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Souverän und klar zeichnet der Autor ein Bild der komplexen Machtstrukturen, in die Athen in der hellenistischen Zeit eingebunden war, und deren ständige Veränderungen von den Politikern des Stadtstaates allerhöchstes diplomatisches Geschick verlangten, um der Heimat ein größtmögliches Maß an Unabhängigkeit zu sichern. Trotz der schwierigen Situation, in der sich Athen befand, blühten Geistesleben und Kultur und gelangten zu neuen Höhen.

Produktbeschreibung
Souverän und klar zeichnet der Autor ein Bild der komplexen Machtstrukturen, in die Athen in der hellenistischen Zeit eingebunden war, und deren ständige Veränderungen von den Politikern des Stadtstaates allerhöchstes diplomatisches Geschick verlangten, um der Heimat ein größtmögliches Maß an Unabhängigkeit zu sichern. Trotz der schwierigen Situation, in der sich Athen befand, blühten Geistesleben und Kultur und gelangten zu neuen Höhen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1995

Die Ohnmacht und die Herrlichkeit
Kein antikes Medienzeitalter: Christian Habicht gibt dem hellenistischen Athen seine politische Geschichte wieder / Von Jan Roß

Im Jahr 307 oder 306 vor Christus beschloß die athenische Volksversammlung auf Antrag eines sonst unbekannten Bürgers namens Sophokles ein Gesetz zur staatlichen Kontrolle der Philosophenschulen. Ihre Zulassung sollte an das Einverständnis von Rat und Volk gebunden werden. Die Philosophen, an ihrer Spitze Theophrast, der große Schüler und Nachfolger des Aristoteles, einer der bedeutendsten Naturforscher aller Zeiten, witterten Zensur und verließen sofort die Stadt. Ein knappes Jahrhundert zuvor hatten die Athener Sokrates zum Tode verurteilt. Jetzt trieben sie das freie Denken außer Landes.

Athens große Zeit, das mußte jeder in der Stadt wissen, war vorbei. Die neue Epoche, die man seit Johann Gustav Droysen als Hellenismus kennt, ließ die griechischen Kleinstaaten, die einmal die Perser besiegt hatten, zu Vasallen mächtiger Reiche und zu Zaungästen der Weltpolitik herabsinken. In diesen Niedergang schien die Philosophie auf kompromittierende Weise verwickelt zu sein. Das Gesetz des Sophokles richtete sich vor allem gegen den Peripatos, die Schule des Aristoteles. Aristoteles selbst war Prinzenerzieher am Hof des makedonischen Königs Philipp gewesen, des Totengräbers der hellenischen Freiheit, der die einst stolzen und unabhängigen Stadtstaaten seinem Großmachtwillen unterworfen hatte. Nach dem Tod von Philipps Sohn, Alexander dem Großen, im Juni 323, erhoben sich die Athener und viele andere Griechen noch einmal gegen die Makedonen; Aristoteles mußte die Stadt unter der Drohung eines Prozesses verlassen.

Doch der Aufstand scheiterte, und aus dem blutigen Chaos der Nachfolgekämpfe um das Erbe des Welteroberers konnte sich am Ende der skrupellose Kassander, der Sohn eines Marschalls Alexanders des Großen, Athen als Teil seiner Beute sichern. Wieder erwies sich der Peripatos als Brutstätte der Kollaboration. Kassander nämlich setzte den Philosophen und Gelehrten Demetrios von Phaleron, einen Schüler des Theophrast, als Regenten ein. So hatte die Philosophie nicht nur beim Verlust der Souveränität und beim Bedeutungsschwund der Stadtgemeinde in den neuen Großräumen ihre Hand im Spiel, sondern auch beim Untergang der Demokratie.

Das Besatzungsregime waren die Athener im Sommer 307 glücklich losgeworden. Ihr Zorn gegen die Vordenker der Fremdherrschaft läßt sich begreifen. Doch dann geschah das Erstaunliche. Der Antragsteller Sophokles wurde wegen gesetzwidrigen Eingriffs in die Vereinigungsfreiheit vor einem Geschworenengericht angeklagt und verurteilt, der schikanöse Beschluß wurde aufgehoben. Die Philosophen kehrten nach Athen zurück, und wenig später eröffnete Epikur dort eine neue Schule.

