißheiten vergewissern will, entdeckt, daß sie auf Phantasmen beruht. Sie aber sind inkohärent, abwegig, schwankend, gefräßig, bodenlos. Sie machen Angst und flößen das ,Unbehagen von Waisenkindern' ein. Die Heiterkeit Levis ist Heiterkeit am Abgrund. Zwei Jahre nach diesem Buch ließ er sich fallen.
WINFRIED WEHLE
Primo Levi: "Anderer Leute Berufe". Glossen und Miniaturen. Aus dem Italienischen übersetzt von Barbara Kleiner. Carl Hanser Verlag München/Wien 2004. 185 S., br., 17,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Maike Albath empfiehlt Primo Levis "Miniaturenkompendium" als "klassisches Buch für den Nachtschrank". Levi dilettiert fröhlich auf fremden Gebiet und entpuppt sich als interessierter Leser von Wörterbüchern. Mit "heiterer Gelassenheit" erforscht er die Transfer-Leistungen der Sprache ebenso wie den Charakter von Energie; seine "Weltneugierde" empfindet die Kritikerin als erfrischend und "ansteckend" und stößt nebenbei auf einige "überraschende" Erklärungen. Die eigenen schriftstellerischen Tätigkeiten schildert Levi "unprätenziös", überhaupt herrscht ein "beiläufiger Tonfall" vor, der Albath sehr behagt. Damit man das "Kuriositätenkabinett" voller kleiner Entdeckungen und Beobachtungen aber in vollen Zügen genießen kann, sollte man nur eine Glosse pro Abend lesen, "keinesfalls mehr".
© Perlentaucher Medien GmbH
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"Das Buch besticht durch ein Zusammenspiel von eindrucksvollem Ernst und an den exakten Wissenschaften geschultem Geist mit prägnantem Witz und komödienhaftem Humor." Renate Wiggershaus, Frankfurter Rundschau, 17.11.05