Christian Habicht, nach Professuren in Marburg und Heidelberg seit 1973 am Institute for Advanced Study in Princeton, der jetzt nach Jahrzehnten der Forschung und der gelehrten Vorarbeiten dem Publikum seine Geschichte Athens in der Zeit von Alexander dem Großen bis Augustus vorlegt, erzählt diese Episode mit spürbarem Stolz auf seine Athener. "Eben die Bürger, deren Kontrolle Sophokles die Philosophen unterwerfen wollte, lehnten diese Rolle ab und kassierten als Geschworene sein Gesetz." Am seidenen Faden der athenischen Volksstimmung hing damals ein großes Stück der abendländischen Geistesgeschichte. Es waren die hellenistischen Philosophenschulen, die den Römern später das griechische Denken vermitteln sollten; und von den Römern, zumal aus den Schriften Ciceros, hat ganz Europa ihr Erbe überliefert bekommen. Niemand kann sagen, was aus dem Strom dieser Tradition geworden wäre, wenn die Athener damals seine Quelle zugeschüttet hätten.

Daß sie es nicht taten, daß sie gleichsam das Urteil ihrer Urgroßväter gegen Sokrates revidierten, zeigt den besonderen Charakter der Stadt in jener Epoche, von der Habichts Buch handelt. Perikles hatte in einer berühmten Rede während des Peloponnesischen Krieges Athen als "die Schule von Hellas" gerühmt. In Wahrheit war die Stadt damals in Griechenland wegen ihres skrupellosen Imperialismus allgemein verhaßt gewesen. Das hellenistische Athen dagegen, das seine Machtstellung nach dem Aufstieg der Makedonen verloren hatte, durfte sich wirklich die Schule von Hellas nennen. Sein Geistesleben streifte die lokalen Bedingtheiten der klassischen Zeit ab; es wurde für Fremde zugänglich und in die Fremde übertragbar. Die attischen Komödiendichter führten ihre Stücke jetzt in ganz Griechenland auf; städtischer Klatsch und politische Polemik, wie ihre Vorgänger sie gepflegt hatten, waren daraus verschwunden. Kunst und Denken hatten sich aus ihrem Sitz im Leben gelöst, sie waren zu einer eigenen Welt geworden.

Aus dieser Bildungssphäre heraus durchdrangen sie dann wieder Politik und Alltag und färbten das Leben historisch ein. Aus dem zweiten Jahrhundert, als Athen schon in den Bannkreis Roms getreten war, berichtet Habicht, daß die Epheben, eine Art Kadettenkorps, in ihrer Ausbildung Ausflüge zu den Gedenkstätten der großen Schlachten der Perserkriege zu unternehmen hatten; auch der Besuch von Vorlesungen der Philosophen wurde erwartet. Der Ephebendienst, der nach der Niederlage gegen König Philipp als Kernstück der patriotischen und militärischen Erneuerung reformiert worden war, ein Werk athenischer Scharnhorsts, hatte sich in etwas Vermitteltes, Gebrochenes, Selbstbezügliches verwandelt. Der Hellenismus war die Epoche, in der erfunden wurde, was wir Kultur nennen, und der Inbegriff der Kultur war Athen.

Der Skandal um die Sympathisantenjagd des Sophokles zeigt freilich, daß diese Kultur weiter unter den Gesetzen der Politik stand. Ob die Philosophie in Athen ihre Heimstatt behielt, mochte von Leuten abhängen, die in der Geistesgeschichte gar keinen Namen haben. Es hing von Männern wie Sophokles ab, von einem gewissen Philon, der ihn vor Gericht brachte, von dem einlußreichen Politiker Demochares, der in verteidigte. Es hing von Machtfragen und Entscheidungsnotwendigkeiten ab. Der Hellenismus, der uns in vieler Hinsicht so modern oder postmodern vorkommt, war trotz allem kein antikes Medienzeitalter, keine Kommunikationsgesellschaft, in der sich alle Erdenschwere verflüchtigt hätte. Unbekümmert um solche allzu naheliegenden Aktualisierungen gibt Christian Habicht Athen seinen Platz in der Geschichte der letzten drei vorchristlichen Jahrhunderte zurück. Er rehabilitiert das hellenistische Athen politisch, und er rehabilitiert die politische Betrachtung des hellenistischen Athens.

Habichts These, sofern bei einem Werk von derart asketischer Objektivität überhaupt von einer These die Rede sein kann, besagt, daß das politische Schicksal Athens im Hellenismus, um mit Thomas Mann zu sprechen, buchenswert ist und daß die Athener es mit Anstand gemeistert haben. Letztlich war es ein trauriges Schicksal, und bei aller Nüchternheit des Berichts läßt es den Leser nicht unberührt. Die Spezialisierung der Wissenschaften, auch der Altertumswissenschaft, und die besonders schlechte Quellenlage für den Hellenismus bringen es mit sich, daß diese Geschichte vielleicht auf unabsehbare Zeit ungeschrieben geblieben wäre, wenn Habicht sie nicht geschrieben hätte. Das stimmt melancholisch im Blick auf vieles andere, was uns verlorengehen mag, und es stimmt dankbar für das hier Geleistete. Christian Habicht hat für das gegenwärtige Bewußtsein drei Jahrhunderte des Lebens einer Stadt gerettet, aus deren antiker Geschichte uns kein Jahr gleichgültig sein kann, solange wir uns noch als Europäer verstehen.

Die Geschichte Athens im Hellenismus ist eine Geschichte der bald eingeschränkten, bald verlorenen, immer aber prekären Souveränität. Die letzten großen Vorkämpfer der attischen Freiheit, der Redner Demosthenes und sein Mitstreiter Hypereides, waren nach der gescheiterten Erhebung von 323/22 in den Selbstmord getrieben oder hingerichtet worden. Als die Athener 307 der Herrschaft des Kassander entkamen, geschah das schon nicht mehr aus eigener Kraft. Sie erhielten ihre Freiheit von Kassanders siegreichen Gegnern geschenkt, von Antigonos und seinem Sohn Demetrios Poliorketes, dem "Städtebezwinger", die die nächste makedonische Dynastie begründen sollten. Athen revanchierte sich, indem es seine Retter zu Staatsgöttern erhob, mit Opfern und Wettspielen zu ihren Ehren und einem eigenen Priester für ihren Kult.

Die Vergötterung eines Sterblichen, die für die ganze hellenistische Epoche so bezeichnend ist, kommt uns absurd, wenn nicht widerwärtig vor. Sie hatte aber einen präzisen Sinn. Sie drängte sich geradezu auf, wenn die alten Stadtgötter, die herkömmlichen Schützer der Polis, ihrer Aufgabe nicht mehr genügten und die Bürgerschaft bei auswärtigen Machthabern Hilfe suchen mußte. Im Jahr 291 oder 290 ist ein Hymnus auf Demetrios aufgeführt worden, in dem die klassischen Götter nicht gut wegkommen - sie sind weit weg, haben keine Ohren, es gibt sie vielleicht gar nicht, oder sie kümmern sich nicht um die Menschen. "Dich aber sehen wir leibhaftig hier, nicht aus Holz und nicht aus Stein."

Und wie der Grund zur Vergöttlichung eines Sterblichen in seiner überwältigenden Präsenz liegt, so ist auch die Stiftung solcher Kulte stets aus konkreten historischen Situationen zu verstehen. Der Herrscherkult, das hat Christian Habicht schon 1956 in seinem Erstlingswerk "Gottmenschentum und griechische Städte" gezeigt, ist nicht ungriechisch, dekadent oder abergläubisch; er ist überhaupt nicht in erster Linie ein Gegenstand der Kultur- oder Religionsgeschichte, sondern ein primär politisches Phänomen. Zwar haben die Gegner des Demetrios Ehrungen wie den zitierten Hymnus tatsächlich als Ausdruck von Dekadenz angeprangert. Aber das war eben selbst wieder eine politische Kritik.

Im Laufe der Jahre führte sich Demetrios freilich so ungeniert als Herr von Athen auf, daß man 287 gern die Gelegenheit nutzte, sich von dem einstigen Befreier zu befreien. Die außenpolitische Konstellation, in der die Stadt sich fast ein Jahrhundert lang bewegen sollte, hatte sich nun eingespielt. Makedonien stellte eine dauernde Bedrohung dar. An der Reihe der Staatskulte, die nach und nach eingerichtet wurden, sieht man, wie diese Feindschaft eine eigene politische Theologie hervorbrachte: Immer galten die Kulte Herrschern, die Beistand gegen die Makedonen geleistet hatten. Gegen die Gefahr aus dem Norden lehnte Athen sich an Ägypten an, wo sich die Familie von Alexanders General Ptolemaios als Dynastie festgesetzt hatte. Der dritte große Nachfolgestaat des Alexanderreichs, das Reich der Seleukiden in Kleinasien, Syrien und weiter im Osten, interessierte sich erst im nächsten Jahrhundert stärker für Athen. König Antiochos IV. Epiphanes wurde einer der großzügigsten Mäzene der Stadt.

Zwischen diesen Großmächten und den Städtebünden, die sich auf dem griechischen Festland gebildet hatten, manövrierte man mit mehr oder weniger diplomatischem Geschick und mit schwankendem politischem Erfolg. Zeiten der Unabhängigkeit, der makedonischen Okkupation und einer heiklen Halbfreiheit wechselten einander ab. Einmal, in den sechziger Jahren des dritten Jahrhunderts, nahm Athen mit mehreren Verbündeten noch einmal den Kampf gegen Makedonien auf. Es war ein letzter Akt panhellenischer Hochherzigkeit, denn die Stadt war damals frei und führte den Chremonideischen Krieg, wie er nach dem maßgeblichen athenischen Politiker heißt, für die Befreiung anderer Griechen.

Nach der Niederlage blieb ihr Spielraum so eng, daß an solche Wagnisse nie mehr zu denken war. Athen konnte von nun an nur noch, so gut es eben ging, seine eigenen Interessen verfolgen. Der Nachhall der Reden des Demosthenes war verklungen. In der Philosophie glaubt man eine resignative Wendung wahrzunehmen, eine Abkehr von den Naturwissenschaften und von der metaphysischen Spekulation, die Bescheidung mit einer skeptischen Erkenntnistheorie, mit den bewährten Lehren der Schulgründer und mit einer Ethik, die Lebenshilfe verhieß.

Es ist kaum etwas Schwierigeres denkbar als der Versuch, die Geschichte dieser Zeit zu schreiben. Die Überlieferung lückenhaft zu nennen wäre ein krasser Euphemismus. Die Ansprache zu Ehren der Gefallenen des Freiheitskrieges nach Alexanders Tod ist die letzte große Rede aus Athen, die noch in wesentlichen Teilen erhalten ist. Nach der Niederlage im Chremonideischen Krieg versiegt die attische Lokalhistoriographie. Verstreute Notizen in späteren Autoren, Münzen, archäologische Funde wie ein Schiffswrack hier und Brandspuren an einer Mauer dort, vor allem aber Inschriften - das sind die Zeugnisse, aus denen man die Geschicke Athens im Hellenismus zu erschließen und manchmal zu erraten hat.

Gerade deshalb aber ist hier ein frappierendes Lehrstück gelungen. Daß der Historiker in einem vollkommen elementaren Sinn herausfinden muß, wie es eigentlich gewesen ist, daß seine Methode die logischste und spannendste ist, die detektivische nämlich, daß jeder Leser die Verläßlichkeit der Rechnungen überprüfen kann, auch wenn die einfließenden historischen Größen ihm lauter Unbekannte sind - das macht Christian Habichts Buch noch an den entlegensten Stellen so schlagend und einleuchtend.

Zwar hätte man sich hier und da mehr Unbedenklichkeit gewünscht, die Zeit auf einen Begriff zu bringen und einen Schritt weiter neben den Gang der Ereignisse zu treten. Auch hätten manche skrupulösen Erörterungen in den Anmerkungen ihren Platz finden können. Es ist ein provozierend konservatives Gelehrtenethos, das Habicht demonstriert. Aber die befreiende Wirkung, die in den verqualmten Räumen des geisteswissenschaftlichen Diskurses von diesem kühlen Luftzug der Nüchternheit ausgeht, macht den Vorwurf des Altmodischen vollkommen belanglos. So lernen wir, daß Schatzfunde auf unruhige Zeiten hindeuten (denn sonst hätten die Leute nichts vergraben) und daß man Jahre der politischen Entmündigung daran erkennt, daß in den Beschlüssen der Volksversammlung nur routinemäßige Belobigungen von Beamten und Priestern vorkommen. Wenn der Wert eines Kavalleriepferdes steigt, heißt das, daß es weniger Kavalleriepferde gibt, also auch weniger Kavalleristen - offenbar rüstet Athen ab.

Das vermeintliche Gleichmaß der Geschichte einer Mittelmacht differenziert sich auf dem Wege des Indizienbeweises, Phasen der chauvinistischen Hochstimmung und der peinlichen Vorsicht werden unterscheidbar, Perioden lebhafter auswärtiger Kontakte und des Isolationismus. Die Freiheit etwa, die die Stadt 287 gewonnen hatte, hat noch ganz andere Hoffnungen auf eine Rückkehr in die selbständige Politik geweckt, als es im letzten Drittel des Jahrhunderts der Fall war, als man wieder einmal den Abzug der makedonischen Garnison erreichen konnte. Jetzt reichte es nur noch zu einem Kurs der strikten, wenn nicht ängstlichen Neutralität.

Er war möglich, solange, wie Christian Habicht bemerkt, "die Mächte der Balkanhalbinsel im wesentlichen unter sich blieben". Er mußte scheitern, sobald die Römer auf den Plan traten. Sie waren aus anderem Holz geschnitzt als die hellenistische Staatenwelt. Von der scheinbaren Unbeachtlichkeit ihres ersten Auftretens bei irgendwelchen Händeln an der nordöstlichen Peripherie Griechenlands, von den Interventionen ihrer Armeen, die zunächst immer wieder abzogen, bis sie schließlich blieben, und von der Brutalität, mit der sie 146 Korinth im selben Jahr wie Karthago dem Erdboden gleichmachten - von dieser kalten und zähen Politik, der niemand im Osten des Mittelmeerraums gewachsen war, bekommt man bei Habicht einen unheimlichen Eindruck. Jacob Burckhardt hat einmal bemerkt, daß die ganze Welt des Hellenismus für die Römer "ein leichtes Morgenessen" gewesen sei.

Athen fuhr freilich nicht schlecht mit der römischen Hegemonie. Es erhielt die Insel Delos zurück, die ihm 314 von Antigonos weggenommen worden war. Der prosperierende Handelsplatz im Mittelmeer ließ den Wohlstand der Stadt wachsen. Die Gesellschaft veränderte sich; in den Reihen der führenden Politiker tauchen neue Namen aus Familien auf, die offenbar jüngst durch Geschäfte reich geworden sind. Das attische Silbergeld verbreitet sich in ganz Griechenland. Könige aus aller Welt erweisen den Philosophenschulen ihre Reverenz und schmücken die Stadt mit prächtigen Bauten. Jetzt geht sie wirklich auf in ihrer Rolle als "geistige Hauptstadt der Hellenen", wie Burckhardt sie genannt hat, und später auch als geistige Heimat der philhellenischen Römer.

Sie wird aber auch zum Inbegriff des Mißverhältnisses von kulturellem Gewicht und politischer Bedeutungslosigkeit, von vergangener Größe und gegenwärtiger Ohnmacht. Als Athen nach dem Abfall zu König Mithridates im Jahr 86 von Sulla für Rom zurückerobert wird, gebietet der Feldherr dem Morden seiner Soldaten mit den Worten Einhalt, er verschone die Lebenden um der Toten willen. Und als Caesar im Bürgerkrieg gegen Pompeius die Stadt einnahm und ihr Gnade gewährte, soll er gesagt haben: "Wie oft soll euch denn noch der Ruhm eurer Vorfahren aus selbstverschuldetem Verderben retten?" Viel Zeit zu solchen Verschuldungen hatte Athen nicht mehr. Die jungen Römer, die in der Stadt studierten, mochten Sympathie für Caesars Mörder und für die verlorene Sache der Republik empfinden; und Marcus Antonius, der unterlegene Rivale Octavians beim Kampf um Caesars Erbe, hat Athen sehr geliebt. Das waren die letzten Gelegenheiten für die Stadt, mit Würde auf der falschen Seite zu stehen. Im Reich des Augustus, des neuen Herrn der Welt, konnte sie dann, um ein letztes Mal Burckhardt zu zitieren, nur noch "anständig ausleben".

So zeigt Christian Habichts Buch, daß die politische Geschichte Athens erst in jenem Augenblick abgeschlossen ist, da auch die Epoche des Hellenismus endet - und nicht, wie wir seit Droysen wie selbstverständlich zu glauben geneigt sind, in dem Moment, da der Hellenismus beginnt. Das geschichtsphilosophische Bild von Alexander dem Großen als dem Vollstrecker des Weltgeistes, der gegen die verbrauchte Lebensform der Polis das historische Recht auf seiner Seite hat, hat sich tief in das allgemeine Bewußtsein eingeprägt. Dagegen vertritt Habicht das Recht der Verlierer auf ihren Teil nicht nur an unserer Erinnerung, sondern auch an unserem Respekt. Seine Athener haben nicht immer Größe bewiesen, aber sie haben es doch getan, solange sie irgend konnten, und manchmal sogar darüber hinaus.

Die Rettung des Abgetanen ist ein hervorstechendes Motiv in Christian Habichts gesamtem Werk. Er hat eine Apologie des glücklosen Politikers Cicero verfaßt und Pausanias, den antiken Baedeker, glänzend gegen die hochmütigen Vorurteile der modernen Wissenschaft verteidigt. Im Bild des Pausanias mag man Züge eines Selbstporträts ahnen, wenn etwa von der unzeitgemäßen Sachlichkeit dieses Autors in der geschwätzigen Kultur des römischen Kaiserreichs die Rede ist, von der Treue zu seinem Gegenstand, der griechischen Vergangenheit, und von der Ausdauer, mit der er ihr Jahrzehnte seines Lebens gewidmet hat.

In einem glücklichen Augenblick vermag diese Liebe zum Vergangenen über die Zeit zu triumphieren. In seinem Buch zitiert Habicht einen Brief Ciceros an seinen Freund Atticus vom 19. März 45. Cicero erkundigt sich darin nach den näheren Umständen einer Gesandtschaft, die mehr als hundert Jahre zuvor drei athenische Philosophen nach Rom geführt hatte. Der Vorgang war insofern folgenreich, als er die erste nähere Berührung der Römer mit dem hellenistischen Geistesleben mit sich brachte. Cicero fragt nach dem Grund der Mission (auch bei der Philosophengesandtschaft ging es zunächst um Politik) und nach einigen Männern, die dabei eine Rolle gespielt haben. Die Antwort des Atticus ist verloren. Aber fast alles, was Cicero wissen will, kann man in dieser Geschichte Athens im Hellenismus nachlesen. Es ist, als hätte Christian Habicht nach mehr als zweitausend Jahren auf Ciceros Brief geantwortet.

Christian Habicht: "Athen". Die Geschichte der Stadt in hellenistischer Zeit. C. H. Beck Verlag, München 1995. 406 S., 9 Stammtafeln, geb., 78,- DM.

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